in diesen 5 Leichen materiell-pathologische Veränderungen, wenn auch nicht sichtbar, doch vorhanden waren, be- zweifelt kein auf dem heutigen Standpunkte der Wissen- schaft angekommener Arzt. -- Körperliche Angriffe oder Verletzungen des Gehirns bringen oft wunderbare psy- chische Effecte hervor. So wird glaubhaft erzählt, daß ein schwer am Kopf verletzter Mann im Thomas-Spital in London nach seiner Genesung eine fremde Sprache redete. Diese Sprache war seine Walliser Muttersprache, welche er früher in seiner Heimath gesprochen, aber in London seit 30 Jahren verlernt hatte. Die Thatsachen der Pathologie, welche unsern Satz unterstützen oder be- weisen, sind so zahlreich und umfassend, daß man Bücher mit ihnen anfüllen könnte. Auch ist das Gewicht der- selben von denkenden Männern nie verkannt worden und selbst der täglichsten und einfachsten Beobachtung zu- gänglich. "Wenn das Blut", sagt Friedrich der Große in einem Briefe an Voltaire vom Jahre 1775, mit zu großer Heftigkeit im Gehirn kreist, wie bei Be- trunkenen oder in hitzigen Fiebern, verwirrt es, verkehrt es die Jdeen; wenn sich eine leichte Verstopfung in den Nerven des Gehirn's bildet, veranlaßt sie den Wahnsinn; wenn ein Wassertropfen sich in der Hirnschale ausbreitet, folgt der Verlust des Gedächtnisses; wenn ein Tropfen aus den Gefäßen getretenen Blutes das Gehirn und
in dieſen 5 Leichen materiell-pathologiſche Veränderungen, wenn auch nicht ſichtbar, doch vorhanden waren, be- zweifelt kein auf dem heutigen Standpunkte der Wiſſen- ſchaft angekommener Arzt. — Körperliche Angriffe oder Verletzungen des Gehirns bringen oft wunderbare pſy- chiſche Effecte hervor. So wird glaubhaft erzählt, daß ein ſchwer am Kopf verletzter Mann im Thomas-Spital in London nach ſeiner Geneſung eine fremde Sprache redete. Dieſe Sprache war ſeine Walliſer Mutterſprache, welche er früher in ſeiner Heimath geſprochen, aber in London ſeit 30 Jahren verlernt hatte. Die Thatſachen der Pathologie, welche unſern Satz unterſtützen oder be- weiſen, ſind ſo zahlreich und umfaſſend, daß man Bücher mit ihnen anfüllen könnte. Auch iſt das Gewicht der- ſelben von denkenden Männern nie verkannt worden und ſelbſt der täglichſten und einfachſten Beobachtung zu- gänglich. „Wenn das Blut‟, ſagt Friedrich der Große in einem Briefe an Voltaire vom Jahre 1775, mit zu großer Heftigkeit im Gehirn kreiſt, wie bei Be- trunkenen oder in hitzigen Fiebern, verwirrt es, verkehrt es die Jdeen; wenn ſich eine leichte Verſtopfung in den Nerven des Gehirn’s bildet, veranlaßt ſie den Wahnſinn; wenn ein Waſſertropfen ſich in der Hirnſchale ausbreitet, folgt der Verluſt des Gedächtniſſes; wenn ein Tropfen aus den Gefäßen getretenen Blutes das Gehirn und
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0154"n="134"/>
in dieſen 5 Leichen materiell-pathologiſche Veränderungen,<lb/>
wenn auch nicht <hirendition="#g">ſichtbar,</hi> doch vorhanden waren, be-<lb/>
zweifelt kein auf dem heutigen Standpunkte der Wiſſen-<lb/>ſchaft angekommener Arzt. — Körperliche Angriffe oder<lb/>
Verletzungen des Gehirns bringen oft wunderbare pſy-<lb/>
chiſche Effecte hervor. So wird glaubhaft erzählt, daß<lb/>
ein ſchwer am Kopf verletzter Mann im Thomas-Spital<lb/>
in London nach ſeiner Geneſung eine fremde Sprache<lb/>
redete. Dieſe Sprache war ſeine Walliſer Mutterſprache,<lb/>
welche er früher in ſeiner Heimath geſprochen, aber in<lb/>
London ſeit 30 Jahren verlernt hatte. Die Thatſachen<lb/>
der Pathologie, welche unſern Satz unterſtützen oder be-<lb/>
weiſen, ſind ſo zahlreich und umfaſſend, daß man Bücher<lb/>
mit ihnen anfüllen könnte. Auch iſt das Gewicht der-<lb/>ſelben von denkenden Männern nie verkannt worden und<lb/>ſelbſt der täglichſten und einfachſten Beobachtung zu-<lb/>
gänglich. „Wenn das Blut‟, ſagt <hirendition="#g">Friedrich der<lb/>
Große</hi> in einem Briefe an Voltaire vom Jahre 1775,<lb/>
mit zu großer Heftigkeit im Gehirn kreiſt, wie bei Be-<lb/>
trunkenen oder in hitzigen Fiebern, verwirrt es, verkehrt<lb/>
es die Jdeen; wenn ſich eine leichte Verſtopfung in den<lb/>
Nerven des Gehirn’s bildet, veranlaßt ſie den Wahnſinn;<lb/>
wenn ein Waſſertropfen ſich in der Hirnſchale ausbreitet,<lb/>
folgt der Verluſt des Gedächtniſſes; wenn ein Tropfen<lb/>
aus den Gefäßen getretenen Blutes das Gehirn und<lb/></p></div></body></text></TEI>
[134/0154]
in dieſen 5 Leichen materiell-pathologiſche Veränderungen,
wenn auch nicht ſichtbar, doch vorhanden waren, be-
zweifelt kein auf dem heutigen Standpunkte der Wiſſen-
ſchaft angekommener Arzt. — Körperliche Angriffe oder
Verletzungen des Gehirns bringen oft wunderbare pſy-
chiſche Effecte hervor. So wird glaubhaft erzählt, daß
ein ſchwer am Kopf verletzter Mann im Thomas-Spital
in London nach ſeiner Geneſung eine fremde Sprache
redete. Dieſe Sprache war ſeine Walliſer Mutterſprache,
welche er früher in ſeiner Heimath geſprochen, aber in
London ſeit 30 Jahren verlernt hatte. Die Thatſachen
der Pathologie, welche unſern Satz unterſtützen oder be-
weiſen, ſind ſo zahlreich und umfaſſend, daß man Bücher
mit ihnen anfüllen könnte. Auch iſt das Gewicht der-
ſelben von denkenden Männern nie verkannt worden und
ſelbſt der täglichſten und einfachſten Beobachtung zu-
gänglich. „Wenn das Blut‟, ſagt Friedrich der
Große in einem Briefe an Voltaire vom Jahre 1775,
mit zu großer Heftigkeit im Gehirn kreiſt, wie bei Be-
trunkenen oder in hitzigen Fiebern, verwirrt es, verkehrt
es die Jdeen; wenn ſich eine leichte Verſtopfung in den
Nerven des Gehirn’s bildet, veranlaßt ſie den Wahnſinn;
wenn ein Waſſertropfen ſich in der Hirnſchale ausbreitet,
folgt der Verluſt des Gedächtniſſes; wenn ein Tropfen
aus den Gefäßen getretenen Blutes das Gehirn und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/154>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.