Säulenbündel der nordischen Gothik fest; die gebornen Italiener aber organisiren ihre Stützen bald für jeden besondern Fall eigenthümlich.
Unglücklicher Weise macht gerade das berühmteste, grösste und akostbarste gothische Gebäude Italiens, der Dom von Mailand, in den meisten der genannten Beziehungen eine Ausnahme zum Schlech- tern. Entworfen und begonnen in spätgothischer Zeit (1386) durch Heinrich Arler von Gmünd, aus einer Künstlerfamilie, welche da- mals einen europäischen Ruf genoss, beruht diese Kirche von allem Anfang an auf dem verhängnissvollsten Compromiss zwischen der ita- lienischen Compositionsweise und einem spät aufflammenden Eifer 1) für die Prachtwirkung des nordischen Details. (Wozu noch kömmt, dass die leblose Ausführung des Gothischen zum Theil erst den letzten Jahrhunderten, ja dem unsrigen angehört, nachdem eine Zeit lang im Styl der spätern Renaissance an dem Gebäude war fortgebaut worden.) Italienisch und zwar speciell lombardisch ist die Fassade gedacht, und alle Spitzthürmchen können ihr den schweren und breiten Charakter nicht nehmen; italienisch ist auch die geringe Überhöhung der mitt- lern Schiffe über die äussern. Im Übrigen herrscht das unglücklichste Zuviel und Zuwenig der nordischen Zuthaten; der Grundplan mit der verhältnissmässig engen Pfeilerstellung ist wesentlich nordisch; aussen weit vortretende Strebepfeiler, mit hässlichem Reichthum or- ganisirt; die giebellosen Fenster nordisch gross, so dass das Oberlicht aus den kleinen Fenstern der mittlern Schiffe nicht dagegen aufkom- men kann und das Gebäude damit den Charakter einer Kirche gegen den einer Halle vertauscht; die Pfeilerbildung im Innern eine Remi- niscenz nordischer Säulenbündel, aber von sinnloser Hässlichkeit; ihre Basen wahrhaft barbarisch; statt der Capitäle ganze Gruppen von Sta- tuen unter Baldachinen, dergleichen eher überall als dort hingehört. Am ganzen Bau ist dann das nordische Detail, auf dessen decorative Wirkung es abgesehen war, dergestalt mit vollen Händen vertheilt, dass man z. B. über die leere Gedankenlosigkeit des Chorabschlusses, über die willkürliche Bildung der (geringen) Kuppel und der Quer-
1) Vielleicht des gereisten Gian Galeazzo Visconti in Person? --
Gothische Architektur. Dom von Mailand.
Säulenbündel der nordischen Gothik fest; die gebornen Italiener aber organisiren ihre Stützen bald für jeden besondern Fall eigenthümlich.
