Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

oder Kinderliebe ohne Wohlwollen, rührende moralische
Gefühle bei den größten Verbrechern etc.) lassen sich auf gar
keine andere Weise, als in Folge jenes natürlichen Zwanges
erklären. -- Und was ist denn nun endlich diese geistige
Jndividualität, welche so bestimmend auf den Menschen
einwirkt, und ihm in jedem einzelnen Falle, abgesehen
von weiter hinzutretenden äußeren Momenten, seine Hand-
lungsweise mit einer solchen Stärke vorschreibt, daß nur
ein äußerst kleiner Spielraum für seine freie Wahl bleibt,
was ist diese Jndividualität anders, als das nothwendige
Produkt angeborener Anlagen, in Verbindung mit Er-
ziehung, Lehre, Beispiel, Stand, Vermögen, Geschlecht,
Nationalität, Klima, Boden, Zeitumständen u. s. w.?
Demselben Gesetz, dem Pflanzen und Thiere unterliegen,
unterliegt auch der Mensch, ein Gesetz, dessen markirten
Zügen wir bereits in der Vorwelt begegnet sind. Wie
die Pflanze nach Existenz, sowie nach Größe, Gestalt
und Schönheit von dem Boden abhängig ist, in dem sie
wurzelt, wie das Thier klein oder groß, zahm oder wild,
schön oder häßlich ist, je nach den äußeren Umständen,
unter denen es aufwuchs, wie ein Entozoe jedesmal
ein anderer wird, wenn er in das Jnnere eines andern
Thieres gelangt, so ist der Mensch nicht minder physisch
und geistig ein Produkt solcher äußeren Umstände, Zu-
fälligkeiten, Anlagen, und wird auf diese Weise nicht
jenes geistig unabhängige, freiwählende Wesen, als wel-

oder Kinderliebe ohne Wohlwollen, rührende moraliſche
Gefühle bei den größten Verbrechern ꝛc.) laſſen ſich auf gar
keine andere Weiſe, als in Folge jenes natürlichen Zwanges
erklären. — Und was iſt denn nun endlich dieſe geiſtige
Jndividualität, welche ſo beſtimmend auf den Menſchen
einwirkt, und ihm in jedem einzelnen Falle, abgeſehen
von weiter hinzutretenden äußeren Momenten, ſeine Hand-
lungsweiſe mit einer ſolchen Stärke vorſchreibt, daß nur
ein äußerſt kleiner Spielraum für ſeine freie Wahl bleibt,
was iſt dieſe Jndividualität anders, als das nothwendige
Produkt angeborener Anlagen, in Verbindung mit Er-
ziehung, Lehre, Beiſpiel, Stand, Vermögen, Geſchlecht,
Nationalität, Klima, Boden, Zeitumſtänden u. ſ. w.?
Demſelben Geſetz, dem Pflanzen und Thiere unterliegen,
unterliegt auch der Menſch, ein Geſetz, deſſen markirten
Zügen wir bereits in der Vorwelt begegnet ſind. Wie
die Pflanze nach Exiſtenz, ſowie nach Größe, Geſtalt
und Schönheit von dem Boden abhängig iſt, in dem ſie
wurzelt, wie das Thier klein oder groß, zahm oder wild,
ſchön oder häßlich iſt, je nach den äußeren Umſtänden,
unter denen es aufwuchs, wie ein Entozoë jedesmal
ein anderer wird, wenn er in das Jnnere eines andern
Thieres gelangt, ſo iſt der Menſch nicht minder phyſiſch
und geiſtig ein Produkt ſolcher äußeren Umſtände, Zu-
fälligkeiten, Anlagen, und wird auf dieſe Weiſe nicht
jenes geiſtig unabhängige, freiwählende Weſen, als wel-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0271" n="251"/>
oder Kinderliebe ohne Wohlwollen, rührende morali&#x017F;che<lb/>
Gefühle bei den größten Verbrechern &#xA75B;c.) la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich auf gar<lb/>
keine andere Wei&#x017F;e, als in Folge jenes natürlichen Zwanges<lb/>
erklären. &#x2014; Und was i&#x017F;t denn nun endlich die&#x017F;e gei&#x017F;tige<lb/>
