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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Dom von Siena. S. Giovanni.
das schönste gothische Gebäude Italiens und ein Wunder der Welt
geworden. Nirgends ist die Raumschönheit vollkommener als in den
wenigen vollendeten Hallen dieser Ruine; die Schlankheit der Pfeiler,
die weite und leichte Spannung ihrer Rundbögen (freilich um den Preis
eiserner Verbindungsstangen erkauft) und der Adel der Decoration
stellen den alten Dom beinahe in den Schatten. In Folge des schwar-
zen Todes (1348) blieb das Unternehmen liegen, doch muss man aus
den Ornamenten des vordern Rundfensters schliessen, dass noch im
XV. Jahrhundert wieder einmal an einer Fortsetzung gearbeitet wurde.
Meister, wie Cecco di Giorgio und Bernardo Rosellino, haben offenbar
diesem Werke viel zu danken.

Gleichzeitig mit diesem Bau entstand auch die Fronte der Unter-
kirche San Giovanni. Diese ist, namentlich was die Gliederung dera
Streben betrifft, das am meisten nordisch-gothische Stück des ganzen
Domes; leider unvollendet. Die ganze Fassade lehnt stark um einen
Fuss rückwärts und die Streben verringern sich (abgesehen von ihren
geringen Absätzen) desshalb unmerklich nach oben zu. Von grosser

extendatur longitudo etc.; ausdrücklich wird einbedungen, dass der neue Dom
desshalb nicht dürfe liegen bleiben. Diese navis ist aber wohl wiederum der
schon im XIII. Jahrhundert begonnene neue Chorbau; mit dessen bisherigen
Gewölben man ohnehin unzufrieden war; die neuen "certi modi et ordines
magnae pulchritudinis" sind dann nichts anderes als jene Aufsätze, welche den
Chorpfeilern ein schlankes Ansehen geben, jene schönen Oberfenster, endlich
jene Hinterfassade, welche die Fronte der Unterkirche S. Giovanni bildet.
Dass die letztere von Agostino und Agnolo von Siena entworfen sei, wird
Vasari doch nicht rein aus der Luft gegriffen haben; allerdings lautet der
Werkverding vom Jahr 1340 (Rumohr, a. a. O. S. 139) auf Giovanni, Ago-
stino's Sohn, allein dieser verpflichtet sich doch nur "in praesentia et de vo-
luntate et cum consilio, consensu et ex auctoritate praedicti mei patris prae-
sentis et consentientis". So spricht nur ein Abhängiger und wenn auch in
der Urkunde von keinem zu befolgenden Entwurf des Vaters die Rede ist,
so darf man doch getrost einen solchen voraussetzen.
Rumohr war der grösste Kunstforscher, den wir seit Winckelmann ge-
habt haben. Allein er war nicht frei von der Untugend, die Tradition um
jeden Preis in die Schule zu nehmen; er hatte viele Prädilectionen und An-
tipathien, und wer ihm näher nachgehen könnte, würde ihn noch auf man-
cher Willkür betreten. Es liegt diess weder in unserer Aufgabe noch in un-
serer Fähigkeit.

Dom von Siena. S. Giovanni.
das schönste gothische Gebäude Italiens und ein Wunder der Welt
geworden. Nirgends ist die Raumschönheit vollkommener als in den
wenigen vollendeten Hallen dieser Ruine; die Schlankheit der Pfeiler,
die weite und leichte Spannung ihrer Rundbögen (freilich um den Preis
eiserner Verbindungsstangen erkauft) und der Adel der Decoration
stellen den alten Dom beinahe in den Schatten. In Folge des schwar-
zen Todes (1348) blieb das Unternehmen liegen, doch muss man aus
den Ornamenten des vordern Rundfensters schliessen, dass noch im
XV. Jahrhundert wieder einmal an einer Fortsetzung gearbeitet wurde.
Meister, wie Cecco di Giorgio und Bernardo Rosellino, haben offenbar
diesem Werke viel zu danken.

