Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 139. Diebstahl, Raub und Unterschlagung.
setzt ablösbare Todesstrafe41 als hergebrachtes Recht voraus42. Es
ist darum wahrscheinlich, dass trotz der Lex Salica der handhafte
Dieb, sofern er nicht dem allgemeinen Tötungsrechte preisgegeben
war, von jeher einer ablösbaren Leibes- oder Lebensstrafe wenigstens
bei grossem Diebstahl verfiel. Karl der Grosse schrieb i. J. 779 vor,
dass der Dieb für den ersten Diebstahl nicht mit dem Tode, sondern
mit Verlust eines Auges bestraft werden, bei dem zweiten die Nase
und erst bei dem dritten das Leben verlieren solle43.

Nicht handhafter Diebstahl kann regelmässig durch Busse gesühnt
werden. Hinsichtlich der Diebstahlsbussen stehen sich das Recht der
Lex Salica und die übrigen Volksrechte gegenüber. Nach diesen be-
steht die Busse darin, dass der Dieb den mehrfachen Wert der ge-
stohlenen Sache ersetzen und ausserdem Friedensgeld bezahlen muss.
Zweifachen Ersatz verlangen das friesische44 und das angelsächsische
Recht45, dreifachen das altkentische46, das burgundische47, anglo-
warnische48 und wenigstens in gewissen Fällen das ribuarische

martyrum c. 72, S. 536: opus suum ore proprio indicans patibulo deiudicatur.
Gloria confess. c. 99, S. 811. Sohm in Z. f. RG V 413 f. In Formula Andeg. 3
erklärt der Aussteller, dass er auf eingestandenen Diebstahl hin dem Tode ver-
fallen, aber von einem Dritten ausgelöst worden sei, dem er sich verknechtet.
41 Pactus pro tenore pacis c. 2: et si latro (se) redimendi habeat facultatem,
se redimat ..; si non redimitur, vita carebit. Chloth. II ed. v. J. 614 c. 22: qui
cum furto non depraehinditur, ... interfici non debeat inauditus. Vgl. Childeb. II
decr. c. 7. 8.
42 Sohm hat in Z. f. RG V 411 ff. die oft nachgesprochene Ansicht auf-
gestellt, dass im sechsten Jahrhundert eine Abänderung des salischen Rechtes ein-
getreten sei, welche die Diebstahlsbussen der Lex Salica durch die Todesstrafe er-
setzte, ein Standpunkt, den von vornherein die Lex Ribuaria einnehme. Allein
der Tod traf sowohl nach den Novellen zur Lex Salica als nach der Lex Rib. nur
den handhaften (bezw. den insolventen) Dieb, während die Diebstahlsbussen bei
nicht handhaftem Diebstahl nicht nur der Lex Ribuaria geläufig sind, sondern sich
auch, wie Form. Andeg. 11, Form. Bignon 27, Lex Sal. 80, 81 f. (Hessels) er-
geben, im jüngeren salischen Rechte erhalten haben. Vgl. noch Cap. de latronibns
c. 3. 7, I 180 f. Cap. legg. add. 818/9, c. 15, I 284.
43 Cap. Haristall. c. 23, I 51. Vgl. Cap. Aquisgr. 801--813, c. 15, I 172 und
den oben S. 641 Anm. 28 citierten Landfrieden des elften Jahrhunderts.
44 Lex Fris. 3, 2. 3. 4. Vgl. Lex Chamav. 28. Dies gilt auch im Maasgau
nach Lex Chamav. 27. Als Friedensgeld wurde bei den Friesen das Wergeld-
simplum verwirkt.
45 Aethelred I 1, 5. Knut II 30, 3. Vgl. Ine 43 pr. mit Ine 43, 1. Daneben Gewette.
46 Aethelbirht 9.
47 Lex Burg. 4, 3; 63; 70 neben einer multa von zwölf oder drei Solidi.
48 Lex Angl. et Werin. 35 ff. neben einem fredus von der Höhe der dilatura.
41*

§ 139. Diebstahl, Raub und Unterschlagung.
setzt ablösbare Todesstrafe41 als hergebrachtes Recht voraus42. Es
ist darum wahrscheinlich, daſs trotz der Lex Salica der handhafte
Dieb, sofern er nicht dem allgemeinen Tötungsrechte preisgegeben
war, von jeher einer ablösbaren Leibes- oder Lebensstrafe wenigstens
bei groſsem Diebstahl verfiel. Karl der Groſse schrieb i. J. 779 vor,
daſs der Dieb für den ersten Diebstahl nicht mit dem Tode, sondern
mit Verlust eines Auges bestraft werden, bei dem zweiten die Nase
und erst bei dem dritten das Leben verlieren solle43.

