solle -- eine jedem natürlichen Gefühl hohnsprechende Verordnung. Wer aber diese Lehre praktisch befolgen wollte, den würde man für einen Schwärmer oder einen Verrückten halten. Jn ähnlicher Weise ließe sich wohl an jedem einzelnen Hauptgebote der Moral seine innere Haltlosigkeit und sein Mangel an absolutem Werth nach- weisen. Scheint uns dennoch auf den ersten Anblick etwas Festes oder Unverrückbares darin zu liegen, so liegt die Schuld hiervon in der bestimmten Form jener gesetzlichen Vorschriften, welche die menschliche Gesell- schaft zu ihrer Selbsterhaltung nothwendig erachtet und nach und nach erfahrungsgemäß festgestellt hat. Aber auch diese Vorschriften sind äußerst schwankend nach Ver- hältniß äußerer Umstände, verschiedener Zeiten und An- sichten. Die Tödtung einer ungebornen Frucht schien den Römern eine nicht im geringsten gegen die Moral verstoßende Sache; heute hat man dafür strenge Stra- fen. Eine Menge Dinge, welche die Sitte heute als abscheulich brandmarkt, fand man früher ganz in der Ordnung u. s. w. Erziehung, Lehre, Beispiel machen uns Tag für Tag mit diesen Vorschriften bekannt und verleiten uns, an ein angeborenes Sittengesetz zu glau- ben, dessen einzelne Bestandtheile sich bei näherer Be- trachtung als Paragraphen des Strafgesetzbuchs erweisen. Dabei besteht dennoch ein sehr großer Unterschied zwi- schen den Gesetzen des Staates, der Sitte, der Religion
ſolle — eine jedem natürlichen Gefühl hohnſprechende Verordnung. Wer aber dieſe Lehre praktiſch befolgen wollte, den würde man für einen Schwärmer oder einen Verrückten halten. Jn ähnlicher Weiſe ließe ſich wohl an jedem einzelnen Hauptgebote der Moral ſeine innere Haltloſigkeit und ſein Mangel an abſolutem Werth nach- weiſen. Scheint uns dennoch auf den erſten Anblick etwas Feſtes oder Unverrückbares darin zu liegen, ſo liegt die Schuld hiervon in der beſtimmten Form jener geſetzlichen Vorſchriften, welche die menſchliche Geſell- ſchaft zu ihrer Selbſterhaltung nothwendig erachtet und nach und nach erfahrungsgemäß feſtgeſtellt hat. Aber auch dieſe Vorſchriften ſind äußerſt ſchwankend nach Ver- hältniß äußerer Umſtände, verſchiedener Zeiten und An- ſichten. Die Tödtung einer ungebornen Frucht ſchien den Römern eine nicht im geringſten gegen die Moral verſtoßende Sache; heute hat man dafür ſtrenge Stra- fen. Eine Menge Dinge, welche die Sitte heute als abſcheulich brandmarkt, fand man früher ganz in der Ordnung u. ſ. w. Erziehung, Lehre, Beiſpiel machen uns Tag für Tag mit dieſen Vorſchriften bekannt und verleiten uns, an ein angeborenes Sittengeſetz zu glau- ben, deſſen einzelne Beſtandtheile ſich bei näherer Be- trachtung als Paragraphen des Strafgeſetzbuchs erweiſen. Dabei beſteht dennoch ein ſehr großer Unterſchied zwi- ſchen den Geſetzen des Staates, der Sitte, der Religion
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ſolle — eine jedem natürlichen Gefühl hohnſprechende
Verordnung. Wer aber dieſe Lehre praktiſch befolgen
wollte, den würde man für einen Schwärmer oder einen
Verrückten halten. Jn ähnlicher Weiſe ließe ſich wohl
an jedem einzelnen Hauptgebote der Moral ſeine innere
Haltloſigkeit und ſein Mangel an abſolutem Werth nach-
weiſen. Scheint uns dennoch auf den erſten Anblick
etwas Feſtes oder Unverrückbares darin zu liegen, ſo
liegt die Schuld hiervon in der beſtimmten Form jener
geſetzlichen Vorſchriften, welche die menſchliche Geſell-
ſchaft zu ihrer Selbſterhaltung nothwendig erachtet und
nach und nach erfahrungsgemäß feſtgeſtellt hat. Aber
auch dieſe Vorſchriften ſind äußerſt ſchwankend nach Ver-
hältniß äußerer Umſtände, verſchiedener Zeiten und An-
ſichten. Die Tödtung einer ungebornen Frucht ſchien
den Römern eine nicht im geringſten gegen die Moral
verſtoßende Sache; heute hat man dafür ſtrenge Stra-
fen. Eine Menge Dinge, welche die Sitte heute als
abſcheulich brandmarkt, fand man früher ganz in der
Ordnung u. ſ. w. Erziehung, Lehre, Beiſpiel machen
uns Tag für Tag mit dieſen Vorſchriften bekannt und
verleiten uns, an ein angeborenes Sittengeſetz zu glau-
ben, deſſen einzelne Beſtandtheile ſich bei näherer Be-
trachtung als Paragraphen des Strafgeſetzbuchs erweiſen.
Dabei beſteht dennoch ein ſehr großer Unterſchied zwi-
ſchen den Geſetzen des Staates, der Sitte, der Religion
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Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/266>, abgerufen am 22.11.2024.
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