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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Ihre Mängel.

Einzelne grosse Befangenheiten hängen selbst den florentinischen
Baumeistern an. Die Ecken ihrer gewölbten Räume z. B. bedurften
entweder gar keiner besondern Form oder aber eines vortretenden
Pfeilers, auf welchem dann die von beiden Seiten herkommenden Bo-
gen, die Träger des Gewölbes ruhten; wenigstens eines abschliessenden
Pilasters. Statt dessen schlug man oft einen Mittelweg ein und liess
einen ganz schmalen Pfeilerrand mit einzelnen Bestandtheilen eines
Capitäls aus der Ecke hervorgucken. Ueber die äussere Bekleidung
der Kirchen, abgesehen von der Fassade, ist man erst spät ins Klare
gekommen. Die Profilirung hat lange den Charakter der Willkür und
trifft das Wahre und Schöne mehr durch unbewussten Takt als ver-
möge eines Systems. In der Behandlung der Kranzgesimse kommen
unglaubliche Schwankungen vor. An den venezianischen Bauten geht
bisweilen durch die grösste Pracht ein auffallender Mangel an organi-
schen Gedanken hindurch. Das Gefühl für schöne Verhältnisse der
Flächen zu einander, für schöne Contraste ihrer Bekleidung (durch
Rustica, Pilaster u. s. w.) macht gar oft einer blossen eleganten Ein-
rahmung Platz, die alle vier Seiten mit demselben zierlichen Profil
umzieht und sich weiter um nichts kümmert; so z. B. an manchen
oberitalischen Bauten, u. s. w.

An allen Enden offenbart sich der Hauptmangel dieses ganzen
Styles: das Unorganische. Die Formen drücken nur oberflächlich
und oft nur zufällig die Functionen aus, welchen die betreffenden
Bautheile dienen sollen. Wer aber auf dem Gebiet der Baukunst nur
in dem streng Organischen die Schönheit anzuerkennen vermag, hat
auf dem italischen Festlande mit Ausnahme der Tempel von Pästum
überhaupt nichts zu erwarten; er wird lauter abgeleitete und schon
desshalb nur wenig organische Style vorfinden. Ich glaube indess,
dass es eine bauliche Schönheit giebt, auch ohne streng organische
Bildung der Einzelformen; nur dürfen letztere nicht widersinnig ge-
bildet sein, d. h. ihren Functionen nicht geradezu widersprechen; es
darf z. B. nicht das Schwere auf das Leichte gesetzt, nicht das con-
structiv Unmögliche durch künstliche Mechanik erzwungen werden.
Wo ein Reiz für das Auge vorliegt, da liegt auch irgend ein Element
der Schönheit; nun übt offenbar ausser den schönen, strengen Formen
auch eine gewisse Vertheilung der Grundflächen (Räume) und Wand-

Ihre Mängel.

Einzelne grosse Befangenheiten hängen selbst den florentinischen
Baumeistern an. Die Ecken ihrer gewölbten Räume z. B. bedurften
entweder gar keiner besondern Form oder aber eines vortretenden
Pfeilers, auf welchem dann die von beiden Seiten herkommenden Bo-
gen, die Träger des Gewölbes ruhten; wenigstens eines abschliessenden
Pilasters. Statt dessen schlug man oft einen Mittelweg ein und liess
einen ganz schmalen Pfeilerrand mit einzelnen Bestandtheilen eines
Capitäls aus der Ecke hervorgucken. Ueber die äussere Bekleidung
der Kirchen, abgesehen von der Fassade, ist man erst spät ins Klare
gekommen. Die Profilirung hat lange den Charakter der Willkür und
trifft das Wahre und Schöne mehr durch unbewussten Takt als ver-
möge eines Systems. In der Behandlung der Kranzgesimse kommen
unglaubliche Schwankungen vor. An den venezianischen Bauten geht
bisweilen durch die grösste Pracht ein auffallender Mangel an organi-
schen Gedanken hindurch. Das Gefühl für schöne Verhältnisse der
Flächen zu einander, für schöne Contraste ihrer Bekleidung (durch
Rustica, Pilaster u. s. w.) macht gar oft einer blossen eleganten Ein-
rahmung Platz, die alle vier Seiten mit demselben zierlichen Profil
umzieht und sich weiter um nichts kümmert; so z. B. an manchen
oberitalischen Bauten, u. s. w.