Nicht handhafter Diebstahl kann regelmäſsig durch Buſse gesühnt
werden. Hinsichtlich der Diebstahlsbuſsen stehen sich das Recht der
Lex Salica und die übrigen Volksrechte gegenüber. Nach diesen be-
steht die Buſse darin, daſs der Dieb den mehrfachen Wert der ge-
stohlenen Sache ersetzen und auſserdem Friedensgeld bezahlen muſs.
Zweifachen Ersatz verlangen das friesische44 und das angelsächsische
Recht45, dreifachen das altkentische46, das burgundische47, anglo-
warnische48 und wenigstens in gewissen Fällen das ribuarische

martyrum c. 72, S. 536: opus suum ore proprio indicans patibulo deiudicatur.
Gloria confess. c. 99, S. 811. Sohm in Z. f. RG V 413 f. In Formula Andeg. 3
erklärt der Aussteller, daſs er auf eingestandenen Diebstahl hin dem Tode ver-
fallen, aber von einem Dritten ausgelöst worden sei, dem er sich verknechtet.
41 Pactus pro tenore pacis c. 2: et si latro (se) redimendi habeat facultatem,
se redimat ..; si non redimitur, vita carebit. Chloth. II ed. v. J. 614 c. 22: qui
cum furto non depraehinditur, … interfici non debeat inauditus. Vgl. Childeb. II
decr. c. 7. 8.
42 Sohm hat in Z. f. RG V 411 ff. die oft nachgesprochene Ansicht auf-
gestellt, daſs im sechsten Jahrhundert eine Abänderung des salischen Rechtes ein-
getreten sei, welche die Diebstahlsbuſsen der Lex Salica durch die Todesstrafe er-
setzte, ein Standpunkt, den von vornherein die Lex Ribuaria einnehme. Allein
der Tod traf sowohl nach den Novellen zur Lex Salica als nach der Lex Rib. nur
den handhaften (bezw. den insolventen) Dieb, während die Diebstahlsbuſsen bei
nicht handhaftem Diebstahl nicht nur der Lex Ribuaria geläufig sind, sondern sich
auch, wie Form. Andeg. 11, Form. Bignon 27, Lex Sal. 80, 81 f. (Hessels) er-
geben, im jüngeren salischen Rechte erhalten haben. Vgl. noch Cap. de latronibns
c. 3. 7, I 180 f. Cap. legg. add. 818/9, c. 15, I 284.
43 Cap. Haristall. c. 23, I 51. Vgl. Cap. Aquisgr. 801—813, c. 15, I 172 und
den oben S. 641 Anm. 28 citierten Landfrieden des elften Jahrhunderts.
44 Lex Fris. 3, 2. 3. 4. Vgl. Lex Chamav. 28. Dies gilt auch im Maasgau
nach Lex Chamav. 27. Als Friedensgeld wurde bei den Friesen das Wergeld-
simplum verwirkt.
