das chemische Rezept zu, welches im Nürnberger "Germanischen Museum" zur Auffrischung von Urkunden benützt wird. Man be- streicht die betreffende Stelle zuerst mit destillirtem Wasser, dann mit Schwefel-Amoniak. Das Mittel erwies sich als wirksam, die verblaßten Strichelchen traten auf kurze Zeit wieder kohlschwarz hervor, auch an solchen Stellen, wo mit freiem Auge kaum mehr die Spuren einer Schrift zu erspähen waren. Aber da wies sich eine neue Schwierigkeit: die Schriftzüge waren mikroskopisch klein; oft mehr als dreißig Worte auf die gewöhnliche Zeile. Ich mußte zur Loupe greifen. Aber selbst mit bewaffnetem Auge und chemisch präparirtem Papier ging es schwer genug. Denn Georg Büchner hatte, wenn er rasch schrieb, die unleserlichste Handschrift, die man sich denken kann; Alexander von Humboldts Hieroglyphen sind im Vergleich mit Büchners Strichelchen eine kalligraphische Vorlage. Dazu kamen noch eigenthümliche Abbreviaturen u. s. w. Kurz, es war eine unsägliche Geduldprobe. Aber was ich entzifferte, war geeignet, mir immer wieder den Muth zu stählen. So copirte ich denn Zeile für Zeile, zuerst die grauen Bogen, dann die weißen Blättchen.
Endlich war ich fertig und konnte die Resultate überblicken. Was ich entziffert, waren offenbar zwei merklich verschiedene Ent- würfe einer und derselben Arbeit. Die grauen Bogen waren der ältere und größere, die weißen Blättchen der jüngere und kleinere Entwurf des "Wozzeck" Der erste Entwurf enthielt etwa zwanzig Szenen, theils nur angedeutet, theils dürftig skizzirt, die wenigsten ausgeführt. Die Reihenfolge war ganz willkürlich; auf die Katastrophe folgte ein Stück der Exposition, darauf fand sich die Schlußßene angedeutet, dahinter jene Szene, mit der sich wohl die Dichtung eröffnen sollte u. s. w. u. s. w.
Die weißen Blättchen enthielten nur etwa zehn Szenen, gleich- falls ohne logische Reihenfolge, theils Ausführungen solcher Stellen, die sich in den grauen Bogen nur eben skizzirt finden, theils neue Fragmente. Diese Szenen des zweiten Entwurfs beziehen sich sämmt- lich auf die Katastrophe. Die Namen der Personen hat Büchner im zweiten Entwurfe geändert, bei einzelnen auch den Stand. So spukt im ersten Entwurfe ein Barbier, der dann im zweiten -- viel
das chemiſche Rezept zu, welches im Nürnberger "Germaniſchen Muſeum" zur Auffriſchung von Urkunden benützt wird. Man be- ſtreicht die betreffende Stelle zuerſt mit deſtillirtem Waſſer, dann mit Schwefel-Amoniak. Das Mittel erwies ſich als wirkſam, die verblaßten Strichelchen traten auf kurze Zeit wieder kohlſchwarz hervor, auch an ſolchen Stellen, wo mit freiem Auge kaum mehr die Spuren einer Schrift zu erſpähen waren. Aber da wies ſich eine neue Schwierigkeit: die Schriftzüge waren mikroſkopiſch klein; oft mehr als dreißig Worte auf die gewöhnliche Zeile. Ich mußte zur Loupe greifen. Aber ſelbſt mit bewaffnetem Auge und chemiſch präparirtem Papier ging es ſchwer genug. Denn Georg Büchner hatte, wenn er raſch ſchrieb, die unleſerlichſte Handſchrift, die man ſich denken kann; Alexander von Humboldts Hieroglyphen ſind im Vergleich mit Büchners Strichelchen eine kalligraphiſche Vorlage. Dazu kamen noch eigenthümliche Abbreviaturen u. ſ. w. Kurz, es war eine unſägliche Geduldprobe. Aber was ich entzifferte, war geeignet, mir immer wieder den Muth zu ſtählen. So copirte ich denn Zeile für Zeile, zuerſt die grauen Bogen, dann die weißen Blättchen.
