wirtschaft argumentiert wird, beherrschen noch weithin dieses Gebiet.
Allerdings hat unsere "historische" Nationalökonomie ein reiches Material zur Wirtschaftsgeschichte der klassischen und der modernen Völker gesammelt. Aber es ist noch kaum recht beachtet worden, daß die Bedingungen, unter denen die Wirtschaften der Völker des Altertums und des Mittelalters standen, bei der Kompliziertheit aller sozialen Erscheinungen für den modernen Beobachter ebenso schwer rekonstruierbar sind, als die Konsequenzen eines sozialistischen Zukunftsstaates, auch bei der lebhaftesten und gestaltungs- kräftigsten Phantasie, erfaßt werden können. Das Ver- ständnis ganzer weit zurückliegender Epochen der Wirt- schaftsgeschichte wird sich uns erst erschließen, wenn wir primitive und kulturarme Völker der Gegenwart nach der wirtschaftlichen Seite ihrer Existenz mit der gleichen Sorg- falt beobachten werden, wie heute die Engländer und Nord- amerikaner. Statt zu den letzteren sollten wir unsere jungen Nationalökonomen eher zu den Russen, Rumänen oder Südslaven auf Studienreisen schicken; wir sollten die Völker unserer neugewonnenen Kolonien nach dieser Seite erforschen, ehe gerade die charakteristischen Seiten primitiver Wirt- schaftsweise und Rechtsanschauung unter dem Einfluß des europäischen Handels bei ihnen verschwinden.
Es ist fast als ein Glück zu bezeichnen, daß derartige fremde Einflüsse selten sehr tief in das eigentliche Volks- leben dringen, sondern daß sie sich meist auf die bevor-
wirtſchaft argumentiert wird, beherrſchen noch weithin dieſes Gebiet.
Allerdings hat unſere „hiſtoriſche“ Nationalökonomie ein reiches Material zur Wirtſchaftsgeſchichte der klaſſiſchen und der modernen Völker geſammelt. Aber es iſt noch kaum recht beachtet worden, daß die Bedingungen, unter denen die Wirtſchaften der Völker des Altertums und des Mittelalters ſtanden, bei der Kompliziertheit aller ſozialen Erſcheinungen für den modernen Beobachter ebenſo ſchwer rekonſtruierbar ſind, als die Konſequenzen eines ſozialiſtiſchen Zukunftsſtaates, auch bei der lebhafteſten und geſtaltungs- kräftigſten Phantaſie, erfaßt werden können. Das Ver- ſtändnis ganzer weit zurückliegender Epochen der Wirt- ſchaftsgeſchichte wird ſich uns erſt erſchließen, wenn wir primitive und kulturarme Völker der Gegenwart nach der wirtſchaftlichen Seite ihrer Exiſtenz mit der gleichen Sorg- falt beobachten werden, wie heute die Engländer und Nord- amerikaner. Statt zu den letzteren ſollten wir unſere jungen Nationalökonomen eher zu den Ruſſen, Rumänen oder Südſlaven auf Studienreiſen ſchicken; wir ſollten die Völker unſerer neugewonnenen Kolonien nach dieſer Seite erforſchen, ehe gerade die charakteriſtiſchen Seiten primitiver Wirt- ſchaftsweiſe und Rechtsanſchauung unter dem Einfluß des europäiſchen Handels bei ihnen verſchwinden.
