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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

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das chemische Rezept zu, welches im Nürnberger "Germanischen
Museum" zur Auffrischung von Urkunden benützt wird. Man be-
streicht die betreffende Stelle zuerst mit destillirtem Wasser, dann
mit Schwefel-Amoniak. Das Mittel erwies sich als wirksam, die
verblaßten Strichelchen traten auf kurze Zeit wieder kohlschwarz
hervor, auch an solchen Stellen, wo mit freiem Auge kaum mehr
die Spuren einer Schrift zu erspähen waren. Aber da wies sich
eine neue Schwierigkeit: die Schriftzüge waren mikroskopisch klein;
oft mehr als dreißig Worte auf die gewöhnliche Zeile. Ich mußte
zur Loupe greifen. Aber selbst mit bewaffnetem Auge und chemisch
präparirtem Papier ging es schwer genug. Denn Georg Büchner
hatte, wenn er rasch schrieb, die unleserlichste Handschrift, die man
sich denken kann; Alexander von Humboldts Hieroglyphen sind im
Vergleich mit Büchners Strichelchen eine kalligraphische Vorlage.
Dazu kamen noch eigenthümliche Abbreviaturen u. s. w. Kurz, es
war eine unsägliche Geduldprobe. Aber was ich entzifferte, war
geeignet, mir immer wieder den Muth zu stählen. So copirte ich
denn Zeile für Zeile, zuerst die grauen Bogen, dann die weißen
Blättchen.

Endlich war ich fertig und konnte die Resultate überblicken.
Was ich entziffert, waren offenbar zwei merklich verschiedene Ent-
würfe einer und derselben Arbeit. Die grauen Bogen waren der
ältere und größere, die weißen Blättchen der jüngere und kleinere
Entwurf des "Wozzeck" Der erste Entwurf enthielt etwa zwanzig
Szenen, theils nur angedeutet, theils dürftig skizzirt, die wenigsten
ausgeführt. Die Reihenfolge war ganz willkürlich; auf die
Katastrophe folgte ein Stück der Exposition, darauf fand sich die
Schlußßene angedeutet, dahinter jene Szene, mit der sich wohl die
Dichtung eröffnen sollte u. s. w. u. s. w.

Die weißen Blättchen enthielten nur etwa zehn Szenen, gleich-
falls ohne logische Reihenfolge, theils Ausführungen solcher Stellen,
die sich in den grauen Bogen nur eben skizzirt finden, theils neue
Fragmente. Diese Szenen des zweiten Entwurfs beziehen sich sämmt-
lich auf die Katastrophe. Die Namen der Personen hat Büchner
im zweiten Entwurfe geändert, bei einzelnen auch den Stand. So
spukt im ersten Entwurfe ein Barbier, der dann im zweiten -- viel

das chemiſche Rezept zu, welches im Nürnberger "Germaniſchen
Muſeum" zur Auffriſchung von Urkunden benützt wird. Man be-
ſtreicht die betreffende Stelle zuerſt mit deſtillirtem Waſſer, dann
mit Schwefel-Amoniak. Das Mittel erwies ſich als wirkſam, die
verblaßten Strichelchen traten auf kurze Zeit wieder kohlſchwarz
hervor, auch an ſolchen Stellen, wo mit freiem Auge kaum mehr
die Spuren einer Schrift zu erſpähen waren. Aber da wies ſich
eine neue Schwierigkeit: die Schriftzüge waren mikroſkopiſch klein;
oft mehr als dreißig Worte auf die gewöhnliche Zeile. Ich mußte
zur Loupe greifen. Aber ſelbſt mit bewaffnetem Auge und chemiſch
präparirtem Papier ging es ſchwer genug. Denn Georg Büchner
hatte, wenn er raſch ſchrieb, die unleſerlichſte Handſchrift, die man
ſich denken kann; Alexander von Humboldts Hieroglyphen ſind im
Vergleich mit Büchners Strichelchen eine kalligraphiſche Vorlage.
Dazu kamen noch eigenthümliche Abbreviaturen u. ſ. w. Kurz, es
war eine unſägliche Geduldprobe. Aber was ich entzifferte, war
geeignet, mir immer wieder den Muth zu ſtählen. So copirte ich
denn Zeile für Zeile, zuerſt die grauen Bogen, dann die weißen
Blättchen.