Endlich war ich fertig und konnte die Reſultate überblicken. Was ich entziffert, waren offenbar zwei merklich verſchiedene Ent- würfe einer und derſelben Arbeit. Die grauen Bogen waren der ältere und größere, die weißen Blättchen der jüngere und kleinere Entwurf des "Wozzeck" Der erſte Entwurf enthielt etwa zwanzig Szenen, theils nur angedeutet, theils dürftig ſkizzirt, die wenigſten ausgeführt. Die Reihenfolge war ganz willkürlich; auf die Kataſtrophe folgte ein Stück der Expoſition, darauf fand ſich die Schlußſzene angedeutet, dahinter jene Szene, mit der ſich wohl die Dichtung eröffnen ſollte u. ſ. w. u. ſ. w.
Die weißen Blättchen enthielten nur etwa zehn Szenen, gleich- falls ohne logiſche Reihenfolge, theils Ausführungen ſolcher Stellen, die ſich in den grauen Bogen nur eben ſkizzirt finden, theils neue Fragmente. Dieſe Szenen des zweiten Entwurfs beziehen ſich ſämmt- lich auf die Kataſtrophe. Die Namen der Perſonen hat Büchner im zweiten Entwurfe geändert, bei einzelnen auch den Stand. So ſpukt im erſten Entwurfe ein Barbier, der dann im zweiten — viel
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0399"n="203"/>
das chemiſche Rezept zu, welches im Nürnberger "Germaniſchen<lb/>
Muſeum" zur Auffriſchung von Urkunden benützt wird. Man be-<lb/>ſtreicht die betreffende Stelle zuerſt mit deſtillirtem Waſſer, dann<lb/>
mit Schwefel-Amoniak. Das Mittel erwies ſich als wirkſam, die<lb/>
verblaßten Strichelchen traten auf kurze Zeit wieder kohlſchwarz<lb/>
hervor, auch an ſolchen Stellen, wo mit freiem Auge kaum mehr<lb/>
die Spuren einer Schrift zu erſpähen waren. Aber da wies ſich<lb/>
eine neue Schwierigkeit: die Schriftzüge waren mikroſkopiſch klein;<lb/>
oft mehr als dreißig Worte auf die gewöhnliche Zeile. Ich mußte<lb/>
zur Loupe greifen. Aber ſelbſt mit bewaffnetem Auge und chemiſch<lb/>
präparirtem Papier ging es ſchwer genug. Denn Georg Büchner<lb/>
hatte, wenn er raſch ſchrieb, die unleſerlichſte Handſchrift, die man<lb/>ſich denken kann; Alexander von Humboldts Hieroglyphen ſind im<lb/>
Vergleich mit Büchners Strichelchen eine kalligraphiſche Vorlage.<lb/>
Dazu kamen noch eigenthümliche Abbreviaturen u. ſ. w. Kurz, es<lb/>
war eine unſägliche Geduldprobe. Aber was ich entzifferte, war<lb/>
geeignet, mir immer wieder den Muth zu ſtählen. So copirte ich<lb/>
denn Zeile für Zeile, zuerſt die grauen Bogen, dann die weißen<lb/>
Blättchen.</p><lb/><p>Endlich war ich fertig und konnte die Reſultate überblicken.<lb/>
Was ich entziffert, waren offenbar zwei merklich verſchiedene Ent-<lb/>
würfe einer und derſelben Arbeit. Die grauen Bogen waren der<lb/>
ältere und größere, die weißen Blättchen der jüngere und kleinere<lb/>
Entwurf des "Wozzeck" Der erſte Entwurf enthielt etwa zwanzig<lb/>
Szenen, theils nur angedeutet, theils dürftig ſkizzirt, die wenigſten<lb/>
ausgeführt. Die Reihenfolge war ganz willkürlich; auf die<lb/>
Kataſtrophe folgte ein Stück der Expoſition, darauf fand ſich die<lb/>
