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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 125. Absicht und Ungefähr.
fortschreitende Umwandlung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in
eine civilrechtliche aus dem Strafrechte ausscheiden. Zudem beginnen
einzelne Rechte die Fahrlässigkeit vom Zufall zu scheiden, wobei der
Begriff der Fahrlässigkeit wiederum typisch nämlich als Versäumnis
der vorgeschriebenen pflichtmässigen Obsorge gefasst wird. So ist es
Fahrlässigkeit, wenn jemand den Zaun so niedrig macht, dass ihn
fremde Tiere überspringen und sich dabei verletzen können, oder wenn
er ihn so anlegt, dass spitze Pfähle und Äste des Zaunes nach aussen
starren 12, wenn ein Mann seine Waffe derart trägt, dass vor seinen
Augen sich ein anderer daran spiesst 13, wenn Brunnen oder Gräben
in gemeingefährlicher Weise angebracht, Schlingen oder Tierfallen
ohne die üblichen Vorsichtsmassregeln gelegt werden. War Fahr-
lässigkeit in diesem Sinne vorhanden, so wird der Unfall nicht oder
nur unter Voraussetzung des Gefährdeeides als Ungefährwerk be-
handelt, oder er wird strenger gebüsst als bei mangelnder Fahrlässig-
keit 14, oder es greift nur bei obwaltender Fahrlässigkeit Haftung des
Urhebers ein, während sie andernfalls schlechtweg ausgeschlossen ist 15.

Das Tempo, in welchem sich jene Fortschritte der Entwicklung
des Strafrechtes vollzogen, war ein verhältnismässig langsames, ver-
schieden in den einzelnen Stammesrechten und ungleichartig bei den
einzelnen Missethaten. Mitunter stellten sich Rückschläge ein, weil
das Volksbewusstsein, zumal in Fällen, in denen die Blutrache eine
Rolle spielte, der modernisierenden Theorie des Gesetzgebers nicht zu
folgen vermochte 16. Weniger, als man erwarten sollte, wirkte die
Kirche auf freiere Behandlung der absichtslosen Missethaten ein; viel-
mehr zeigt sich umgekehrt, dass das kirchliche Recht die typische
Auffassung der Ungefährwerke dem deutschen Rechte entlehnte und
den kirchlichen Bussbestimmungen zu Grunde legte 17.

Soweit das strenge Recht bei absichtslosen Missethaten noch fest-
gehalten wurde, diente im fränkischen Reiche das königliche Recht

12 Lex Rib. 70, 3. 4.
13 Alfred 36. Trägt er den Speer auf der Achsel, so braucht er den Ge-
fährdeeid nicht zu schwören, um von der Verurteilung zum Friedensgelde frei zu
werden. Das Wergeld zahlt er in beiden Fällen, wenn die Spitze um drei Finger
höher ist als der hintere Schaft. Nach friesischem Rechte sind Ungefährwerke
alle bekwarda deda, d. h. solche Thaten, die jemand hinter seinem Rücken verur-
sacht. Richthofen, Rqu. S. 177, 13.
14 Siehe unten § 126.
15 Roth. 305. Lex Rib. 70, 4. Lex Baiuw. XIV 1. Lex Burg. 18, 2.
16 Satzung Wambas zur Lex Wisig. bei Walter C.J.G. I 668.
17 Paenitent. Valicellanum I, c. 15 bei Wasserschleben S. 549. Vgl. Hälsch-
ner
, Das preussische Strafrecht II 155.

§ 125. Absicht und Ungefähr.
fortschreitende Umwandlung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in
eine civilrechtliche aus dem Strafrechte ausscheiden. Zudem beginnen
einzelne Rechte die Fahrlässigkeit vom Zufall zu scheiden, wobei der
Begriff der Fahrlässigkeit wiederum typisch nämlich als Versäumnis
der vorgeschriebenen pflichtmäſsigen Obsorge gefaſst wird. So ist es
Fahrlässigkeit, wenn jemand den Zaun so niedrig macht, daſs ihn
fremde Tiere überspringen und sich dabei verletzen können, oder wenn
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starren 12, wenn ein Mann seine Waffe derart trägt, daſs vor seinen
Augen sich ein anderer daran spieſst 13, wenn Brunnen oder Gräben
in gemeingefährlicher Weise angebracht, Schlingen oder Tierfallen
ohne die üblichen Vorsichtsmaſsregeln gelegt werden. War Fahr-
lässigkeit in diesem Sinne vorhanden, so wird der Unfall nicht oder
nur unter Voraussetzung des Gefährdeeides als Ungefährwerk be-
handelt, oder er wird strenger gebüſst als bei mangelnder Fahrlässig-
keit 14, oder es greift nur bei obwaltender Fahrlässigkeit Haftung des
Urhebers ein, während sie andernfalls schlechtweg ausgeschlossen ist 15.