Endlich war ich fertig und konnte die Reſultate überblicken.
Was ich entziffert, waren offenbar zwei merklich verſchiedene Ent-
würfe einer und derſelben Arbeit. Die grauen Bogen waren der
ältere und größere, die weißen Blättchen der jüngere und kleinere
Entwurf des "Wozzeck" Der erſte Entwurf enthielt etwa zwanzig
Szenen, theils nur angedeutet, theils dürftig ſkizzirt, die wenigſten
ausgeführt. Die Reihenfolge war ganz willkürlich; auf die
Kataſtrophe folgte ein Stück der Expoſition, darauf fand ſich die
Schlußſzene angedeutet, dahinter jene Szene, mit der ſich wohl die
Dichtung eröffnen ſollte u. ſ. w. u. ſ. w.

Die weißen Blättchen enthielten nur etwa zehn Szenen, gleich-
falls ohne logiſche Reihenfolge, theils Ausführungen ſolcher Stellen,
die ſich in den grauen Bogen nur eben ſkizzirt finden, theils neue
Fragmente. Dieſe Szenen des zweiten Entwurfs beziehen ſich ſämmt-
lich auf die Kataſtrophe. Die Namen der Perſonen hat Büchner
im zweiten Entwurfe geändert, bei einzelnen auch den Stand. So
ſpukt im erſten Entwurfe ein Barbier, der dann im zweiten — viel

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[203/0399] das chemiſche Rezept zu, welches im Nürnberger "Germaniſchen Muſeum" zur Auffriſchung von Urkunden benützt wird. Man be- ſtreicht die betreffende Stelle zuerſt mit deſtillirtem Waſſer, dann mit Schwefel-Amoniak. Das Mittel erwies ſich als wirkſam, die verblaßten Strichelchen traten auf kurze Zeit wieder kohlſchwarz hervor, auch an ſolchen Stellen, wo mit freiem Auge kaum mehr die Spuren einer Schrift zu erſpähen waren. Aber da wies ſich eine neue Schwierigkeit: die Schriftzüge waren mikroſkopiſch klein; oft mehr als dreißig Worte auf die gewöhnliche Zeile. Ich mußte zur Loupe greifen. Aber ſelbſt mit bewaffnetem Auge und chemiſch präparirtem Papier ging es ſchwer genug. Denn Georg Büchner hatte, wenn er raſch ſchrieb, die unleſerlichſte Handſchrift, die man ſich denken kann; Alexander von Humboldts Hieroglyphen ſind im Vergleich mit Büchners Strichelchen eine kalligraphiſche Vorlage. Dazu kamen noch eigenthümliche Abbreviaturen u. ſ. w. Kurz, es war eine unſägliche Geduldprobe. Aber was ich entzifferte, war geeignet, mir immer wieder den Muth zu ſtählen. So copirte ich denn Zeile für Zeile, zuerſt die grauen Bogen, dann die weißen Blättchen. Endlich war ich fertig und konnte die Reſultate überblicken. Was ich entziffert, waren offenbar zwei merklich verſchiedene Ent- würfe einer und derſelben Arbeit. Die grauen Bogen waren der ältere und größere, die weißen Blättchen der jüngere und kleinere Entwurf des "Wozzeck" Der erſte Entwurf enthielt etwa zwanzig Szenen, theils nur angedeutet, theils dürftig ſkizzirt, die wenigſten ausgeführt. Die Reihenfolge war ganz willkürlich; auf die Kataſtrophe folgte ein Stück der Expoſition, darauf fand ſich die Schlußſzene angedeutet, dahinter jene Szene, mit der ſich wohl die Dichtung eröffnen ſollte u. ſ. w. u. ſ. w. Die weißen Blättchen enthielten nur etwa zehn Szenen, gleich- falls ohne logiſche Reihenfolge, theils Ausführungen ſolcher Stellen, die ſich in den grauen Bogen nur eben ſkizzirt finden, theils neue Fragmente. Dieſe Szenen des zweiten Entwurfs beziehen ſich ſämmt- lich auf die Kataſtrophe. Die Namen der Perſonen hat Büchner im zweiten Entwurfe geändert, bei einzelnen auch den Stand. So ſpukt im erſten Entwurfe ein Barbier, der dann im zweiten — viel

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Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/399>, abgerufen am 22.11.2024.