verträgt sich etwas mit Vernunft und Erfahrung -- dann ist es wahr; oder es verträgt sich nicht -- dann ist es unwahr und kann vielleicht in kirchlichen, nicht aber in philosophischen Systemen eine Stelle finden. Mag sein, daß wir von vielen Räthseln umgeben sind -- mag sein, daß dies Herrn Carriere insbesondere sehr ungelegen ist -- mag sein, daß es vielleicht recht schön wäre, wenn im Himmel, wie im letzten Akt eines Rührdrama's, sich plötz- lich Alles in eine wehmüthige Harmonie oder allgemeine Freudigkeit und Aufklärung auflösen würde -- aber die Wissenschaft hat es nicht mit dem zu thun, was sein könnte, sondern mit dem, was ist; und darnach ist sie gezwungen, aus ihren zahlreichen Erfahrungen mit Nothwendigkeit den Schluß auf die Endlichkeit des Menschen zu ziehen. Ja eine vollständige Enthüllung der "Räthselhaftigkeit" des Weltganzen, wie sie Herr Carriere verlangt, also eine voll- kommene Erkenntniß muß für den menschlichen Geist aus inneren Gründen als eine Unmöglichkeit angesehen werden. Jn dem Augenblicke, da wir an diesem Punkte angelangt wären, würden wir Selbstschöpfer und im Stande sein, die Materie ganz nach unserem Willen zu lenken. Diese Erkenntniß aber wäre gleichbedeutend mit Auflösung, Vernichtung, Untergang, und kein Wesen existirt, wel- ches sie besitzen kann. Wo kein Streben, da kann auch kein Leben mehr sein; die volle Wahrheit wäre ein Todes- urtheil für den, der sie begriffen, und er müßte an Apathie
verträgt ſich etwas mit Vernunft und Erfahrung — dann iſt es wahr; oder es verträgt ſich nicht — dann iſt es unwahr und kann vielleicht in kirchlichen, nicht aber in philoſophiſchen Syſtemen eine Stelle finden. Mag ſein, daß wir von vielen Räthſeln umgeben ſind — mag ſein, daß dies Herrn Carrière insbeſondere ſehr ungelegen iſt — mag ſein, daß es vielleicht recht ſchön wäre, wenn im Himmel, wie im letzten Akt eines Rührdrama’s, ſich plötz- lich Alles in eine wehmüthige Harmonie oder allgemeine Freudigkeit und Aufklärung auflöſen würde — aber die Wiſſenſchaft hat es nicht mit dem zu thun, was ſein könnte, ſondern mit dem, was iſt; und darnach iſt ſie gezwungen, aus ihren zahlreichen Erfahrungen mit Nothwendigkeit den Schluß auf die Endlichkeit des Menſchen zu ziehen. Ja eine vollſtändige Enthüllung der „Räthſelhaftigkeit‟ des Weltganzen, wie ſie Herr Carrière verlangt, alſo eine voll- kommene Erkenntniß muß für den menſchlichen Geiſt aus inneren Gründen als eine Unmöglichkeit angeſehen werden. Jn dem Augenblicke, da wir an dieſem Punkte angelangt wären, würden wir Selbſtſchöpfer und im Stande ſein, die Materie ganz nach unſerem Willen zu lenken. Dieſe Erkenntniß aber wäre gleichbedeutend mit Auflöſung, Vernichtung, Untergang, und kein Weſen exiſtirt, wel- ches ſie beſitzen kann. Wo kein Streben, da kann auch kein Leben mehr ſein; die volle Wahrheit wäre ein Todes- urtheil für den, der ſie begriffen, und er müßte an Apathie
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verträgt ſich etwas mit Vernunft und Erfahrung — dann
iſt es wahr; oder es verträgt ſich nicht — dann iſt es
unwahr und kann vielleicht in kirchlichen, nicht aber in
philoſophiſchen Syſtemen eine Stelle finden. Mag ſein,
daß wir von vielen Räthſeln umgeben ſind — mag ſein,
daß dies Herrn Carrière insbeſondere ſehr ungelegen iſt
— mag ſein, daß es vielleicht recht ſchön wäre, wenn im
Himmel, wie im letzten Akt eines Rührdrama’s, ſich plötz-
lich Alles in eine wehmüthige Harmonie oder allgemeine
Freudigkeit und Aufklärung auflöſen würde — aber die
Wiſſenſchaft hat es nicht mit dem zu thun, was ſein könnte,
ſondern mit dem, was iſt; und darnach iſt ſie gezwungen,
aus ihren zahlreichen Erfahrungen mit Nothwendigkeit den
Schluß auf die Endlichkeit des Menſchen zu ziehen. Ja
eine vollſtändige Enthüllung der „Räthſelhaftigkeit‟ des
Weltganzen, wie ſie Herr Carrière verlangt, alſo eine voll-
kommene Erkenntniß muß für den menſchlichen Geiſt aus
inneren Gründen als eine Unmöglichkeit angeſehen werden.
Jn dem Augenblicke, da wir an dieſem Punkte angelangt
wären, würden wir Selbſtſchöpfer und im Stande ſein,
die Materie ganz nach unſerem Willen zu lenken. Dieſe
Erkenntniß aber wäre gleichbedeutend mit Auflöſung,
Vernichtung, Untergang, und kein Weſen exiſtirt, wel-
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Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/225>, abgerufen am 24.11.2024.
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