Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

wie fade Witzlinge behaupten. Die s. g. Acephalen oder
Kopflosen sind Kinder, welche mit einer s. g. rudimen-
tären (nur theilweisen) Gehirnbildung zur Welt kommen.
Diese erbärmlichen Geschöpfe, welche für das angeblich
zweckmäßige Handeln der Natur ein sehr ungünstiges Zeug-
niß ablegen, sind jeder geistigen Thätigkeit und Entwicklung
vollkommen unfähig und sterben bald; denn es fehlt ihnen
das wesentlichste Organ menschlichen Seins und Denkens.
"Gewisser ist daher Nichts," sagt selbst Lotze, "als
daß die physischen Zustände körperlicher Elemente ein
Reich von Bedingungen darstellen können, an welchen
Dasein und Form unserer geistigen Zustände mit Noth-
wendigkeit
hängt."

Mit dem Stoff schwindet der Gedanke!

"Warum," ruft Hamlet in der berühmten Kirchhof-
scene, "könnte das nicht der Schädel eines Rechtsgelehrten
sein? Wo sind nun seine Klauseln, seine Praktiken, seine
Fälle, seine Kniffe? Warum leidet er nun, daß dieser
grobe Flegel ihn mit einer schmutzigen Schaufel um den
Hirnkasten schlägt, und droht nicht, ihn wegen Thätlich-
keiten zu belangen?" -- "Wo sind nun deine Schwänke,
armer Yorick? deine Sprünge, deine Lieder, deine Blitze
von Lustigkeit, wobei die ganze Tafel in Lachen aus-
brach? Alles weggeschrumpft?"



wie fade Witzlinge behaupten. Die ſ. g. Acephalen oder
Kopfloſen ſind Kinder, welche mit einer ſ. g. rudimen-
tären (nur theilweiſen) Gehirnbildung zur Welt kommen.
Dieſe erbärmlichen Geſchöpfe, welche für das angeblich
zweckmäßige Handeln der Natur ein ſehr ungünſtiges Zeug-
niß ablegen, ſind jeder geiſtigen Thätigkeit und Entwicklung
vollkommen unfähig und ſterben bald; denn es fehlt ihnen
das weſentlichſte Organ menſchlichen Seins und Denkens.
„Gewiſſer iſt daher Nichts,‟ ſagt ſelbſt Lotze, „als
daß die phyſiſchen Zuſtände körperlicher Elemente ein
Reich von Bedingungen darſtellen können, an welchen
Daſein und Form unſerer geiſtigen Zuſtände mit Noth-
wendigkeit
hängt.‟

Mit dem Stoff ſchwindet der Gedanke!

„Warum,‟ ruft Hamlet in der berühmten Kirchhof-
ſcene, „könnte das nicht der Schädel eines Rechtsgelehrten
ſein? Wo ſind nun ſeine Klauſeln, ſeine Praktiken, ſeine
Fälle, ſeine Kniffe? Warum leidet er nun, daß dieſer
grobe Flegel ihn mit einer ſchmutzigen Schaufel um den
Hirnkaſten ſchlägt, und droht nicht, ihn wegen Thätlich-
keiten zu belangen?‟ — „Wo ſind nun deine Schwänke,
armer Yorick? deine Sprünge, deine Lieder, deine Blitze
von Luſtigkeit, wobei die ganze Tafel in Lachen aus-
brach? Alles weggeſchrumpft?‟