45 Aethelred I 1, 5. Knut II 30, 3. Vgl. Ine 43 pr. mit Ine 43, 1. Daneben Gewette.
46 Aethelbirht 9.
47 Lex Burg. 4, 3; 63; 70 neben einer multa von zwölf oder drei Solidi.
48 Lex Angl. et Werin. 35 ff. neben einem fredus von der Höhe der dilatura.
41*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0661" n="643"/><fw place="top" type="header">§ 139. Diebstahl, Raub und Unterschlagung.</fw><lb/>
setzt ablösbare Todesstrafe<note place="foot" n="41">Pactus pro tenore pacis c. 2: et si latro (se) redimendi habeat facultatem,<lb/>
se redimat ..; si non redimitur, vita carebit. Chloth. II ed. v. J. 614 c. 22: qui<lb/>
cum furto non depraehinditur, &#x2026; interfici non debeat inauditus. Vgl. Childeb. II<lb/>
decr. c. 7. 8.</note> als hergebrachtes Recht voraus<note place="foot" n="42"><hi rendition="#g">Sohm</hi> hat in Z. f. RG V 411 ff. die oft nachgesprochene Ansicht auf-<lb/>
gestellt, da&#x017F;s im sechsten Jahrhundert eine Abänderung des salischen Rechtes ein-<lb/>
getreten sei, welche die Diebstahlsbu&#x017F;sen der Lex Salica durch die Todesstrafe er-<lb/>
setzte, ein Standpunkt, den von vornherein die Lex Ribuaria einnehme. Allein<lb/>
der Tod traf sowohl nach den Novellen zur Lex Salica als nach der Lex Rib. nur<lb/>
den handhaften (bezw. den insolventen) Dieb, während die Diebstahlsbu&#x017F;sen bei<lb/>
nicht handhaftem Diebstahl nicht nur der Lex Ribuaria geläufig sind, sondern sich<lb/>
auch, wie Form. Andeg. 11, Form. Bignon 27, Lex Sal. 80, 81 f. (Hessels) er-<lb/>
geben, im jüngeren salischen Rechte erhalten haben. Vgl. noch Cap. de latronibns<lb/>
c. 3. 7, I 180 f. Cap. legg. add. 818/9, c. 15, I 284.</note>. Es<lb/>
ist darum wahrscheinlich, da&#x017F;s trotz der Lex Salica der handhafte<lb/>
Dieb, sofern er nicht dem allgemeinen Tötungsrechte preisgegeben<lb/>
war, von jeher einer ablösbaren Leibes- oder Lebensstrafe wenigstens<lb/>
bei gro&#x017F;sem Diebstahl verfiel. Karl der Gro&#x017F;se schrieb i. J. 779 vor,<lb/>
da&#x017F;s der Dieb für den ersten Diebstahl nicht mit dem Tode, sondern<lb/>
mit Verlust eines Auges bestraft werden, bei dem zweiten die Nase<lb/>
und erst bei dem dritten das Leben verlieren solle<note place="foot" n="43">Cap. Haristall. c. 23, I 51. Vgl. Cap. Aquisgr. 801&#x2014;813, c. 15, I 172 und<lb/>
den oben S. 641 Anm. 28 citierten Landfrieden des elften Jahrhunderts.</note>.</p><lb/>
              <p>Nicht handhafter Diebstahl kann regelmä&#x017F;sig durch Bu&#x017F;se gesühnt<lb/>
werden. Hinsichtlich der Diebstahlsbu&#x017F;sen stehen sich das Recht der<lb/>
Lex Salica und die übrigen Volksrechte gegenüber. Nach diesen be-<lb/>
steht die Bu&#x017F;se darin, da&#x017F;s der Dieb den mehrfachen Wert der ge-<lb/>
stohlenen Sache ersetzen und au&#x017F;serdem Friedensgeld bezahlen mu&#x017F;s.<lb/>
Zweifachen Ersatz verlangen das friesische<note place="foot" n="44">Lex Fris. 3, 2. 3. 4. Vgl. Lex Chamav. 28. Dies gilt auch im Maasgau<lb/>
nach Lex Chamav. 27. Als Friedensgeld wurde bei den Friesen das Wergeld-<lb/>
simplum verwirkt.</note> und das angelsächsische<lb/>
Recht<note place="foot" n="45">Aethelred I 1, 5. Knut II 30, 3. Vgl. Ine 43 pr. mit Ine 43, 1. Daneben Gewette.</note>, dreifachen das altkentische<note place="foot" n="46">Aethelbirht 9.</note>, das burgundische<note place="foot" n="47">Lex Burg. 4, 3; 63; 70 neben einer multa von zwölf oder drei Solidi.</note>, anglo-<lb/>
warnische<note place="foot" n="48">Lex Angl. et Werin. 35 ff. neben einem fredus von der Höhe der dilatura.</note> und wenigstens in gewissen Fällen das ribuarische<lb/><note xml:id="seg2pn_146_2" prev="#seg2pn_146_1" place="foot" n="40">martyrum c. 72, S. 536: opus suum ore proprio indicans patibulo deiudicatur.<lb/>
