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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

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tiefer als das Weh, eine Laufbahn, welche er nach den Lob-
sprüchen seiner Straßburger Lehrer als eine glänzende hatte
erhoffen dürfen, mit einem verhaßten, trivialen Berufe ein-
tauschen zu müssen, quälte ihn das Bewußtsein, sich selbst
untreu geworden zu sein. So ward ihm das Studium,
das ihn in Straßburg mit Eifer, Freude und Zuversicht er-
füllt, in Gießen zur Qual und zum Ekel.

Dies seelische Leiden ward noch schlimmer, als er ein
gefährliches Heilmittel dagegen anwandte. Man weiß, wie
Büchner schon früh zur Grübelei über jene höchsten Fragen
der Menschheit geneigt, auf welche man sich bescheiden muß,
entweder gar keine oder nur eine trostlose Antwort zu finden.
Dieses früh erwachte Hinneigen seines Geistes zur Specu-
lation war dann durch die naturphilosophische Richtung,
welche damals seine Wissenschaft beherrschte, genährt und be-
friedigt worden. Er hatte den Glauben an einen persön-
lichen Gott verloren, aber der junge Atheist ward in der
Betrachtung der Natur und ihrer harmonischen Gesetze zum
Pantheisten. Nun verlor er auch diesen Halt -- nicht blos
deßhalb, weil jetzt täglich das Häßliche, Krankhafte, Ab-
norme in der Natur an ihn herantrat, sondern vornehmlich,
weil sein Geist sich nun, im Durste nach speculativer Be-
schäftigung, welche ja sein derzeitiges Studium nur kärglich
gewährte, eifrig den verschiedensten philosophischen Systemen
zuwandte, nicht in ruhigem, gründlichem Studium, sondern
hastig, gierig, oberflächlich. Mit ähnlichen Empfindungen,
in ähnlicher Art, wie Büchner damals System auf System
vornahm und durchflog, mag ein Laie, der sich todtkrank
fühlt, ein Compendium der Medizin durchstöbern, um viel-
leicht doch noch das rettende Mittel zu finden. Es braucht

tiefer als das Weh, eine Laufbahn, welche er nach den Lob-
ſprüchen ſeiner Straßburger Lehrer als eine glänzende hatte
erhoffen dürfen, mit einem verhaßten, trivialen Berufe ein-
tauſchen zu müſſen, quälte ihn das Bewußtſein, ſich ſelbſt
untreu geworden zu ſein. So ward ihm das Studium,
das ihn in Straßburg mit Eifer, Freude und Zuverſicht er-
füllt, in Gießen zur Qual und zum Ekel.

Dies ſeeliſche Leiden ward noch ſchlimmer, als er ein
gefährliches Heilmittel dagegen anwandte. Man weiß, wie
Büchner ſchon früh zur Grübelei über jene höchſten Fragen
der Menſchheit geneigt, auf welche man ſich beſcheiden muß,
entweder gar keine oder nur eine troſtloſe Antwort zu finden.
Dieſes früh erwachte Hinneigen ſeines Geiſtes zur Specu-
lation war dann durch die naturphiloſophiſche Richtung,
welche damals ſeine Wiſſenſchaft beherrſchte, genährt und be-
friedigt worden. Er hatte den Glauben an einen perſön-
lichen Gott verloren, aber der junge Atheiſt ward in der
Betrachtung der Natur und ihrer harmoniſchen Geſetze zum
Pantheiſten. Nun verlor er auch dieſen Halt — nicht blos
deßhalb, weil jetzt täglich das Häßliche, Krankhafte, Ab-
norme in der Natur an ihn herantrat, ſondern vornehmlich,
weil ſein Geiſt ſich nun, im Durſte nach ſpeculativer Be-
ſchäftigung, welche ja ſein derzeitiges Studium nur kärglich
gewährte, eifrig den verſchiedenſten philoſophiſchen Syſtemen
zuwandte, nicht in ruhigem, gründlichem Studium, ſondern
haſtig, gierig, oberflächlich. Mit ähnlichen Empfindungen,
in ähnlicher Art, wie Büchner damals Syſtem auf Syſtem
vornahm und durchflog, mag ein Laie, der ſich todtkrank
fühlt, ein Compendium der Medizin durchſtöbern, um viel-
leicht doch noch das rettende Mittel zu finden. Es braucht

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[LXIV/0080] tiefer als das Weh, eine Laufbahn, welche er nach den Lob- ſprüchen ſeiner Straßburger Lehrer als eine glänzende hatte erhoffen dürfen, mit einem verhaßten, trivialen Berufe ein- tauſchen zu müſſen, quälte ihn das Bewußtſein, ſich ſelbſt untreu geworden zu ſein. So ward ihm das Studium, das ihn in Straßburg mit Eifer, Freude und Zuverſicht er- füllt, in Gießen zur Qual und zum Ekel. Dies ſeeliſche Leiden ward noch ſchlimmer, als er ein gefährliches Heilmittel dagegen anwandte. Man weiß, wie Büchner ſchon früh zur Grübelei über jene höchſten Fragen der Menſchheit geneigt, auf welche man ſich beſcheiden muß, entweder gar keine oder nur eine troſtloſe Antwort zu finden. Dieſes früh erwachte Hinneigen ſeines Geiſtes zur Specu- lation war dann durch die naturphiloſophiſche Richtung, welche damals ſeine Wiſſenſchaft beherrſchte, genährt und be- friedigt worden. Er hatte den Glauben an einen perſön- lichen Gott verloren, aber der junge Atheiſt ward in der Betrachtung der Natur und ihrer harmoniſchen Geſetze zum Pantheiſten. Nun verlor er auch dieſen Halt — nicht blos deßhalb, weil jetzt täglich das Häßliche, Krankhafte, Ab- norme in der Natur an ihn herantrat, ſondern vornehmlich, weil ſein Geiſt ſich nun, im Durſte nach ſpeculativer Be- ſchäftigung, welche ja ſein derzeitiges Studium nur kärglich gewährte, eifrig den verſchiedenſten philoſophiſchen Syſtemen zuwandte, nicht in ruhigem, gründlichem Studium, ſondern haſtig, gierig, oberflächlich. Mit ähnlichen Empfindungen, in ähnlicher Art, wie Büchner damals Syſtem auf Syſtem vornahm und durchflog, mag ein Laie, der ſich todtkrank fühlt, ein Compendium der Medizin durchſtöbern, um viel- leicht doch noch das rettende Mittel zu finden. Es braucht

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Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. LXIV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/80>, abgerufen am 26.11.2024.