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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

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sonnenheit seine Ideen abzurunden und zu krystallisiren." --
Sein inniges, fast schwärmerisches Zusammenleben mit der
Natur, deren Geheimnisse zu ergründen sein Studium war,
und die er mit dem doppelten Auge des Dichters und
Forschers betrachtete, spricht nicht minder für die Weichheit
seiner Seele. Tagelang streifte er in den schönen Gebirgen
des Elsaß umher, gleich seinem "Lenz", und schien gleich
ihm mit seiner Umgebung zu verwachsen, sich in sie auf-
zulösen.

"Du hast ein Auge der Natur genommen,
Das ihr in ihre tiefste Seele sah."

singt Herwegh. In Lenzen's Leben und Sein fühlte er ver-
wandte Seelenzustände, und das Fragment ist halb und halb
des Dichters eigenes Porträt. Sonderbar und auffallend
ist dabei die schwermüthige und zerrissene Gemüthsstimmung,
in die er sich mit einer gewissen Lust am Wehe hineinzu-
wühlen schien; immer spielt seine Phantasie, wie auch schon
früher in "Danton", am Liebsten mit Tod und Verwesung,
mit der raschen Vergänglichkeit des Irdischen.

Diese gemüthliche und tiefsinnige Seite seines Charakters,
verbunden mit seinem Hasse gegen die sogenannte ideali-
stische Richtung in der Literatur, hatte ihn ihm eine große
Vorliebe für Volkslieder, namentlich mehr schmerzlichen
Inhalts, erzeugt; er sammelte sie, wo er konnte, und das
Trauerspiel-Fragment, dessen wir Erwähnung thaten, enthält
deren fast auf jeder Seite. Lenzen läßt er darüber ausführ-
lich reden. Dieselbe Stelle im "Lenz" gibt zugleich eine
Darlegung seiner Ansichten über die Grundregeln der Aesthetik
und deren Beziehungen zur Wirklichkeit und zum Leben; seine
darin ausgesprochene Hinneigung zum Natürlichen, seine

ſonnenheit ſeine Ideen abzurunden und zu kryſtalliſiren." —
Sein inniges, faſt ſchwärmeriſches Zuſammenleben mit der
Natur, deren Geheimniſſe zu ergründen ſein Studium war,
und die er mit dem doppelten Auge des Dichters und
Forſchers betrachtete, ſpricht nicht minder für die Weichheit
ſeiner Seele. Tagelang ſtreifte er in den ſchönen Gebirgen
des Elſaß umher, gleich ſeinem "Lenz", und ſchien gleich
ihm mit ſeiner Umgebung zu verwachſen, ſich in ſie auf-
zulöſen.

"Du haſt ein Auge der Natur genommen,
Das ihr in ihre tiefſte Seele ſah."

ſingt Herwegh. In Lenzen's Leben und Sein fühlte er ver-
wandte Seelenzuſtände, und das Fragment iſt halb und halb
des Dichters eigenes Porträt. Sonderbar und auffallend
iſt dabei die ſchwermüthige und zerriſſene Gemüthsſtimmung,
in die er ſich mit einer gewiſſen Luſt am Wehe hineinzu-
wühlen ſchien; immer ſpielt ſeine Phantaſie, wie auch ſchon
früher in "Danton", am Liebſten mit Tod und Verweſung,
mit der raſchen Vergänglichkeit des Irdiſchen.

Dieſe gemüthliche und tiefſinnige Seite ſeines Charakters,
verbunden mit ſeinem Haſſe gegen die ſogenannte ideali-
ſtiſche Richtung in der Literatur, hatte ihn ihm eine große
Vorliebe für Volkslieder, namentlich mehr ſchmerzlichen
Inhalts, erzeugt; er ſammelte ſie, wo er konnte, und das
Trauerſpiel-Fragment, deſſen wir Erwähnung thaten, enthält
deren faſt auf jeder Seite. Lenzen läßt er darüber ausführ-
lich reden. Dieſelbe Stelle im "Lenz" gibt zugleich eine
Darlegung ſeiner Anſichten über die Grundregeln der Aeſthetik
und deren Beziehungen zur Wirklichkeit und zum Leben; ſeine
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[CLXXVIII/0194] ſonnenheit ſeine Ideen abzurunden und zu kryſtalliſiren." — Sein inniges, faſt ſchwärmeriſches Zuſammenleben mit der Natur, deren Geheimniſſe zu ergründen ſein Studium war, und die er mit dem doppelten Auge des Dichters und Forſchers betrachtete, ſpricht nicht minder für die Weichheit ſeiner Seele. Tagelang ſtreifte er in den ſchönen Gebirgen des Elſaß umher, gleich ſeinem "Lenz", und ſchien gleich ihm mit ſeiner Umgebung zu verwachſen, ſich in ſie auf- zulöſen. "Du haſt ein Auge der Natur genommen, Das ihr in ihre tiefſte Seele ſah." ſingt Herwegh. In Lenzen's Leben und Sein fühlte er ver- wandte Seelenzuſtände, und das Fragment iſt halb und halb des Dichters eigenes Porträt. Sonderbar und auffallend iſt dabei die ſchwermüthige und zerriſſene Gemüthsſtimmung, in die er ſich mit einer gewiſſen Luſt am Wehe hineinzu- wühlen ſchien; immer ſpielt ſeine Phantaſie, wie auch ſchon früher in "Danton", am Liebſten mit Tod und Verweſung, mit der raſchen Vergänglichkeit des Irdiſchen. Dieſe gemüthliche und tiefſinnige Seite ſeines Charakters, verbunden mit ſeinem Haſſe gegen die ſogenannte ideali- ſtiſche Richtung in der Literatur, hatte ihn ihm eine große Vorliebe für Volkslieder, namentlich mehr ſchmerzlichen Inhalts, erzeugt; er ſammelte ſie, wo er konnte, und das Trauerſpiel-Fragment, deſſen wir Erwähnung thaten, enthält deren faſt auf jeder Seite. Lenzen läßt er darüber ausführ- lich reden. Dieſelbe Stelle im "Lenz" gibt zugleich eine Darlegung ſeiner Anſichten über die Grundregeln der Aeſthetik und deren Beziehungen zur Wirklichkeit und zum Leben; ſeine darin ausgeſprochene Hinneigung zum Natürlichen, ſeine

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Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. CLXXVIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/194>, abgerufen am 23.11.2024.