ein Gaukelspiel für große Kinder" sei, es verliert die Hoff- nung, seine berechtigten Erwartungen jemals durch Kammer- debatten erfüllt zu sehen. Damit ist auch das Bild des politischen Lebens im Großherzogthum Hessen während der Zwanziger Jahre gezeichnet, nur daß hier noch ein trauriger Umstand hinzutrat, welcher die Opposition in der zweiten Kammer, wie den allgemeinen Mißmuth verschärfte: die drückende Noth des Volkes. In Ober- und Rheinhessen ver- einten sich Elementar-Ereignisse (Hungerjahre, Ueberschwem- mungen) mit unerträglichem Steuerdruck, um eine so jähe und allgemeine Verarmung herbeizuführen, daß Tausende nach Amerika zogen, die Anderen aber, welche nicht aus- wandern konnten oder mochten, in dumpfer, trotziger Ver- zweiflung die Hände in den Schooß legten. Der Staat, selbst an ewiger Finanznoth leidend, konnte nicht helfen und suchte den Schrei der Noth dadurch zu ersticken, daß er die Kammern nach Kräften mundtodt machte. Als durch reiche Ernten jene verzweifelte Lage der Bevölkerung etwas ge- lindert war, blieb doch bitterer Mißmuth in den Herzen zu- rück und eine, freilich mehr instinctive, als klar empfundene Ueberzeugung von der Unhaltbarkeit der bisherigen Zustände.
Mitten in diese Stimmungen brach die Kunde von der Pariser Julirevolution, diesem grellen Blitzstrahl in der grauen Dämmerung, welche die "Heilige Allianz" über Europa gebreitet. Es war naturgemäß, daß dies Ereigniß, wie allüberall, so auch in Deutschland die Gemüther ergriff und tief gehende Wirkung übte -- jäher Kampfruf hallt weit in einer todtenstillen Zeit und wer kaum von Freiheit zu träumen wagt, muß wie ein Schlafwandler auffahren, wenn er hört, wie sie anderwärts durch Thaten ersiegt wird.
ein Gaukelſpiel für große Kinder" ſei, es verliert die Hoff- nung, ſeine berechtigten Erwartungen jemals durch Kammer- debatten erfüllt zu ſehen. Damit iſt auch das Bild des politiſchen Lebens im Großherzogthum Heſſen während der Zwanziger Jahre gezeichnet, nur daß hier noch ein trauriger Umſtand hinzutrat, welcher die Oppoſition in der zweiten Kammer, wie den allgemeinen Mißmuth verſchärfte: die drückende Noth des Volkes. In Ober- und Rheinheſſen ver- einten ſich Elementar-Ereigniſſe (Hungerjahre, Ueberſchwem- mungen) mit unerträglichem Steuerdruck, um eine ſo jähe und allgemeine Verarmung herbeizuführen, daß Tauſende nach Amerika zogen, die Anderen aber, welche nicht aus- wandern konnten oder mochten, in dumpfer, trotziger Ver- zweiflung die Hände in den Schooß legten. Der Staat, ſelbſt an ewiger Finanznoth leidend, konnte nicht helfen und ſuchte den Schrei der Noth dadurch zu erſticken, daß er die Kammern nach Kräften mundtodt machte. Als durch reiche Ernten jene verzweifelte Lage der Bevölkerung etwas ge- lindert war, blieb doch bitterer Mißmuth in den Herzen zu- rück und eine, freilich mehr inſtinctive, als klar empfundene Ueberzeugung von der Unhaltbarkeit der bisherigen Zuſtände.
Mitten in dieſe Stimmungen brach die Kunde von der Pariſer Julirevolution, dieſem grellen Blitzſtrahl in der grauen Dämmerung, welche die "Heilige Allianz" über Europa gebreitet. Es war naturgemäß, daß dies Ereigniß, wie allüberall, ſo auch in Deutſchland die Gemüther ergriff und tief gehende Wirkung übte — jäher Kampfruf hallt weit in einer todtenſtillen Zeit und wer kaum von Freiheit zu träumen wagt, muß wie ein Schlafwandler auffahren, wenn er hört, wie ſie anderwärts durch Thaten erſiegt wird.
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[LXXVIII/0094]
ein Gaukelſpiel für große Kinder" ſei, es verliert die Hoff-
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debatten erfüllt zu ſehen. Damit iſt auch das Bild des
politiſchen Lebens im Großherzogthum Heſſen während der
Zwanziger Jahre gezeichnet, nur daß hier noch ein trauriger
Umſtand hinzutrat, welcher die Oppoſition in der zweiten
Kammer, wie den allgemeinen Mißmuth verſchärfte: die
drückende Noth des Volkes. In Ober- und Rheinheſſen ver-
einten ſich Elementar-Ereigniſſe (Hungerjahre, Ueberſchwem-
mungen) mit unerträglichem Steuerdruck, um eine ſo jähe
und allgemeine Verarmung herbeizuführen, daß Tauſende
nach Amerika zogen, die Anderen aber, welche nicht aus-
wandern konnten oder mochten, in dumpfer, trotziger Ver-
zweiflung die Hände in den Schooß legten. Der Staat,
ſelbſt an ewiger Finanznoth leidend, konnte nicht helfen und
ſuchte den Schrei der Noth dadurch zu erſticken, daß er die
Kammern nach Kräften mundtodt machte. Als durch reiche
Ernten jene verzweifelte Lage der Bevölkerung etwas ge-
lindert war, blieb doch bitterer Mißmuth in den Herzen zu-
rück und eine, freilich mehr inſtinctive, als klar empfundene
Ueberzeugung von der Unhaltbarkeit der bisherigen Zuſtände.
Mitten in dieſe Stimmungen brach die Kunde von der
Pariſer Julirevolution, dieſem grellen Blitzſtrahl in der
grauen Dämmerung, welche die "Heilige Allianz" über
Europa gebreitet. Es war naturgemäß, daß dies Ereigniß,
wie allüberall, ſo auch in Deutſchland die Gemüther ergriff
und tief gehende Wirkung übte — jäher Kampfruf hallt
weit in einer todtenſtillen Zeit und wer kaum von Freiheit
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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. LXXVIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/94>, abgerufen am 28.11.2024.
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