Gloria confess. c. 99, S. 811. <hi rendition="#g">Sohm</hi> in Z. f. RG V 413 f. In Formula Andeg. 3<lb/>
erklärt der Aussteller, da&#x017F;s er auf eingestandenen Diebstahl hin dem Tode ver-<lb/>
fallen, aber von einem Dritten ausgelöst worden sei, dem er sich verknechtet.</note><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">41*</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[643/0661] § 139. Diebstahl, Raub und Unterschlagung. setzt ablösbare Todesstrafe 41 als hergebrachtes Recht voraus 42. Es ist darum wahrscheinlich, daſs trotz der Lex Salica der handhafte Dieb, sofern er nicht dem allgemeinen Tötungsrechte preisgegeben war, von jeher einer ablösbaren Leibes- oder Lebensstrafe wenigstens bei groſsem Diebstahl verfiel. Karl der Groſse schrieb i. J. 779 vor, daſs der Dieb für den ersten Diebstahl nicht mit dem Tode, sondern mit Verlust eines Auges bestraft werden, bei dem zweiten die Nase und erst bei dem dritten das Leben verlieren solle 43. Nicht handhafter Diebstahl kann regelmäſsig durch Buſse gesühnt werden. Hinsichtlich der Diebstahlsbuſsen stehen sich das Recht der Lex Salica und die übrigen Volksrechte gegenüber. Nach diesen be- steht die Buſse darin, daſs der Dieb den mehrfachen Wert der ge- stohlenen Sache ersetzen und auſserdem Friedensgeld bezahlen muſs. Zweifachen Ersatz verlangen das friesische 44 und das angelsächsische Recht 45, dreifachen das altkentische 46, das burgundische 47, anglo- warnische 48 und wenigstens in gewissen Fällen das ribuarische 40 41 Pactus pro tenore pacis c. 2: et si latro (se) redimendi habeat facultatem, se redimat ..; si non redimitur, vita carebit. Chloth. II ed. v. J. 614 c. 22: qui cum furto non depraehinditur, … interfici non debeat inauditus. Vgl. Childeb. II decr. c. 7. 8. 42 Sohm hat in Z. f. RG V 411 ff. die oft nachgesprochene Ansicht auf- gestellt, daſs im sechsten Jahrhundert eine Abänderung des salischen Rechtes ein- getreten sei, welche die Diebstahlsbuſsen der Lex Salica durch die Todesstrafe er- setzte, ein Standpunkt, den von vornherein die Lex Ribuaria einnehme. Allein der Tod traf sowohl nach den Novellen zur Lex Salica als nach der Lex Rib. nur den handhaften (bezw. den insolventen) Dieb, während die Diebstahlsbuſsen bei nicht handhaftem Diebstahl nicht nur der Lex Ribuaria geläufig sind, sondern sich auch, wie Form. Andeg. 11, Form. Bignon 27, Lex Sal. 80, 81 f. (Hessels) er- geben, im jüngeren salischen Rechte erhalten haben. Vgl. noch Cap. de latronibns c. 3. 7, I 180 f. Cap. legg. add. 818/9, c. 15, I 284. 43 Cap. Haristall. c. 23, I 51. Vgl. Cap. Aquisgr. 801—813, c. 15, I 172 und den oben S. 641 Anm. 28 citierten Landfrieden des elften Jahrhunderts. 44 Lex Fris. 3, 2. 3. 4. Vgl. Lex Chamav. 28. Dies gilt auch im Maasgau nach Lex Chamav. 27. Als Friedensgeld wurde bei den Friesen das Wergeld- simplum verwirkt. 45 Aethelred I 1, 5. Knut II 30, 3. Vgl. Ine 43 pr. mit Ine 43, 1. Daneben Gewette. 46 Aethelbirht 9. 47 Lex Burg. 4, 3; 63; 70 neben einer multa von zwölf oder drei Solidi. 48 Lex Angl. et Werin. 35 ff. neben einem fredus von der Höhe der dilatura. 40 martyrum c. 72, S. 536: opus suum ore proprio indicans patibulo deiudicatur. Gloria confess. c. 99, S. 811. Sohm in Z. f. RG V 413 f. In Formula Andeg. 3 erklärt der Aussteller, daſs er auf eingestandenen Diebstahl hin dem Tode ver- fallen, aber von einem Dritten ausgelöst worden sei, dem er sich verknechtet. 41*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/661
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 643. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/661>, abgerufen am 22.11.2024.