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Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855.

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möglich werden sollte, sich dem Einfluß und dem Wirken
der allgemeinen Naturgesetze zu entziehen, ein Gesetz für sich
zu bilden, einen Staat im Staate darzustellen. Wäre die
Wissenschaft genöthigt, eine solche Annahme anzuerkennen,
so fiele damit auch unser Satz von der Allgemeinheit
der Naturgesetze und von der Unveränderlichkeit der
mechanischen Weltordnung; wir müßten zugeben, daß eine
höhere Hand in den Gang des Natürlichen hineingreift
und Ausnahmsgesetze schafft, welche sich jeder Berechnung
entziehen; es wäre einen Riß in den natürlichen Bau
der Welt gemacht, die Wissenschaft müßte an sich selbst
verzweifeln, und es hörte, wie Ule sehr richtig bemerkt,
jede Natur-, wie Seelenforschung auf. Glücklicherweise
hat die Wissenschaft, anstatt sich in dieser Frage vor
dem unvernünftigen Andrängen der Dynamisten zurück-
ziehen zu müssen, überall über dieselben den glänzendsten
Sieg davongetragen und hat in den jüngsten Zeiten eine
Masse so eklatanter Thatsachen gehäuft, daß der Begriff
der "Lebenskraft" jetzt nur noch an den Grenzen der
exakten Naturforschung wie ein körperloser Schatten um-
geht und in den Köpfen Derjenigen spukt, welche hinter
der Wissenschaft zurück sind. Alle Diejenigen, welche sich
näher mit einem Zweige der Naturwissenschaften beschäf-
tigen, der das Gebiet der organischen Welt berührt, sind
heute beinahe einstimmig in ihrem Urtheile über die Le-
benskraft, und selbst das Wort ist wissenschaftlich so un-

möglich werden ſollte, ſich dem Einfluß und dem Wirken
der allgemeinen Naturgeſetze zu entziehen, ein Geſetz für ſich
zu bilden, einen Staat im Staate darzuſtellen. Wäre die
Wiſſenſchaft genöthigt, eine ſolche Annahme anzuerkennen,
ſo fiele damit auch unſer Satz von der Allgemeinheit
der Naturgeſetze und von der Unveränderlichkeit der
mechaniſchen Weltordnung; wir müßten zugeben, daß eine
höhere Hand in den Gang des Natürlichen hineingreift
und Ausnahmsgeſetze ſchafft, welche ſich jeder Berechnung
entziehen; es wäre einen Riß in den natürlichen Bau
der Welt gemacht, die Wiſſenſchaft müßte an ſich ſelbſt
verzweifeln, und es hörte, wie Ule ſehr richtig bemerkt,
jede Natur-, wie Seelenforſchung auf. Glücklicherweiſe
hat die Wiſſenſchaft, anſtatt ſich in dieſer Frage vor
dem unvernünftigen Andrängen der Dynamiſten zurück-
ziehen zu müſſen, überall über dieſelben den glänzendſten
Sieg davongetragen und hat in den jüngſten Zeiten eine
Maſſe ſo eklatanter Thatſachen gehäuft, daß der Begriff
der „Lebenskraft‟ jetzt nur noch an den Grenzen der
exakten Naturforſchung wie ein körperloſer Schatten um-
geht und in den Köpfen Derjenigen ſpukt, welche hinter
der Wiſſenſchaft zurück ſind. Alle Diejenigen, welche ſich
näher mit einem Zweige der Naturwiſſenſchaften beſchäf-
tigen, der das Gebiet der organiſchen Welt berührt, ſind
heute beinahe einſtimmig in ihrem Urtheile über die Le-
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[216/0236] möglich werden ſollte, ſich dem Einfluß und dem Wirken der allgemeinen Naturgeſetze zu entziehen, ein Geſetz für ſich zu bilden, einen Staat im Staate darzuſtellen. Wäre die Wiſſenſchaft genöthigt, eine ſolche Annahme anzuerkennen, ſo fiele damit auch unſer Satz von der Allgemeinheit der Naturgeſetze und von der Unveränderlichkeit der mechaniſchen Weltordnung; wir müßten zugeben, daß eine höhere Hand in den Gang des Natürlichen hineingreift und Ausnahmsgeſetze ſchafft, welche ſich jeder Berechnung entziehen; es wäre einen Riß in den natürlichen Bau der Welt gemacht, die Wiſſenſchaft müßte an ſich ſelbſt verzweifeln, und es hörte, wie Ule ſehr richtig bemerkt, jede Natur-, wie Seelenforſchung auf. Glücklicherweiſe hat die Wiſſenſchaft, anſtatt ſich in dieſer Frage vor dem unvernünftigen Andrängen der Dynamiſten zurück- ziehen zu müſſen, überall über dieſelben den glänzendſten Sieg davongetragen und hat in den jüngſten Zeiten eine Maſſe ſo eklatanter Thatſachen gehäuft, daß der Begriff der „Lebenskraft‟ jetzt nur noch an den Grenzen der exakten Naturforſchung wie ein körperloſer Schatten um- geht und in den Köpfen Derjenigen ſpukt, welche hinter der Wiſſenſchaft zurück ſind. Alle Diejenigen, welche ſich näher mit einem Zweige der Naturwiſſenſchaften beſchäf- tigen, der das Gebiet der organiſchen Welt berührt, ſind heute beinahe einſtimmig in ihrem Urtheile über die Le- benskraft, und ſelbſt das Wort iſt wiſſenſchaftlich ſo un-

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Zitationshilfe: Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/236>, abgerufen am 24.11.2024.