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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 136. Die Bussen.

Dagegen fügen sich nicht mehr unter den Begriff der compositio
die Wergelder und die sonstigen Lösungstaxen, um die der Misse-
thäter eine zuerkannte Lebens- oder Leibesstrafe ablösen darf. Während
bei den Wergeldbussen die Strafsatzung in erster Linie auf compositio
lautet und demnach das Urteil darauf erkennt, wird in Fällen der
redemptio vitae (capitis) Verwirkung des Lebens angedroht und dem-
gemäss im Urteile ausgesprochen, dem Schuldigen aber die Befugnis
gewährt, die Acht oder Lebensstrafe um sein Wergeld zu ledigen 17.
Ähnlich liegt die Sache, wo auf die Missethat nach dem Schema:
manum perdat aut redimat, eine ablösbare Leibesstrafe gesetzt ist. So-
fern die peinliche Strafe den reinen Charakter der öffentlichen Strafe
besass, fiel die Lösungstaxe ungeteilt an die öffentliche Gewalt 18. Wenn
sie gesetzlich normierte Privatstrafe war, erhielt wohl der Verletzte
die Lösungssumme oder mindestens einen Anteil. Obzwar von den
Bussen grundsätzlich verschieden, haben sich doch im laufe der Zeit
ursprüngliche Redemptionstaxen in wahre Bussen, compositiones, um-
gewandelt 19, ein Vorgang, den wir vereinzelt noch im neunten Jahr-
hundert wahrnehmen können 20.

Die den Volksrechten eigentümlichen Bussen im engeren Sinne
sind von einer geradezu verwirrenden Mannigfaltigkeit. Nichtdesto-
weniger ergiebt eine nähere Untersuchung, dass sie ihre Entstehung
nicht willkürlichen Ansätzen verdanken, dass vielmehr die scheinbar
systemlose und fast unübersehbare Menge von Busszahlen auf ver-
hältnismässig einfachen Grundlagen beruht. Die einzelnen Busszahlen
stellen sich nämlich als Bruchteile des Wergeldes dar, oder sie führen
auf eine bestimmte Grundbusse zurück, durch deren Teilung oder Ver-
vielfältigung abgeleitete Bussansätze entstanden sind.

Wohl bei allen Stämmen haben die ursprünglichen Bussbeträge

17 Lex Sal. 50, 4: de vita culpabilis esse debet aut, quantum valet, se redemat;
51, 2: aut se redimat aut de vita conponet. Pactus pro tenore pacis c. 2: et si
latro redimendi se habeat facultatem ..; et si non redimitur, vita carebit.
18 Lex Chamav. c. 32: si quis in sanctis reliquiis se periuraverit, manum suam
perdat aut eam redimat quarta parte de sua leode in dominico. Nach Knut II 36
beziehen Herr (hlaford) und Bischof das halbe Wergeld, um das der Meineidige
die verwirkte Hand erkauft.
19 Eine Wergeldbusse erscheint in Lex Rib. 85 an Stelle der in Lex Sal.
55 angedrohten Friedlosigkeit. In Lex Rib. a. O. heisst es: 200 solidos ... cul-
pabilis iudicetur vel wargus sit. In der Lex Sal. steht das wargus sit voran.
20 Cap. legg. add. v. J. 818/9, c. 10, I 283 sagt von falschen Zeugen: manus
suas redimant, cuius conpositionis duae partes ei, contra quem testati sunt,
dentur, tertia pro fredo solvatur. Die Redemptionstaxe ist hier in eine compositio
umgewandelt und als Busse angedroht.
§ 136. Die Buſsen.

Dagegen fügen sich nicht mehr unter den Begriff der compositio
die Wergelder und die sonstigen Lösungstaxen, um die der Misse-
thäter eine zuerkannte Lebens- oder Leibesstrafe ablösen darf. Während
bei den Wergeldbuſsen die Strafsatzung in erster Linie auf compositio
lautet und demnach das Urteil darauf erkennt, wird in Fällen der
redemptio vitae (capitis) Verwirkung des Lebens angedroht und dem-
gemäſs im Urteile ausgesprochen, dem Schuldigen aber die Befugnis
gewährt, die Acht oder Lebensstrafe um sein Wergeld zu ledigen 17.
Ähnlich liegt die Sache, wo auf die Missethat nach dem Schema:
manum perdat aut redimat, eine ablösbare Leibesstrafe gesetzt ist. So-
fern die peinliche Strafe den reinen Charakter der öffentlichen Strafe
besaſs, fiel die Lösungstaxe ungeteilt an die öffentliche Gewalt 18. Wenn
sie gesetzlich normierte Privatstrafe war, erhielt wohl der Verletzte
die Lösungssumme oder mindestens einen Anteil. Obzwar von den
Buſsen grundsätzlich verschieden, haben sich doch im laufe der Zeit
ursprüngliche Redemptionstaxen in wahre Buſsen, compositiones, um-
gewandelt 19, ein Vorgang, den wir vereinzelt noch im neunten Jahr-
hundert wahrnehmen können 20.

