Es wäre zu viel gesagt, wenn behauptet werden wollte, daß der Anstoß zu dieser bedeutsamen Wandelung von der Wissenschaft gegeben worden sei. Wohl aber wird nicht im Ernste bestritten werden können, daß dieselbe von der Wissen- schaft vorbereitet und gefördert worden ist. Schon seit den dreißiger Jahren bemerken wir in der deutschen National- ökonomie ein Widerstreben gegen die Konsequenzen, welche aus den Theorien der "klassischen" englisch-französischen Volkswirtschaftslehre für die Wirtschaftspolitik gezogen wur- den. Was anfangs bloß dunkel gefühlt wurde, gewann all- mählich festere Gestalt in einer neuen Richtung der deutschen Nationalökonomie, der sog. historischen Schule, welche gleich- zeitig die methodische Grundlage der älteren Wirtschafts- wissenschaft anfocht und die Allgemeingültigkeit ihrer Lehren für das praktische Leben bestritt. Damit, daß sie die volks- wirtschaftlichen Einrichtungen und Erscheinungen in ihren mancherlei geschichtlichen Wandelungen zurückverfolgte, ge- langte sie dazu, die gegenwärtige Wirtschaftsordnung nur als eine Phase in der wirtschaftlichen Gesamt-Entwickelung der Völker zu begreifen und auch für diese den von Smith, Ricardo und ihren Nachfolgern entwickelten Lehren nur be- dingte Geltung zuzusprechen. Sie machte gegen den extremen Individualismus Front, der seit den französischen Oekono- misten des vorigen Jahrhunderts die politischen Wissen- schaften beherrschte; sie stellt den Lebenszwecken des Ein- zelnen die Zwecke der Gesellschaft als solche von höherer Ordnung gegenüber. Sie sprach den ökonomischen Gesetzen
Es wäre zu viel geſagt, wenn behauptet werden wollte, daß der Anſtoß zu dieſer bedeutſamen Wandelung von der Wiſſenſchaft gegeben worden ſei. Wohl aber wird nicht im Ernſte beſtritten werden können, daß dieſelbe von der Wiſſen- ſchaft vorbereitet und gefördert worden iſt. Schon ſeit den dreißiger Jahren bemerken wir in der deutſchen National- ökonomie ein Widerſtreben gegen die Konſequenzen, welche aus den Theorien der „klaſſiſchen“ engliſch-franzöſiſchen Volkswirtſchaftslehre für die Wirtſchaftspolitik gezogen wur- den. Was anfangs bloß dunkel gefühlt wurde, gewann all- mählich feſtere Geſtalt in einer neuen Richtung der deutſchen Nationalökonomie, der ſog. hiſtoriſchen Schule, welche gleich- zeitig die methodiſche Grundlage der älteren Wirtſchafts- wiſſenſchaft anfocht und die Allgemeingültigkeit ihrer Lehren für das praktiſche Leben beſtritt. Damit, daß ſie die volks- wirtſchaftlichen Einrichtungen und Erſcheinungen in ihren mancherlei geſchichtlichen Wandelungen zurückverfolgte, ge- langte ſie dazu, die gegenwärtige Wirtſchaftsordnung nur als eine Phaſe in der wirtſchaftlichen Geſamt-Entwickelung der Völker zu begreifen und auch für dieſe den von Smith, Ricardo und ihren Nachfolgern entwickelten Lehren nur be- dingte Geltung zuzuſprechen. Sie machte gegen den extremen Individualismus Front, der ſeit den franzöſiſchen Oekono- miſten des vorigen Jahrhunderts die politiſchen Wiſſen- ſchaften beherrſchte; ſie ſtellt den Lebenszwecken des Ein- zelnen die Zwecke der Geſellſchaft als ſolche von höherer Ordnung gegenüber. Sie ſprach den ökonomiſchen Geſetzen
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Es wäre zu viel geſagt, wenn behauptet werden wollte,
daß der Anſtoß zu dieſer bedeutſamen Wandelung von der
Wiſſenſchaft gegeben worden ſei. Wohl aber wird nicht im
Ernſte beſtritten werden können, daß dieſelbe von der Wiſſen-
ſchaft vorbereitet und gefördert worden iſt. Schon ſeit den
dreißiger Jahren bemerken wir in der deutſchen National-
ökonomie ein Widerſtreben gegen die Konſequenzen, welche
aus den Theorien der „klaſſiſchen“ engliſch-franzöſiſchen
Volkswirtſchaftslehre für die Wirtſchaftspolitik gezogen wur-
den. Was anfangs bloß dunkel gefühlt wurde, gewann all-
mählich feſtere Geſtalt in einer neuen Richtung der deutſchen
Nationalökonomie, der ſog. hiſtoriſchen Schule, welche gleich-
zeitig die methodiſche Grundlage der älteren Wirtſchafts-
wiſſenſchaft anfocht und die Allgemeingültigkeit ihrer Lehren
für das praktiſche Leben beſtritt. Damit, daß ſie die volks-
wirtſchaftlichen Einrichtungen und Erſcheinungen in ihren
mancherlei geſchichtlichen Wandelungen zurückverfolgte, ge-
langte ſie dazu, die gegenwärtige Wirtſchaftsordnung nur
als eine Phaſe in der wirtſchaftlichen Geſamt-Entwickelung
der Völker zu begreifen und auch für dieſe den von Smith,
Ricardo und ihren Nachfolgern entwickelten Lehren nur be-
dingte Geltung zuzuſprechen. Sie machte gegen den extremen
Individualismus Front, der ſeit den franzöſiſchen Oekono-
miſten des vorigen Jahrhunderts die politiſchen Wiſſen-
ſchaften beherrſchte; ſie ſtellt den Lebenszwecken des Ein-
zelnen die Zwecke der Geſellſchaft als ſolche von höherer
Ordnung gegenüber. Sie ſprach den ökonomiſchen Geſetzen
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Bücher, Karl: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Sechs Vorträge. Tübingen, 1893, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buecher_volkswirtschaft_1893/18>, abgerufen am 23.11.2024.
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