Die Leute erzählten Lenzen, der Mann sei vor langer Zeit in die Gegend gekommen, man wisse nicht woher; er stehe im Ruf eines Heiligen, er sehe das Wasser unter der Erde und könne Geister beschwören, und man wallfahre zu ihm. Lenz erfuhr zugleich, daß er weiter vom Steinthal abge- kommen, er ging weg mit einigen Holzhauern, die in die Gegend gingen. Es that ihm wohl, Gesellschaft zu finden; es war ihm jetzt unheimlich mit dem gewaltigen Menschen, von dem es ihm manchmal war, als rede er in entsetzlichen Tönen. Auch fürchtete er sich vor sich selbst in der Ein- samkeit.
Er kam heim. Doch hatte die verflossene Nacht einen gewaltigen Eindruck auf ihn gemacht. Die Welt war ihm helle gewesen, und er spürte an sich ein Regen und Wimmeln nach einem Abgrunde, zu dem ihn eine unerbittliche Gewalt hinriß. Er wühlte jetzt in sich. Er aß wenig; halbe Nächte im Gebet und fieberhaften Träumen. Ein gewalt- sames Drängen, und dann erschöpft zurückgeschlagen; er lag in den heißesten Thränen, und dann bekam er plötzlich eine Stärke und erhob sich kalt und gleichgiltig, seine Thränen waren ihm dann wie Eis, er mußte lachen. Je höher er sich aufriß, desto tiefer stürzte er hinunter. Alles strömte wieder zusammen. Ahnungen von seinem alten Zustande durchzuckten ihn und warfen Streiflichter in das wüste Chaos seines Geistes. Des Tags saß er gewöhnlich unten im Zimmer; Madame Oberlin ging ab und zu, er zeichnete, malte, las, griff nach jeder Zerstreuung, Alles hastig von einem zum andern. Doch schloß er sich jetzt besonders an Madame Oberlin an, wenn sie so da saß, das schwarze Gesangbuch vor sich, neben eine Pflanze, im Zimmer ge-
G. Büchner's Werke. 15
Die Leute erzählten Lenzen, der Mann ſei vor langer Zeit in die Gegend gekommen, man wiſſe nicht woher; er ſtehe im Ruf eines Heiligen, er ſehe das Waſſer unter der Erde und könne Geiſter beſchwören, und man wallfahre zu ihm. Lenz erfuhr zugleich, daß er weiter vom Steinthal abge- kommen, er ging weg mit einigen Holzhauern, die in die Gegend gingen. Es that ihm wohl, Geſellſchaft zu finden; es war ihm jetzt unheimlich mit dem gewaltigen Menſchen, von dem es ihm manchmal war, als rede er in entſetzlichen Tönen. Auch fürchtete er ſich vor ſich ſelbſt in der Ein- ſamkeit.
Er kam heim. Doch hatte die verfloſſene Nacht einen gewaltigen Eindruck auf ihn gemacht. Die Welt war ihm helle geweſen, und er ſpürte an ſich ein Regen und Wimmeln nach einem Abgrunde, zu dem ihn eine unerbittliche Gewalt hinriß. Er wühlte jetzt in ſich. Er aß wenig; halbe Nächte im Gebet und fieberhaften Träumen. Ein gewalt- ſames Drängen, und dann erſchöpft zurückgeſchlagen; er lag in den heißeſten Thränen, und dann bekam er plötzlich eine Stärke und erhob ſich kalt und gleichgiltig, ſeine Thränen waren ihm dann wie Eis, er mußte lachen. Je höher er ſich aufriß, deſto tiefer ſtürzte er hinunter. Alles ſtrömte wieder zuſammen. Ahnungen von ſeinem alten Zuſtande durchzuckten ihn und warfen Streiflichter in das wüſte Chaos ſeines Geiſtes. Des Tags ſaß er gewöhnlich unten im Zimmer; Madame Oberlin ging ab und zu, er zeichnete, malte, las, griff nach jeder Zerſtreuung, Alles haſtig von einem zum andern. Doch ſchloß er ſich jetzt beſonders an Madame Oberlin an, wenn ſie ſo da ſaß, das ſchwarze Geſangbuch vor ſich, neben eine Pflanze, im Zimmer ge-
G. Büchner's Werke. 15
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Die Leute erzählten Lenzen, der Mann ſei vor langer Zeit
in die Gegend gekommen, man wiſſe nicht woher; er ſtehe
im Ruf eines Heiligen, er ſehe das Waſſer unter der Erde
und könne Geiſter beſchwören, und man wallfahre zu ihm.
Lenz erfuhr zugleich, daß er weiter vom Steinthal abge-
kommen, er ging weg mit einigen Holzhauern, die in die
Gegend gingen. Es that ihm wohl, Geſellſchaft zu finden;
es war ihm jetzt unheimlich mit dem gewaltigen Menſchen,
von dem es ihm manchmal war, als rede er in entſetzlichen
Tönen. Auch fürchtete er ſich vor ſich ſelbſt in der Ein-
ſamkeit.
Er kam heim. Doch hatte die verfloſſene Nacht einen
gewaltigen Eindruck auf ihn gemacht. Die Welt war ihm
helle geweſen, und er ſpürte an ſich ein Regen und Wimmeln
nach einem Abgrunde, zu dem ihn eine unerbittliche Gewalt
hinriß. Er wühlte jetzt in ſich. Er aß wenig; halbe
Nächte im Gebet und fieberhaften Träumen. Ein gewalt-
ſames Drängen, und dann erſchöpft zurückgeſchlagen; er lag
in den heißeſten Thränen, und dann bekam er plötzlich eine
Stärke und erhob ſich kalt und gleichgiltig, ſeine Thränen
waren ihm dann wie Eis, er mußte lachen. Je höher er
ſich aufriß, deſto tiefer ſtürzte er hinunter. Alles ſtrömte
wieder zuſammen. Ahnungen von ſeinem alten Zuſtande
durchzuckten ihn und warfen Streiflichter in das wüſte
Chaos ſeines Geiſtes. Des Tags ſaß er gewöhnlich unten
im Zimmer; Madame Oberlin ging ab und zu, er zeichnete,
malte, las, griff nach jeder Zerſtreuung, Alles haſtig von
einem zum andern. Doch ſchloß er ſich jetzt beſonders an
Madame Oberlin an, wenn ſie ſo da ſaß, das ſchwarze
Geſangbuch vor ſich, neben eine Pflanze, im Zimmer ge-
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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/421>, abgerufen am 25.11.2024.
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