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Bürger, Gottfried August: Gedichte. Göttingen, 1778.

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nur; aber das ist nach Sin und Sprache
einerlei. Wenn der Mutter Gottes die
höchste weibliche Schönheit und Tugend
beigelegt wird, so dächte ich, selbst der
strengste Katholik könte nicht mehr verlan-
gen. Eine Person aber mus schlechterdings
in der Welt gewesen seyn, die ihr hierin am
nächsten gekommen ist. Ist es denn nun
wol Sünde, wenn der Dichter sein Ideal
auf die nächste Stufe unter ihr stelt? --
Aber ich weis wol, woher sich so manche
unsinnige Urtheile entspinnen. Es singt
wol kein Dichter ein Liebeslied, das die
Einfalt nicht seinen wirklich erlebten Liebes-
geschichten anpast. Irgend ein Pinsel weis
vielleicht, daß der Dichter dies oder jenes
Mädchen liebt, oder geliebt hat. Nun fängt
er an zu vergleichen, und da mus es denn
freilich auffallend seyn, das wirkliche Mäd-
chen, dem besungenen Mädchen der Ein-
bildungskraft so weit nachstehen zu sehn.
Aber wer heist euch denn vergessen, daß

Dich-
c 4

nur; aber das iſt nach Sin und Sprache
einerlei. Wenn der Mutter Gottes die
hoͤchſte weibliche Schoͤnheit und Tugend
beigelegt wird, ſo daͤchte ich, ſelbſt der
ſtrengſte Katholik koͤnte nicht mehr verlan-
gen. Eine Perſon aber mus ſchlechterdings
in der Welt geweſen ſeyn, die ihr hierin am
naͤchſten gekommen iſt. Iſt es denn nun
wol Suͤnde, wenn der Dichter ſein Ideal
auf die naͤchſte Stufe unter ihr ſtelt? —
Aber ich weis wol, woher ſich ſo manche
unſinnige Urtheile entſpinnen. Es ſingt
wol kein Dichter ein Liebeslied, das die
Einfalt nicht ſeinen wirklich erlebten Liebes-
geſchichten anpaſt. Irgend ein Pinſel weis
vielleicht, daß der Dichter dies oder jenes
Maͤdchen liebt, oder geliebt hat. Nun faͤngt
er an zu vergleichen, und da mus es denn
freilich auffallend ſeyn, das wirkliche Maͤd-
chen, dem beſungenen Maͤdchen der Ein-
bildungskraft ſo weit nachſtehen zu ſehn.
Aber wer heiſt euch denn vergeſſen, daß

Dich-
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[IX/0048] nur; aber das iſt nach Sin und Sprache einerlei. Wenn der Mutter Gottes die hoͤchſte weibliche Schoͤnheit und Tugend beigelegt wird, ſo daͤchte ich, ſelbſt der ſtrengſte Katholik koͤnte nicht mehr verlan- gen. Eine Perſon aber mus ſchlechterdings in der Welt geweſen ſeyn, die ihr hierin am naͤchſten gekommen iſt. Iſt es denn nun wol Suͤnde, wenn der Dichter ſein Ideal auf die naͤchſte Stufe unter ihr ſtelt? — Aber ich weis wol, woher ſich ſo manche unſinnige Urtheile entſpinnen. Es ſingt wol kein Dichter ein Liebeslied, das die Einfalt nicht ſeinen wirklich erlebten Liebes- geſchichten anpaſt. Irgend ein Pinſel weis vielleicht, daß der Dichter dies oder jenes Maͤdchen liebt, oder geliebt hat. Nun faͤngt er an zu vergleichen, und da mus es denn freilich auffallend ſeyn, das wirkliche Maͤd- chen, dem beſungenen Maͤdchen der Ein- bildungskraft ſo weit nachſtehen zu ſehn. Aber wer heiſt euch denn vergeſſen, daß Dich- c 4

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Zitationshilfe: Bürger, Gottfried August: Gedichte. Göttingen, 1778, S. IX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buerger_gedichte_1778/48>, abgerufen am 23.11.2024.