Die den Volksrechten eigentümlichen Buſsen im engeren Sinne
sind von einer geradezu verwirrenden Mannigfaltigkeit. Nichtdesto-
weniger ergiebt eine nähere Untersuchung, daſs sie ihre Entstehung
nicht willkürlichen Ansätzen verdanken, daſs vielmehr die scheinbar
systemlose und fast unübersehbare Menge von Buſszahlen auf ver-
hältnismäſsig einfachen Grundlagen beruht. Die einzelnen Buſszahlen
stellen sich nämlich als Bruchteile des Wergeldes dar, oder sie führen
auf eine bestimmte Grundbuſse zurück, durch deren Teilung oder Ver-
vielfältigung abgeleitete Buſsansätze entstanden sind.

Wohl bei allen Stämmen haben die ursprünglichen Buſsbeträge

17 Lex Sal. 50, 4: de vita culpabilis esse debet aut, quantum valet, se redemat;
51, 2: aut se redimat aut de vita conponet. Pactus pro tenore pacis c. 2: et si
latro redimendi se habeat facultatem ..; et si non redimitur, vita carebit.
18 Lex Chamav. c. 32: si quis in sanctis reliquiis se periuraverit, manum suam
perdat aut eam redimat quarta parte de sua leode in dominico. Nach Knut II 36
beziehen Herr (hlaford) und Bischof das halbe Wergeld, um das der Meineidige
die verwirkte Hand erkauft.
19 Eine Wergeldbuſse erscheint in Lex Rib. 85 an Stelle der in Lex Sal.
55 angedrohten Friedlosigkeit. In Lex Rib. a. O. heiſst es: 200 solidos … cul-
pabilis iudicetur vel wargus sit. In der Lex Sal. steht das wargus sit voran.
20 Cap. legg. add. v. J. 818/9, c. 10, I 283 sagt von falschen Zeugen: manus
suas redimant, cuius conpositionis duae partes ei, contra quem testati sunt,
dentur, tertia pro fredo solvatur. Die Redemptionstaxe ist hier in eine compositio
umgewandelt und als Buſse angedroht.
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[616/0634] § 136. Die Buſsen. Dagegen fügen sich nicht mehr unter den Begriff der compositio die Wergelder und die sonstigen Lösungstaxen, um die der Misse- thäter eine zuerkannte Lebens- oder Leibesstrafe ablösen darf. Während bei den Wergeldbuſsen die Strafsatzung in erster Linie auf compositio lautet und demnach das Urteil darauf erkennt, wird in Fällen der redemptio vitae (capitis) Verwirkung des Lebens angedroht und dem- gemäſs im Urteile ausgesprochen, dem Schuldigen aber die Befugnis gewährt, die Acht oder Lebensstrafe um sein Wergeld zu ledigen 17. Ähnlich liegt die Sache, wo auf die Missethat nach dem Schema: manum perdat aut redimat, eine ablösbare Leibesstrafe gesetzt ist. So- fern die peinliche Strafe den reinen Charakter der öffentlichen Strafe besaſs, fiel die Lösungstaxe ungeteilt an die öffentliche Gewalt 18. Wenn sie gesetzlich normierte Privatstrafe war, erhielt wohl der Verletzte die Lösungssumme oder mindestens einen Anteil. Obzwar von den Buſsen grundsätzlich verschieden, haben sich doch im laufe der Zeit ursprüngliche Redemptionstaxen in wahre Buſsen, compositiones, um- gewandelt 19, ein Vorgang, den wir vereinzelt noch im neunten Jahr- hundert wahrnehmen können 20. Die den Volksrechten eigentümlichen Buſsen im engeren Sinne sind von einer geradezu verwirrenden Mannigfaltigkeit. Nichtdesto- weniger ergiebt eine nähere Untersuchung, daſs sie ihre Entstehung nicht willkürlichen Ansätzen verdanken, daſs vielmehr die scheinbar systemlose und fast unübersehbare Menge von Buſszahlen auf ver- hältnismäſsig einfachen Grundlagen beruht. Die einzelnen Buſszahlen stellen sich nämlich als Bruchteile des Wergeldes dar, oder sie führen auf eine bestimmte Grundbuſse zurück, durch deren Teilung oder Ver- vielfältigung abgeleitete Buſsansätze entstanden sind. Wohl bei allen Stämmen haben die ursprünglichen Buſsbeträge 17 Lex Sal. 50, 4: de vita culpabilis esse debet aut, quantum valet, se redemat; 51, 2: aut se redimat aut de vita conponet. Pactus pro tenore pacis c. 2: et si latro redimendi se habeat facultatem ..; et si non redimitur, vita carebit. 18 Lex Chamav. c. 32: si quis in sanctis reliquiis se periuraverit, manum suam perdat aut eam redimat quarta parte de sua leode in dominico. Nach Knut II 36 beziehen Herr (hlaford) und Bischof das halbe Wergeld, um das der Meineidige die verwirkte Hand erkauft. 19 Eine Wergeldbuſse erscheint in Lex Rib. 85 an Stelle der in Lex Sal. 55 angedrohten Friedlosigkeit. In Lex Rib. a. O. heiſst es: 200 solidos … cul- pabilis iudicetur vel wargus sit. In der Lex Sal. steht das wargus sit voran. 20 Cap. legg. add. v. J. 818/9, c. 10, I 283 sagt von falschen Zeugen: manus suas redimant, cuius conpositionis duae partes ei, contra quem testati sunt, dentur, tertia pro fredo solvatur. Die Redemptionstaxe ist hier in eine compositio umgewandelt und als Buſse angedroht.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 616. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/634>, abgerufen am 22.11.2024.