Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

Gemälde sind skizzenartig hingeworfen, aber die Umrisse der
Kohle sind so scharf, daß unsrer Einbildungskraft sich von
selbst eine Welt vorzaubert. Danton, Robespierre, St. Just,
Camille. Desmoulins -- sind vortrefflich gezeichnet -- sowie
in allen Nebenparthien, in den Volksscenen und dem Ge-
spräche der untersten Classen sich die Vertrautheit mit seinem
Gegenstande zu erkennen gibt. Warum sollte er dies auch
nicht! Unsre Jugend studirt die Revolution, weil sie die
Freiheit liebt und doch die Fehler vermeiden möchte, welche
man in ihrem Dienst begehen kann.

Man darf sagen, daß in Büchners Drama mehr Leben
als Handlung herrscht. Die Handlung selbst ist eine abge-
schlossene, schon da, als der Vorhang aufgeht. Der Stoff
ist undramatisch, wie Maria Stuart. Schiller wollte eine
Tragödie geben und gab die Dramatisirung eines Processes.
Büchner gibt statt eines Dramas, statt einer Handlung, die
sich entwickelt, die anschwillt und fällt, das letzte Zucken und
Röcheln, welches dem Tode vorausgeht. Aber die Fülle von
Leben, die sich hier vor unsern Augen noch zusammendrängt,
läßt den Mangel der Handlung, den Mangel eines Ge-
dankens, der wie eine Intrigue aussieht, weniger schmerzlich
entbehren. Wir werden hingerissen von diesem Inhalte,
welcher mehr aus Begebenheiten als aus Thaten besteht,
und erstaunen über die Wirkung, welche eine Aufführung
dieser Art auf dem Theater machen müßte, eine Aufführung,
die unmöglich ist, weil man Haydn's Schöpfung nicht auf
der Drehorgel leiern kann.

Wir nähern uns dem besondern künstlerischen Verdienste
dieser Production, von welchem wir gestehen müssen, daß es
die Auffassung des Stoffes noch bei Weitem zu übertreffen

G. Büchner's Werke. 29

Gemälde ſind ſkizzenartig hingeworfen, aber die Umriſſe der
Kohle ſind ſo ſcharf, daß unſrer Einbildungskraft ſich von
ſelbſt eine Welt vorzaubert. Danton, Robespierre, St. Juſt,
Camille. Desmoulins — ſind vortrefflich gezeichnet — ſowie
in allen Nebenparthien, in den Volksſcenen und dem Ge-
ſpräche der unterſten Claſſen ſich die Vertrautheit mit ſeinem
Gegenſtande zu erkennen gibt. Warum ſollte er dies auch
nicht! Unſre Jugend ſtudirt die Revolution, weil ſie die
Freiheit liebt und doch die Fehler vermeiden möchte, welche
man in ihrem Dienſt begehen kann.

Man darf ſagen, daß in Büchners Drama mehr Leben
als Handlung herrſcht. Die Handlung ſelbſt iſt eine abge-
ſchloſſene, ſchon da, als der Vorhang aufgeht. Der Stoff
iſt undramatiſch, wie Maria Stuart. Schiller wollte eine
Tragödie geben und gab die Dramatiſirung eines Proceſſes.
Büchner gibt ſtatt eines Dramas, ſtatt einer Handlung, die
ſich entwickelt, die anſchwillt und fällt, das letzte Zucken und
Röcheln, welches dem Tode vorausgeht. Aber die Fülle von
Leben, die ſich hier vor unſern Augen noch zuſammendrängt,
läßt den Mangel der Handlung, den Mangel eines Ge-
dankens, der wie eine Intrigue ausſieht, weniger ſchmerzlich
entbehren. Wir werden hingeriſſen von dieſem Inhalte,
welcher mehr aus Begebenheiten als aus Thaten beſteht,
und erſtaunen über die Wirkung, welche eine Aufführung
dieſer Art auf dem Theater machen müßte, eine Aufführung,
die unmöglich iſt, weil man Haydn's Schöpfung nicht auf
der Drehorgel leiern kann.

Wir nähern uns dem beſondern künſtleriſchen Verdienſte
dieſer Production, von welchem wir geſtehen müſſen, daß es
die Auffaſſung des Stoffes noch bei Weitem zu übertreffen