Es iſt faſt als ein Glück zu bezeichnen, daß derartige fremde Einflüſſe ſelten ſehr tief in das eigentliche Volks- leben dringen, ſondern daß ſie ſich meiſt auf die bevor-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0107"n="85"/>
wirtſchaft argumentiert wird, beherrſchen noch weithin<lb/>
dieſes Gebiet.</p><lb/><p>Allerdings hat unſere „hiſtoriſche“ Nationalökonomie<lb/>
ein reiches Material zur Wirtſchaftsgeſchichte der klaſſiſchen<lb/>
und der modernen Völker geſammelt. Aber es iſt noch<lb/>
kaum recht beachtet worden, daß die Bedingungen, unter<lb/>
denen die Wirtſchaften der Völker des Altertums und des<lb/>
Mittelalters ſtanden, bei der Kompliziertheit aller ſozialen<lb/>
Erſcheinungen für den modernen Beobachter ebenſo ſchwer<lb/>
rekonſtruierbar ſind, als die Konſequenzen eines ſozialiſtiſchen<lb/>
Zukunftsſtaates, auch bei der lebhafteſten und geſtaltungs-<lb/>
kräftigſten Phantaſie, erfaßt werden können. Das Ver-<lb/>ſtändnis ganzer weit zurückliegender Epochen der Wirt-<lb/>ſchaftsgeſchichte wird ſich uns erſt erſchließen, wenn wir<lb/>
primitive und kulturarme Völker der Gegenwart nach der<lb/>
wirtſchaftlichen Seite ihrer Exiſtenz mit der gleichen Sorg-<lb/>
falt beobachten werden, wie heute die Engländer und Nord-<lb/>
amerikaner. Statt zu den letzteren ſollten wir unſere jungen<lb/>
Nationalökonomen eher zu den Ruſſen, Rumänen oder<lb/>
Südſlaven auf Studienreiſen ſchicken; wir ſollten die Völker<lb/>
unſerer neugewonnenen Kolonien nach dieſer Seite erforſchen,<lb/>
ehe gerade die charakteriſtiſchen Seiten primitiver Wirt-<lb/>ſchaftsweiſe und Rechtsanſchauung unter dem Einfluß des<lb/>
europäiſchen Handels bei ihnen verſchwinden.</p><lb/><p>Es iſt faſt als ein Glück zu bezeichnen, daß derartige<lb/>
fremde Einflüſſe ſelten ſehr tief in das eigentliche Volks-<lb/>
leben dringen, ſondern daß ſie ſich meiſt auf die bevor-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[85/0107]
wirtſchaft argumentiert wird, beherrſchen noch weithin
dieſes Gebiet.
Allerdings hat unſere „hiſtoriſche“ Nationalökonomie
ein reiches Material zur Wirtſchaftsgeſchichte der klaſſiſchen
und der modernen Völker geſammelt. Aber es iſt noch
kaum recht beachtet worden, daß die Bedingungen, unter
denen die Wirtſchaften der Völker des Altertums und des
Mittelalters ſtanden, bei der Kompliziertheit aller ſozialen
Erſcheinungen für den modernen Beobachter ebenſo ſchwer
rekonſtruierbar ſind, als die Konſequenzen eines ſozialiſtiſchen
Zukunftsſtaates, auch bei der lebhafteſten und geſtaltungs-
kräftigſten Phantaſie, erfaßt werden können. Das Ver-
ſtändnis ganzer weit zurückliegender Epochen der Wirt-
ſchaftsgeſchichte wird ſich uns erſt erſchließen, wenn wir
primitive und kulturarme Völker der Gegenwart nach der
wirtſchaftlichen Seite ihrer Exiſtenz mit der gleichen Sorg-
falt beobachten werden, wie heute die Engländer und Nord-
amerikaner. Statt zu den letzteren ſollten wir unſere jungen
Nationalökonomen eher zu den Ruſſen, Rumänen oder
Südſlaven auf Studienreiſen ſchicken; wir ſollten die Völker
unſerer neugewonnenen Kolonien nach dieſer Seite erforſchen,
ehe gerade die charakteriſtiſchen Seiten primitiver Wirt-
ſchaftsweiſe und Rechtsanſchauung unter dem Einfluß des
europäiſchen Handels bei ihnen verſchwinden.
Es iſt faſt als ein Glück zu bezeichnen, daß derartige
fremde Einflüſſe ſelten ſehr tief in das eigentliche Volks-
leben dringen, ſondern daß ſie ſich meiſt auf die bevor-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bücher, Karl: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Sechs Vorträge. Tübingen, 1893, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buecher_volkswirtschaft_1893/107>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.