Unglücklicher Weise macht gerade das berühmteste, grösste und akostbarste gothische Gebäude Italiens, der Dom von Mailand, in den meisten der genannten Beziehungen eine Ausnahme zum Schlech- tern. Entworfen und begonnen in spätgothischer Zeit (1386) durch Heinrich Arler von Gmünd, aus einer Künstlerfamilie, welche da- mals einen europäischen Ruf genoss, beruht diese Kirche von allem Anfang an auf dem verhängnissvollsten Compromiss zwischen der ita- lienischen Compositionsweise und einem spät aufflammenden Eifer 1) für die Prachtwirkung des nordischen Details. (Wozu noch kömmt, dass die leblose Ausführung des Gothischen zum Theil erst den letzten Jahrhunderten, ja dem unsrigen angehört, nachdem eine Zeit lang im Styl der spätern Renaissance an dem Gebäude war fortgebaut worden.) Italienisch und zwar speciell lombardisch ist die Fassade gedacht, und alle Spitzthürmchen können ihr den schweren und breiten Charakter nicht nehmen; italienisch ist auch die geringe Überhöhung der mitt- lern Schiffe über die äussern. Im Übrigen herrscht das unglücklichste Zuviel und Zuwenig der nordischen Zuthaten; der Grundplan mit der verhältnissmässig engen Pfeilerstellung ist wesentlich nordisch; aussen weit vortretende Strebepfeiler, mit hässlichem Reichthum or- ganisirt; die giebellosen Fenster nordisch gross, so dass das Oberlicht aus den kleinen Fenstern der mittlern Schiffe nicht dagegen aufkom- men kann und das Gebäude damit den Charakter einer Kirche gegen den einer Halle vertauscht; die Pfeilerbildung im Innern eine Remi- niscenz nordischer Säulenbündel, aber von sinnloser Hässlichkeit; ihre Basen wahrhaft barbarisch; statt der Capitäle ganze Gruppen von Sta- tuen unter Baldachinen, dergleichen eher überall als dort hingehört. Am ganzen Bau ist dann das nordische Detail, auf dessen decorative Wirkung es abgesehen war, dergestalt mit vollen Händen vertheilt, dass man z. B. über die leere Gedankenlosigkeit des Chorabschlusses, über die willkürliche Bildung der (geringen) Kuppel und der Quer-
1) Vielleicht des gereisten Gian Galeazzo Visconti in Person? —
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Gothische Architektur. Dom von Mailand.
Säulenbündel der nordischen Gothik fest; die gebornen Italiener aber
organisiren ihre Stützen bald für jeden besondern Fall eigenthümlich.
Unglücklicher Weise macht gerade das berühmteste, grösste und
kostbarste gothische Gebäude Italiens, der Dom von Mailand, in
den meisten der genannten Beziehungen eine Ausnahme zum Schlech-
tern. Entworfen und begonnen in spätgothischer Zeit (1386) durch
Heinrich Arler von Gmünd, aus einer Künstlerfamilie, welche da-
mals einen europäischen Ruf genoss, beruht diese Kirche von allem
Anfang an auf dem verhängnissvollsten Compromiss zwischen der ita-
lienischen Compositionsweise und einem spät aufflammenden Eifer 1)
für die Prachtwirkung des nordischen Details. (Wozu noch kömmt,
dass die leblose Ausführung des Gothischen zum Theil erst den letzten
Jahrhunderten, ja dem unsrigen angehört, nachdem eine Zeit lang im
Styl der spätern Renaissance an dem Gebäude war fortgebaut worden.)
Italienisch und zwar speciell lombardisch ist die Fassade gedacht, und
alle Spitzthürmchen können ihr den schweren und breiten Charakter
nicht nehmen; italienisch ist auch die geringe Überhöhung der mitt-
lern Schiffe über die äussern. Im Übrigen herrscht das unglücklichste
Zuviel und Zuwenig der nordischen Zuthaten; der Grundplan mit
der verhältnissmässig engen Pfeilerstellung ist wesentlich nordisch;
aussen weit vortretende Strebepfeiler, mit hässlichem Reichthum or-
ganisirt; die giebellosen Fenster nordisch gross, so dass das Oberlicht
aus den kleinen Fenstern der mittlern Schiffe nicht dagegen aufkom-
men kann und das Gebäude damit den Charakter einer Kirche gegen
den einer Halle vertauscht; die Pfeilerbildung im Innern eine Remi-
niscenz nordischer Säulenbündel, aber von sinnloser Hässlichkeit; ihre
Basen wahrhaft barbarisch; statt der Capitäle ganze Gruppen von Sta-
tuen unter Baldachinen, dergleichen eher überall als dort hingehört.
Am ganzen Bau ist dann das nordische Detail, auf dessen decorative
Wirkung es abgesehen war, dergestalt mit vollen Händen vertheilt,
dass man z. B. über die leere Gedankenlosigkeit des Chorabschlusses,
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/150>, abgerufen am 24.11.2024.
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