<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0174" n="154"/>
wie fade Witzlinge behaupten. Die &#x017F;. g. <hi rendition="#g">Acephalen</hi> oder<lb/>
Kopflo&#x017F;en &#x017F;ind Kinder, welche mit einer &#x017F;. g. rudimen-<lb/>
tären (nur theilwei&#x017F;en) Gehirnbildung zur Welt kommen.<lb/>
Die&#x017F;e erbärmlichen Ge&#x017F;chöpfe, welche für das angeblich<lb/>
zweckmäßige Handeln der Natur ein &#x017F;ehr ungün&#x017F;tiges Zeug-<lb/>
niß ablegen, &#x017F;ind jeder gei&#x017F;tigen Thätigkeit und Entwicklung<lb/>
vollkommen unfähig und &#x017F;terben bald; denn es fehlt ihnen<lb/>
das we&#x017F;entlich&#x017F;te Organ men&#x017F;chlichen Seins und Denkens.<lb/>
&#x201E;Gewi&#x017F;&#x017F;er i&#x017F;t daher Nichts,&#x201F; &#x017F;agt &#x017F;elb&#x017F;t <hi rendition="#g">Lotze,</hi> &#x201E;als<lb/>
daß die phy&#x017F;i&#x017F;chen Zu&#x017F;tände körperlicher Elemente ein<lb/>
Reich von Bedingungen dar&#x017F;tellen können, an welchen<lb/>
Da&#x017F;ein und Form un&#x017F;erer gei&#x017F;tigen Zu&#x017F;tände <hi rendition="#g">mit Noth-<lb/>
wendigkeit</hi> hängt.&#x201F;</p><lb/>
        <p>Mit dem Stoff &#x017F;chwindet der Gedanke!</p><lb/>
        <p>&#x201E;Warum,&#x201F; ruft <hi rendition="#g">Hamlet</hi> in der berühmten Kirchhof-<lb/>
&#x017F;cene, &#x201E;könnte das nicht der Schädel eines Rechtsgelehrten<lb/>
&#x017F;ein? Wo &#x017F;ind nun &#x017F;eine Klau&#x017F;eln, &#x017F;eine Praktiken, &#x017F;eine<lb/>
Fälle, &#x017F;eine Kniffe? Warum leidet er nun, daß die&#x017F;er<lb/>
grobe Flegel ihn mit einer &#x017F;chmutzigen Schaufel um den<lb/>
Hirnka&#x017F;ten &#x017F;chlägt, und droht nicht, ihn wegen Thätlich-<lb/>
keiten zu belangen?&#x201F; &#x2014; &#x201E;Wo &#x017F;ind nun deine Schwänke,<lb/>
armer Yorick? deine Sprünge, deine Lieder, deine Blitze<lb/>
von Lu&#x017F;tigkeit, wobei die ganze Tafel in Lachen aus-<lb/>
brach? Alles wegge&#x017F;chrumpft?&#x201F;</p>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[154/0174] wie fade Witzlinge behaupten. Die ſ. g. Acephalen oder Kopfloſen ſind Kinder, welche mit einer ſ. g. rudimen- tären (nur theilweiſen) Gehirnbildung zur Welt kommen. Dieſe erbärmlichen Geſchöpfe, welche für das angeblich zweckmäßige Handeln der Natur ein ſehr ungünſtiges Zeug- niß ablegen, ſind jeder geiſtigen Thätigkeit und Entwicklung vollkommen unfähig und ſterben bald; denn es fehlt ihnen das weſentlichſte Organ menſchlichen Seins und Denkens. „Gewiſſer iſt daher Nichts,‟ ſagt ſelbſt Lotze, „als daß die phyſiſchen Zuſtände körperlicher Elemente ein Reich von Bedingungen darſtellen können, an welchen Daſein und Form unſerer geiſtigen Zuſtände mit Noth- wendigkeit hängt.‟ Mit dem Stoff ſchwindet der Gedanke! „Warum,‟ ruft Hamlet in der berühmten Kirchhof- ſcene, „könnte das nicht der Schädel eines Rechtsgelehrten ſein? Wo ſind nun ſeine Klauſeln, ſeine Praktiken, ſeine Fälle, ſeine Kniffe? Warum leidet er nun, daß dieſer grobe Flegel ihn mit einer ſchmutzigen Schaufel um den Hirnkaſten ſchlägt, und droht nicht, ihn wegen Thätlich- keiten zu belangen?‟ — „Wo ſind nun deine Schwänke, armer Yorick? deine Sprünge, deine Lieder, deine Blitze von Luſtigkeit, wobei die ganze Tafel in Lachen aus- brach? Alles weggeſchrumpft?‟

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/174
Zitationshilfe: Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/174>, abgerufen am 04.05.2024.