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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Baptisterium und Campanile von Pisa.
den spätern Baugedanken gehört, ebenso ihre Aussenwand, welche
eine obere Pilasterordnung über den Wandbogen bildet.

Vollständiger spricht sich dann dieser gereinigte Styl im Bapti-a
sterium aus, welches 1153 von Diotisalvi gegründet wurde. (Die
gothischen Zuthaten, Baldachine, Giebel, Spitzthürmchen sind erst im
XIV. Jahrhundert hinzugekommen.) Man wird hier durchgängig die
Formenbildung des Domes veredelt und vereinfacht wieder finden, die
Bogenprofile, die Mosaicirung der Füllungen u. s. w. Auch meldet
sich an der äussern Galerie wie im Innern, wenn nicht durchgängig,
so doch vorherrschend das eigenthümlich romanische Capitäl. Ganz
besonders wichtig ist aber die Unterbrechung nach jeder dritten Säule
im Innern durch einen Pfeiler, und zwar im obern sowohl als im un-
tern Stockwerk; worin sich deutlich das Verlangen nach einem höhern
baulichen Organismus ausdrückt. Ebenso ist die hohe konische Innen-
kuppel nur eine ungeschickte Form für das Bedürfniss nach einem
leichten, strebenden Hochbau. -- Die Schranken um den Mittelraum
und die Einfassung des Taufbeckens zeigen, welch ein neues Leben
auch innerhalb der Decoration erwacht war, wie man auch hier sich
von dem blossen Mosaik mit Prachtsteinen losmachte zu Gunsten einer
reinen und bedeutenden plastischen Verzierung.

Seit 1174 bauten Wilhelm von Innsbruck und Bonannusb
das Campanile, den berühmten schiefen Thurm 1). Hier ist die

1) Die berühmte Frage über Absicht oder Nichtabsicht beim Schiefbau erledigt
sich bei einiger Aufmerksamkeit leicht. Offenbar wurde der Thurm lothrecht
angefangen und senkte sich, als man bis in das dritte Stockwerk gelangt war,
worauf man ihn schief ausbaute. -- Bei diesem Anlass hat E. Förster
(Handbuch etc., s. d. Art.) eine allgemeine Ansicht nicht nur über diesen
Schiefbau, sondern über die Bauungleichheiten der sämmtlichen umliegenden
Prachtgebäude entwickelt, welcher ich Anfangs glaubte beipflichten zu müs-
sen, bis die Vergleichung anderer italienischer Gebäude des XI. und XII.
Jahrhunderts mich wieder davon abbrachte. Der Raum erlaubt mir hier
keine Widerlegung, sondern nur Gegenbehauptungen, deren Bündigkeit der
Leser beurtheilen mag.
Für's Erste wagte man damals allerdings absichtliche Schiefbau-
ten
; dieser Art ist wohl die Garisenda in Bologna, ein Werk der Prahlerei*
des adlichen Erbauers oder des Architekten; die daneben stehende Torre
degli Asinelli könnte schon eher durch Senkung des Bodens schief gewor-

Baptisterium und Campanile von Pisa.
den spätern Baugedanken gehört, ebenso ihre Aussenwand, welche
eine obere Pilasterordnung über den Wandbogen bildet.

Vollständiger spricht sich dann dieser gereinigte Styl im Bapti-a
sterium aus, welches 1153 von Diotisalvi gegründet wurde. (Die
gothischen Zuthaten, Baldachine, Giebel, Spitzthürmchen sind erst im
XIV. Jahrhundert hinzugekommen.) Man wird hier durchgängig die
Formenbildung des Domes veredelt und vereinfacht wieder finden, die
Bogenprofile, die Mosaicirung der Füllungen u. s. w. Auch meldet
sich an der äussern Galerie wie im Innern, wenn nicht durchgängig,
so doch vorherrschend das eigenthümlich romanische Capitäl. Ganz
besonders wichtig ist aber die Unterbrechung nach jeder dritten Säule
im Innern durch einen Pfeiler, und zwar im obern sowohl als im un-
tern Stockwerk; worin sich deutlich das Verlangen nach einem höhern
baulichen Organismus ausdrückt. Ebenso ist die hohe konische Innen-
kuppel nur eine ungeschickte Form für das Bedürfniss nach einem
leichten, strebenden Hochbau. — Die Schranken um den Mittelraum
und die Einfassung des Taufbeckens zeigen, welch ein neues Leben
auch innerhalb der Decoration erwacht war, wie man auch hier sich
von dem blossen Mosaik mit Prachtsteinen losmachte zu Gunsten einer
reinen und bedeutenden plastischen Verzierung.