Jndividualität, welche &#x017F;o be&#x017F;timmend auf den Men&#x017F;chen<lb/>
einwirkt, und ihm in jedem einzelnen Falle, abge&#x017F;ehen<lb/>
von weiter hinzutretenden äußeren Momenten, &#x017F;eine Hand-<lb/>
lungswei&#x017F;e mit einer &#x017F;olchen Stärke vor&#x017F;chreibt, daß nur<lb/>
ein äußer&#x017F;t kleiner Spielraum für &#x017F;eine freie Wahl bleibt,<lb/>
was i&#x017F;t die&#x017F;e Jndividualität anders, als das nothwendige<lb/>
Produkt angeborener Anlagen, in Verbindung mit Er-<lb/>
ziehung, Lehre, Bei&#x017F;piel, Stand, Vermögen, Ge&#x017F;chlecht,<lb/>
Nationalität, Klima, Boden, Zeitum&#x017F;tänden u. &#x017F;. w.?<lb/>
Dem&#x017F;elben Ge&#x017F;etz, dem Pflanzen und Thiere unterliegen,<lb/>
unterliegt auch der Men&#x017F;ch, ein Ge&#x017F;etz, de&#x017F;&#x017F;en markirten<lb/>
Zügen wir bereits in der Vorwelt begegnet &#x017F;ind. Wie<lb/>
die Pflanze nach Exi&#x017F;tenz, &#x017F;owie nach Größe, Ge&#x017F;talt<lb/>
und Schönheit von dem Boden abhängig i&#x017F;t, in dem &#x017F;ie<lb/>
wurzelt, wie das Thier klein oder groß, zahm oder wild,<lb/>
&#x017F;chön oder häßlich i&#x017F;t, je nach den äußeren Um&#x017F;tänden,<lb/>
unter denen es aufwuchs, wie ein <hi rendition="#g">Entozo<hi rendition="#aq">ë</hi></hi> jedesmal<lb/>
ein anderer wird, wenn er in das Jnnere eines andern<lb/>
Thieres gelangt, &#x017F;o i&#x017F;t der Men&#x017F;ch nicht minder phy&#x017F;i&#x017F;ch<lb/>
und gei&#x017F;tig ein Produkt &#x017F;olcher äußeren Um&#x017F;tände, Zu-<lb/>
fälligkeiten, Anlagen, und wird auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e nicht<lb/>
jenes gei&#x017F;tig unabhängige, freiwählende We&#x017F;en, als wel-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[251/0271] oder Kinderliebe ohne Wohlwollen, rührende moraliſche Gefühle bei den größten Verbrechern ꝛc.) laſſen ſich auf gar keine andere Weiſe, als in Folge jenes natürlichen Zwanges erklären. — Und was iſt denn nun endlich dieſe geiſtige Jndividualität, welche ſo beſtimmend auf den Menſchen einwirkt, und ihm in jedem einzelnen Falle, abgeſehen von weiter hinzutretenden äußeren Momenten, ſeine Hand- lungsweiſe mit einer ſolchen Stärke vorſchreibt, daß nur ein äußerſt kleiner Spielraum für ſeine freie Wahl bleibt, was iſt dieſe Jndividualität anders, als das nothwendige Produkt angeborener Anlagen, in Verbindung mit Er- ziehung, Lehre, Beiſpiel, Stand, Vermögen, Geſchlecht, Nationalität, Klima, Boden, Zeitumſtänden u. ſ. w.? Demſelben Geſetz, dem Pflanzen und Thiere unterliegen, unterliegt auch der Menſch, ein Geſetz, deſſen markirten Zügen wir bereits in der Vorwelt begegnet ſind. Wie die Pflanze nach Exiſtenz, ſowie nach Größe, Geſtalt und Schönheit von dem Boden abhängig iſt, in dem ſie wurzelt, wie das Thier klein oder groß, zahm oder wild, ſchön oder häßlich iſt, je nach den äußeren Umſtänden, unter denen es aufwuchs, wie ein Entozoë jedesmal ein anderer wird, wenn er in das Jnnere eines andern Thieres gelangt, ſo iſt der Menſch nicht minder phyſiſch und geiſtig ein Produkt ſolcher äußeren Umſtände, Zu- fälligkeiten, Anlagen, und wird auf dieſe Weiſe nicht jenes geiſtig unabhängige, freiwählende Weſen, als wel-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/271
Zitationshilfe: Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/271>, abgerufen am 22.11.2024.