deten in unserem Jahrhundert durchschnittlich von den Dogmen der Kirche entfernen, kann nur Derjenige rich- tig beurtheilen, welcher Gelegenheit hatte, die Menschen in ihrer innersten Häuslichkeit und Heimlichkeit und in verzweifelten Lagen des Lebens kennen zu lernen. Ein Solcher wird nicht selten Erfahrungen machen, die den herkömmlichen Ansichten sehr zuwiderlaufen. Verfasser hat an manchem Sterbebette gestanden und nichts von jenen gläubigen Exclamationen gehört, welche angeblich bei keinem Sterbenden fehlen sollen; im Gegentheil mußte er häufig erstaunen über Aeuße- rungen, welche ihm bewiesen, daß der Glaube an eine persönliche Fortdauer nach dem Tode entweder ein sehr schwacher oder gar nicht vorhandener war. "Wer kann", sagt Feuerbach sehr richtig, "wenn er anders ein Paar Augen im Kopfe hat, verkennen, daß der Glaube an in- dividuelle Fortdauer längst aus dem allgemeinen Leben verschwunden ist, daß er nur in der subjektiven Einbil- dung der Einzelnen, wenn auch Unzähliger, noch exi- stirt?" -- Wie sollte denn auch sonst die trotz allen Tröstungen der Religion unter den Menschen fortherr- schende Todesfurcht zu erklären sein, wie sollte es mög- lich sein, daß die Mehrzahl der Menschen den Tod als das größte Uebel ansieht, weil er der kurzen Freude des Daseins ein plötzliches Ende macht!
deten in unſerem Jahrhundert durchſchnittlich von den Dogmen der Kirche entfernen, kann nur Derjenige rich- tig beurtheilen, welcher Gelegenheit hatte, die Menſchen in ihrer innerſten Häuslichkeit und Heimlichkeit und in verzweifelten Lagen des Lebens kennen zu lernen. Ein Solcher wird nicht ſelten Erfahrungen machen, die den herkömmlichen Anſichten ſehr zuwiderlaufen. Verfaſſer hat an manchem Sterbebette geſtanden und nichts von jenen gläubigen Exclamationen gehört, welche angeblich bei keinem Sterbenden fehlen ſollen; im Gegentheil mußte er häufig erſtaunen über Aeuße- rungen, welche ihm bewieſen, daß der Glaube an eine perſönliche Fortdauer nach dem Tode entweder ein ſehr ſchwacher oder gar nicht vorhandener war. „Wer kann‟, ſagt Feuerbach ſehr richtig, „wenn er anders ein Paar Augen im Kopfe hat, verkennen, daß der Glaube an in- dividuelle Fortdauer längſt aus dem allgemeinen Leben verſchwunden iſt, daß er nur in der ſubjektiven Einbil- dung der Einzelnen, wenn auch Unzähliger, noch exi- ſtirt?‟ — Wie ſollte denn auch ſonſt die trotz allen Tröſtungen der Religion unter den Menſchen fortherr- ſchende Todesfurcht zu erklären ſein, wie ſollte es mög- lich ſein, daß die Mehrzahl der Menſchen den Tod als das größte Uebel anſieht, weil er der kurzen Freude des Daſeins ein plötzliches Ende macht!
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Dogmen der Kirche entfernen, kann nur Derjenige rich-
tig beurtheilen, welcher Gelegenheit hatte, die Menſchen
in ihrer innerſten Häuslichkeit und Heimlichkeit und in
verzweifelten Lagen des Lebens kennen zu lernen. Ein
Solcher wird nicht ſelten Erfahrungen machen, die den
herkömmlichen Anſichten ſehr zuwiderlaufen. Verfaſſer
hat an manchem Sterbebette geſtanden und nichts
von jenen gläubigen Exclamationen gehört, welche
angeblich bei keinem Sterbenden fehlen ſollen; im
Gegentheil mußte er häufig erſtaunen über Aeuße-
rungen, welche ihm bewieſen, daß der Glaube an eine
perſönliche Fortdauer nach dem Tode entweder ein ſehr
ſchwacher oder gar nicht vorhandener war. „Wer kann‟,
ſagt Feuerbach ſehr richtig, „wenn er anders ein Paar
Augen im Kopfe hat, verkennen, daß der Glaube an in-
dividuelle Fortdauer längſt aus dem allgemeinen Leben
verſchwunden iſt, daß er nur in der ſubjektiven Einbil-
dung der Einzelnen, wenn auch Unzähliger, noch exi-
ſtirt?‟ — Wie ſollte denn auch ſonſt die trotz allen
Tröſtungen der Religion unter den Menſchen fortherr-
ſchende Todesfurcht zu erklären ſein, wie ſollte es mög-
lich ſein, daß die Mehrzahl der Menſchen den Tod als
das größte Uebel anſieht, weil er der kurzen Freude des
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Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/232>, abgerufen am 22.11.2024.
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