Gleichzeitig mit diesem Bau entstand auch die Fronte der Unter-
kirche San Giovanni. Diese ist, namentlich was die Gliederung dera
Streben betrifft, das am meisten nordisch-gothische Stück des ganzen
Domes; leider unvollendet. Die ganze Fassade lehnt stark um einen
Fuss rückwärts und die Streben verringern sich (abgesehen von ihren
geringen Absätzen) desshalb unmerklich nach oben zu. Von grosser

extendatur longitudo etc.; ausdrücklich wird einbedungen, dass der neue Dom
desshalb nicht dürfe liegen bleiben. Diese navis ist aber wohl wiederum der
schon im XIII. Jahrhundert begonnene neue Chorbau; mit dessen bisherigen
Gewölben man ohnehin unzufrieden war; die neuen „certi modi et ordines
magnæ pulchritudinis“ sind dann nichts anderes als jene Aufsätze, welche den
Chorpfeilern ein schlankes Ansehen geben, jene schönen Oberfenster, endlich
jene Hinterfassade, welche die Fronte der Unterkirche S. Giovanni bildet.
Dass die letztere von Agostino und Agnolo von Siena entworfen sei, wird
Vasari doch nicht rein aus der Luft gegriffen haben; allerdings lautet der
Werkverding vom Jahr 1340 (Rumohr, a. a. O. S. 139) auf Giovanni, Ago-
stino’s Sohn, allein dieser verpflichtet sich doch nur „in præsentia et de vo-
luntate et cum consilio, consensu et ex auctoritate prædicti mei patris præ-
sentis et consentientis“. So spricht nur ein Abhängiger und wenn auch in
der Urkunde von keinem zu befolgenden Entwurf des Vaters die Rede ist,
so darf man doch getrost einen solchen voraussetzen.
Rumohr war der grösste Kunstforscher, den wir seit Winckelmann ge-
habt haben. Allein er war nicht frei von der Untugend, die Tradition um
jeden Preis in die Schule zu nehmen; er hatte viele Prädilectionen und An-
tipathien, und wer ihm näher nachgehen könnte, würde ihn noch auf man-
cher Willkür betreten. Es liegt diess weder in unserer Aufgabe noch in un-
serer Fähigkeit.
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[135/0157] Dom von Siena. S. Giovanni. das schönste gothische Gebäude Italiens und ein Wunder der Welt geworden. Nirgends ist die Raumschönheit vollkommener als in den wenigen vollendeten Hallen dieser Ruine; die Schlankheit der Pfeiler, die weite und leichte Spannung ihrer Rundbögen (freilich um den Preis eiserner Verbindungsstangen erkauft) und der Adel der Decoration stellen den alten Dom beinahe in den Schatten. In Folge des schwar- zen Todes (1348) blieb das Unternehmen liegen, doch muss man aus den Ornamenten des vordern Rundfensters schliessen, dass noch im XV. Jahrhundert wieder einmal an einer Fortsetzung gearbeitet wurde. Meister, wie Cecco di Giorgio und Bernardo Rosellino, haben offenbar diesem Werke viel zu danken. Gleichzeitig mit diesem Bau entstand auch die Fronte der Unter- kirche San Giovanni. Diese ist, namentlich was die Gliederung der Streben betrifft, das am meisten nordisch-gothische Stück des ganzen Domes; leider unvollendet. Die ganze Fassade lehnt stark um einen Fuss rückwärts und die Streben verringern sich (abgesehen von ihren geringen Absätzen) desshalb unmerklich nach oben zu. Von grosser 1) a 1) extendatur longitudo etc.; ausdrücklich wird einbedungen, dass der neue Dom desshalb nicht dürfe liegen bleiben. Diese navis ist aber wohl wiederum der schon im XIII. Jahrhundert begonnene neue Chorbau; mit dessen bisherigen Gewölben man ohnehin unzufrieden war; die neuen „certi modi et ordines magnæ pulchritudinis“ sind dann nichts anderes als jene Aufsätze, welche den Chorpfeilern ein schlankes Ansehen geben, jene schönen Oberfenster, endlich jene Hinterfassade, welche die Fronte der Unterkirche S. Giovanni bildet. Dass die letztere von Agostino und Agnolo von Siena entworfen sei, wird Vasari doch nicht rein aus der Luft gegriffen haben; allerdings lautet der Werkverding vom Jahr 1340 (Rumohr, a. a. O. S. 139) auf Giovanni, Ago- stino’s Sohn, allein dieser verpflichtet sich doch nur „in præsentia et de vo- luntate et cum consilio, consensu et ex auctoritate prædicti mei patris præ- sentis et consentientis“. So spricht nur ein Abhängiger und wenn auch in der Urkunde von keinem zu befolgenden Entwurf des Vaters die Rede ist, so darf man doch getrost einen solchen voraussetzen. Rumohr war der grösste Kunstforscher, den wir seit Winckelmann ge- habt haben. Allein er war nicht frei von der Untugend, die Tradition um jeden Preis in die Schule zu nehmen; er hatte viele Prädilectionen und An- tipathien, und wer ihm näher nachgehen könnte, würde ihn noch auf man- cher Willkür betreten. Es liegt diess weder in unserer Aufgabe noch in un- serer Fähigkeit.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/157>, abgerufen am 25.11.2024.