Schlußſzene angedeutet, dahinter jene Szene, mit der ſich wohl die<lb/>
Dichtung eröffnen ſollte u. ſ. w. u. ſ. w.</p><lb/><p>Die weißen Blättchen enthielten nur etwa zehn Szenen, gleich-<lb/>
falls ohne logiſche Reihenfolge, theils Ausführungen ſolcher Stellen,<lb/>
die ſich in den grauen Bogen nur eben ſkizzirt finden, theils neue<lb/>
Fragmente. Dieſe Szenen des zweiten Entwurfs beziehen ſich ſämmt-<lb/>
lich auf die Kataſtrophe. Die Namen der Perſonen hat Büchner<lb/>
im zweiten Entwurfe geändert, bei einzelnen auch den Stand. So<lb/>ſpukt im erſten Entwurfe ein Barbier, der dann im zweiten — viel<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[203/0399]
das chemiſche Rezept zu, welches im Nürnberger "Germaniſchen
Muſeum" zur Auffriſchung von Urkunden benützt wird. Man be-
ſtreicht die betreffende Stelle zuerſt mit deſtillirtem Waſſer, dann
mit Schwefel-Amoniak. Das Mittel erwies ſich als wirkſam, die
verblaßten Strichelchen traten auf kurze Zeit wieder kohlſchwarz
hervor, auch an ſolchen Stellen, wo mit freiem Auge kaum mehr
die Spuren einer Schrift zu erſpähen waren. Aber da wies ſich
eine neue Schwierigkeit: die Schriftzüge waren mikroſkopiſch klein;
oft mehr als dreißig Worte auf die gewöhnliche Zeile. Ich mußte
zur Loupe greifen. Aber ſelbſt mit bewaffnetem Auge und chemiſch
präparirtem Papier ging es ſchwer genug. Denn Georg Büchner
hatte, wenn er raſch ſchrieb, die unleſerlichſte Handſchrift, die man
ſich denken kann; Alexander von Humboldts Hieroglyphen ſind im
Vergleich mit Büchners Strichelchen eine kalligraphiſche Vorlage.
Dazu kamen noch eigenthümliche Abbreviaturen u. ſ. w. Kurz, es
war eine unſägliche Geduldprobe. Aber was ich entzifferte, war
geeignet, mir immer wieder den Muth zu ſtählen. So copirte ich
denn Zeile für Zeile, zuerſt die grauen Bogen, dann die weißen
Blättchen.
Endlich war ich fertig und konnte die Reſultate überblicken.
Was ich entziffert, waren offenbar zwei merklich verſchiedene Ent-
würfe einer und derſelben Arbeit. Die grauen Bogen waren der
ältere und größere, die weißen Blättchen der jüngere und kleinere
Entwurf des "Wozzeck" Der erſte Entwurf enthielt etwa zwanzig
Szenen, theils nur angedeutet, theils dürftig ſkizzirt, die wenigſten
ausgeführt. Die Reihenfolge war ganz willkürlich; auf die
Kataſtrophe folgte ein Stück der Expoſition, darauf fand ſich die
Schlußſzene angedeutet, dahinter jene Szene, mit der ſich wohl die
Dichtung eröffnen ſollte u. ſ. w. u. ſ. w.
Die weißen Blättchen enthielten nur etwa zehn Szenen, gleich-
falls ohne logiſche Reihenfolge, theils Ausführungen ſolcher Stellen,
die ſich in den grauen Bogen nur eben ſkizzirt finden, theils neue
Fragmente. Dieſe Szenen des zweiten Entwurfs beziehen ſich ſämmt-
lich auf die Kataſtrophe. Die Namen der Perſonen hat Büchner
im zweiten Entwurfe geändert, bei einzelnen auch den Stand. So
ſpukt im erſten Entwurfe ein Barbier, der dann im zweiten — viel
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/399>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.