An allen Enden offenbart sich der Hauptmangel dieses ganzen
Styles: das Unorganische. Die Formen drücken nur oberflächlich
und oft nur zufällig die Functionen aus, welchen die betreffenden
Bautheile dienen sollen. Wer aber auf dem Gebiet der Baukunst nur
in dem streng Organischen die Schönheit anzuerkennen vermag, hat
auf dem italischen Festlande mit Ausnahme der Tempel von Pästum
überhaupt nichts zu erwarten; er wird lauter abgeleitete und schon
desshalb nur wenig organische Style vorfinden. Ich glaube indess,
dass es eine bauliche Schönheit giebt, auch ohne streng organische
Bildung der Einzelformen; nur dürfen letztere nicht widersinnig ge-
bildet sein, d. h. ihren Functionen nicht geradezu widersprechen; es
darf z. B. nicht das Schwere auf das Leichte gesetzt, nicht das con-
structiv Unmögliche durch künstliche Mechanik erzwungen werden.
Wo ein Reiz für das Auge vorliegt, da liegt auch irgend ein Element
der Schönheit; nun übt offenbar ausser den schönen, strengen Formen
auch eine gewisse Vertheilung der Grundflächen (Räume) und Wand-

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[171/0193] Ihre Mängel. Einzelne grosse Befangenheiten hängen selbst den florentinischen Baumeistern an. Die Ecken ihrer gewölbten Räume z. B. bedurften entweder gar keiner besondern Form oder aber eines vortretenden Pfeilers, auf welchem dann die von beiden Seiten herkommenden Bo- gen, die Träger des Gewölbes ruhten; wenigstens eines abschliessenden Pilasters. Statt dessen schlug man oft einen Mittelweg ein und liess einen ganz schmalen Pfeilerrand mit einzelnen Bestandtheilen eines Capitäls aus der Ecke hervorgucken. Ueber die äussere Bekleidung der Kirchen, abgesehen von der Fassade, ist man erst spät ins Klare gekommen. Die Profilirung hat lange den Charakter der Willkür und trifft das Wahre und Schöne mehr durch unbewussten Takt als ver- möge eines Systems. In der Behandlung der Kranzgesimse kommen unglaubliche Schwankungen vor. An den venezianischen Bauten geht bisweilen durch die grösste Pracht ein auffallender Mangel an organi- schen Gedanken hindurch. Das Gefühl für schöne Verhältnisse der Flächen zu einander, für schöne Contraste ihrer Bekleidung (durch Rustica, Pilaster u. s. w.) macht gar oft einer blossen eleganten Ein- rahmung Platz, die alle vier Seiten mit demselben zierlichen Profil umzieht und sich weiter um nichts kümmert; so z. B. an manchen oberitalischen Bauten, u. s. w. An allen Enden offenbart sich der Hauptmangel dieses ganzen Styles: das Unorganische. Die Formen drücken nur oberflächlich und oft nur zufällig die Functionen aus, welchen die betreffenden Bautheile dienen sollen. Wer aber auf dem Gebiet der Baukunst nur in dem streng Organischen die Schönheit anzuerkennen vermag, hat auf dem italischen Festlande mit Ausnahme der Tempel von Pästum überhaupt nichts zu erwarten; er wird lauter abgeleitete und schon desshalb nur wenig organische Style vorfinden. Ich glaube indess, dass es eine bauliche Schönheit giebt, auch ohne streng organische Bildung der Einzelformen; nur dürfen letztere nicht widersinnig ge- bildet sein, d. h. ihren Functionen nicht geradezu widersprechen; es darf z. B. nicht das Schwere auf das Leichte gesetzt, nicht das con- structiv Unmögliche durch künstliche Mechanik erzwungen werden. Wo ein Reiz für das Auge vorliegt, da liegt auch irgend ein Element der Schönheit; nun übt offenbar ausser den schönen, strengen Formen auch eine gewisse Vertheilung der Grundflächen (Räume) und Wand-

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/193>, abgerufen am 05.05.2024.