Seit 1174 bauten Wilhelm von Innsbruck und Bonannusb
das Campanile, den berühmten schiefen Thurm 1). Hier ist die

1) Die berühmte Frage über Absicht oder Nichtabsicht beim Schiefbau erledigt
sich bei einiger Aufmerksamkeit leicht. Offenbar wurde der Thurm lothrecht
angefangen und senkte sich, als man bis in das dritte Stockwerk gelangt war,
worauf man ihn schief ausbaute. — Bei diesem Anlass hat E. Förster
(Handbuch etc., s. d. Art.) eine allgemeine Ansicht nicht nur über diesen
Schiefbau, sondern über die Bauungleichheiten der sämmtlichen umliegenden
Prachtgebäude entwickelt, welcher ich Anfangs glaubte beipflichten zu müs-
sen, bis die Vergleichung anderer italienischer Gebäude des XI. und XII.
Jahrhunderts mich wieder davon abbrachte. Der Raum erlaubt mir hier
keine Widerlegung, sondern nur Gegenbehauptungen, deren Bündigkeit der
Leser beurtheilen mag.
Für’s Erste wagte man damals allerdings absichtliche Schiefbau-
ten
; dieser Art ist wohl die Garisenda in Bologna, ein Werk der Prahlerei*
des adlichen Erbauers oder des Architekten; die daneben stehende Torre
degli Asinelli könnte schon eher durch Senkung des Bodens schief gewor-
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[103/0125] Baptisterium und Campanile von Pisa. den spätern Baugedanken gehört, ebenso ihre Aussenwand, welche eine obere Pilasterordnung über den Wandbogen bildet. Vollständiger spricht sich dann dieser gereinigte Styl im Bapti- sterium aus, welches 1153 von Diotisalvi gegründet wurde. (Die gothischen Zuthaten, Baldachine, Giebel, Spitzthürmchen sind erst im XIV. Jahrhundert hinzugekommen.) Man wird hier durchgängig die Formenbildung des Domes veredelt und vereinfacht wieder finden, die Bogenprofile, die Mosaicirung der Füllungen u. s. w. Auch meldet sich an der äussern Galerie wie im Innern, wenn nicht durchgängig, so doch vorherrschend das eigenthümlich romanische Capitäl. Ganz besonders wichtig ist aber die Unterbrechung nach jeder dritten Säule im Innern durch einen Pfeiler, und zwar im obern sowohl als im un- tern Stockwerk; worin sich deutlich das Verlangen nach einem höhern baulichen Organismus ausdrückt. Ebenso ist die hohe konische Innen- kuppel nur eine ungeschickte Form für das Bedürfniss nach einem leichten, strebenden Hochbau. — Die Schranken um den Mittelraum und die Einfassung des Taufbeckens zeigen, welch ein neues Leben auch innerhalb der Decoration erwacht war, wie man auch hier sich von dem blossen Mosaik mit Prachtsteinen losmachte zu Gunsten einer reinen und bedeutenden plastischen Verzierung. a Seit 1174 bauten Wilhelm von Innsbruck und Bonannus das Campanile, den berühmten schiefen Thurm 1). Hier ist die b 1) Die berühmte Frage über Absicht oder Nichtabsicht beim Schiefbau erledigt sich bei einiger Aufmerksamkeit leicht. Offenbar wurde der Thurm lothrecht angefangen und senkte sich, als man bis in das dritte Stockwerk gelangt war, worauf man ihn schief ausbaute. — Bei diesem Anlass hat E. Förster (Handbuch etc., s. d. Art.) eine allgemeine Ansicht nicht nur über diesen Schiefbau, sondern über die Bauungleichheiten der sämmtlichen umliegenden Prachtgebäude entwickelt, welcher ich Anfangs glaubte beipflichten zu müs- sen, bis die Vergleichung anderer italienischer Gebäude des XI. und XII. Jahrhunderts mich wieder davon abbrachte. Der Raum erlaubt mir hier keine Widerlegung, sondern nur Gegenbehauptungen, deren Bündigkeit der Leser beurtheilen mag. Für’s Erste wagte man damals allerdings absichtliche Schiefbau- ten; dieser Art ist wohl die Garisenda in Bologna, ein Werk der Prahlerei des adlichen Erbauers oder des Architekten; die daneben stehende Torre degli Asinelli könnte schon eher durch Senkung des Bodens schief gewor-

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/125>, abgerufen am 28.11.2024.