G. Büchner's Werke. 29
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0645" n="449"/>
Gemälde &#x017F;ind &#x017F;kizzenartig hingeworfen, aber die Umri&#x017F;&#x017F;e der<lb/>
Kohle &#x017F;ind &#x017F;o &#x017F;charf, daß un&#x017F;rer Einbildungskraft &#x017F;ich von<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t eine Welt vorzaubert. Danton, Robespierre, St. Ju&#x017F;t,<lb/>
Camille. Desmoulins &#x2014; &#x017F;ind vortrefflich gezeichnet &#x2014; &#x017F;owie<lb/>
in allen Nebenparthien, in den Volks&#x017F;cenen und dem Ge-<lb/>
&#x017F;präche der unter&#x017F;ten Cla&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich die Vertrautheit mit &#x017F;einem<lb/>
Gegen&#x017F;tande zu erkennen gibt. Warum &#x017F;ollte er dies auch<lb/>
nicht! Un&#x017F;re Jugend &#x017F;tudirt die Revolution, weil &#x017F;ie die<lb/>
Freiheit liebt und doch die Fehler vermeiden möchte, welche<lb/>
man in ihrem Dien&#x017F;t begehen kann.</p><lb/>
          <p>Man darf &#x017F;agen, daß in Büchners Drama mehr Leben<lb/>
als Handlung herr&#x017F;cht. Die Handlung &#x017F;elb&#x017F;t i&#x017F;t eine abge-<lb/>
&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ene, &#x017F;chon da, als der Vorhang aufgeht. Der Stoff<lb/>
i&#x017F;t undramati&#x017F;ch, wie Maria Stuart. Schiller wollte eine<lb/>
Tragödie geben und gab die Dramati&#x017F;irung eines Proce&#x017F;&#x017F;es.<lb/>
Büchner gibt &#x017F;tatt eines Dramas, &#x017F;tatt einer Handlung, die<lb/>
&#x017F;ich entwickelt, die an&#x017F;chwillt und fällt, das letzte Zucken und<lb/>
Röcheln, welches dem Tode vorausgeht. Aber die Fülle von<lb/>
Leben, die &#x017F;ich hier vor un&#x017F;ern Augen noch zu&#x017F;ammendrängt,<lb/>
läßt den Mangel der Handlung, den Mangel eines Ge-<lb/>
dankens, der wie eine Intrigue aus&#x017F;ieht, weniger &#x017F;chmerzlich<lb/>
entbehren. Wir werden hingeri&#x017F;&#x017F;en von die&#x017F;em Inhalte,<lb/>
welcher mehr aus Begebenheiten als aus Thaten be&#x017F;teht,<lb/>
und er&#x017F;taunen über die Wirkung, welche eine Aufführung<lb/>
die&#x017F;er Art auf dem Theater machen müßte, eine Aufführung,<lb/>
die unmöglich i&#x017F;t, weil man Haydn's Schöpfung nicht auf<lb/>
der Drehorgel leiern kann.</p><lb/>
          <p>Wir nähern uns dem be&#x017F;ondern kün&#x017F;tleri&#x017F;chen Verdien&#x017F;te<lb/>
die&#x017F;er Production, von welchem wir ge&#x017F;tehen mü&#x017F;&#x017F;en, daß es<lb/>
die Auffa&#x017F;&#x017F;ung des Stoffes noch bei Weitem zu übertreffen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G. Büchner's Werke. 29</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[449/0645] Gemälde ſind ſkizzenartig hingeworfen, aber die Umriſſe der Kohle ſind ſo ſcharf, daß unſrer Einbildungskraft ſich von ſelbſt eine Welt vorzaubert. Danton, Robespierre, St. Juſt, Camille. Desmoulins — ſind vortrefflich gezeichnet — ſowie in allen Nebenparthien, in den Volksſcenen und dem Ge- ſpräche der unterſten Claſſen ſich die Vertrautheit mit ſeinem Gegenſtande zu erkennen gibt. Warum ſollte er dies auch nicht! Unſre Jugend ſtudirt die Revolution, weil ſie die Freiheit liebt und doch die Fehler vermeiden möchte, welche man in ihrem Dienſt begehen kann. Man darf ſagen, daß in Büchners Drama mehr Leben als Handlung herrſcht. Die Handlung ſelbſt iſt eine abge- ſchloſſene, ſchon da, als der Vorhang aufgeht. Der Stoff iſt undramatiſch, wie Maria Stuart. Schiller wollte eine Tragödie geben und gab die Dramatiſirung eines Proceſſes. Büchner gibt ſtatt eines Dramas, ſtatt einer Handlung, die ſich entwickelt, die anſchwillt und fällt, das letzte Zucken und Röcheln, welches dem Tode vorausgeht. Aber die Fülle von Leben, die ſich hier vor unſern Augen noch zuſammendrängt, läßt den Mangel der Handlung, den Mangel eines Ge- dankens, der wie eine Intrigue ausſieht, weniger ſchmerzlich entbehren. Wir werden hingeriſſen von dieſem Inhalte, welcher mehr aus Begebenheiten als aus Thaten beſteht, und erſtaunen über die Wirkung, welche eine Aufführung dieſer Art auf dem Theater machen müßte, eine Aufführung, die unmöglich iſt, weil man Haydn's Schöpfung nicht auf der Drehorgel leiern kann. Wir nähern uns dem beſondern künſtleriſchen Verdienſte dieſer Production, von welchem wir geſtehen müſſen, daß es die Auffaſſung des Stoffes noch bei Weitem zu übertreffen G. Büchner's Werke. 29

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/645
Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/645>, abgerufen am 24.11.2024.