Das Tempo, in welchem sich jene Fortschritte der Entwicklung
des Strafrechtes vollzogen, war ein verhältnismäſsig langsames, ver-
schieden in den einzelnen Stammesrechten und ungleichartig bei den
einzelnen Missethaten. Mitunter stellten sich Rückschläge ein, weil
das Volksbewuſstsein, zumal in Fällen, in denen die Blutrache eine
Rolle spielte, der modernisierenden Theorie des Gesetzgebers nicht zu
folgen vermochte 16. Weniger, als man erwarten sollte, wirkte die
Kirche auf freiere Behandlung der absichtslosen Missethaten ein; viel-
mehr zeigt sich umgekehrt, daſs das kirchliche Recht die typische
Auffassung der Ungefährwerke dem deutschen Rechte entlehnte und
den kirchlichen Buſsbestimmungen zu Grunde legte 17.

Soweit das strenge Recht bei absichtslosen Missethaten noch fest-
gehalten wurde, diente im fränkischen Reiche das königliche Recht

12 Lex Rib. 70, 3. 4.
13 Alfred 36. Trägt er den Speer auf der Achsel, so braucht er den Ge-
fährdeeid nicht zu schwören, um von der Verurteilung zum Friedensgelde frei zu
werden. Das Wergeld zahlt er in beiden Fällen, wenn die Spitze um drei Finger
höher ist als der hintere Schaft. Nach friesischem Rechte sind Ungefährwerke
alle bekwarda deda, d. h. solche Thaten, die jemand hinter seinem Rücken verur-
sacht. Richthofen, Rqu. S. 177, 13.
14 Siehe unten § 126.
15 Roth. 305. Lex Rib. 70, 4. Lex Baiuw. XIV 1. Lex Burg. 18, 2.
16 Satzung Wambas zur Lex Wisig. bei Walter C.J.G. I 668.
17 Paenitent. Valicellanum I, c. 15 bei Waſserschleben S. 549. Vgl. Hälsch-
ner
, Das preuſsische Strafrecht II 155.
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[548/0566] § 125. Absicht und Ungefähr. fortschreitende Umwandlung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in eine civilrechtliche aus dem Strafrechte ausscheiden. Zudem beginnen einzelne Rechte die Fahrlässigkeit vom Zufall zu scheiden, wobei der Begriff der Fahrlässigkeit wiederum typisch nämlich als Versäumnis der vorgeschriebenen pflichtmäſsigen Obsorge gefaſst wird. So ist es Fahrlässigkeit, wenn jemand den Zaun so niedrig macht, daſs ihn fremde Tiere überspringen und sich dabei verletzen können, oder wenn er ihn so anlegt, daſs spitze Pfähle und Äste des Zaunes nach auſsen starren 12, wenn ein Mann seine Waffe derart trägt, daſs vor seinen Augen sich ein anderer daran spieſst 13, wenn Brunnen oder Gräben in gemeingefährlicher Weise angebracht, Schlingen oder Tierfallen ohne die üblichen Vorsichtsmaſsregeln gelegt werden. War Fahr- lässigkeit in diesem Sinne vorhanden, so wird der Unfall nicht oder nur unter Voraussetzung des Gefährdeeides als Ungefährwerk be- handelt, oder er wird strenger gebüſst als bei mangelnder Fahrlässig- keit 14, oder es greift nur bei obwaltender Fahrlässigkeit Haftung des Urhebers ein, während sie andernfalls schlechtweg ausgeschlossen ist 15. Das Tempo, in welchem sich jene Fortschritte der Entwicklung des Strafrechtes vollzogen, war ein verhältnismäſsig langsames, ver- schieden in den einzelnen Stammesrechten und ungleichartig bei den einzelnen Missethaten. Mitunter stellten sich Rückschläge ein, weil das Volksbewuſstsein, zumal in Fällen, in denen die Blutrache eine Rolle spielte, der modernisierenden Theorie des Gesetzgebers nicht zu folgen vermochte 16. Weniger, als man erwarten sollte, wirkte die Kirche auf freiere Behandlung der absichtslosen Missethaten ein; viel- mehr zeigt sich umgekehrt, daſs das kirchliche Recht die typische Auffassung der Ungefährwerke dem deutschen Rechte entlehnte und den kirchlichen Buſsbestimmungen zu Grunde legte 17. Soweit das strenge Recht bei absichtslosen Missethaten noch fest- gehalten wurde, diente im fränkischen Reiche das königliche Recht 12 Lex Rib. 70, 3. 4. 13 Alfred 36. Trägt er den Speer auf der Achsel, so braucht er den Ge- fährdeeid nicht zu schwören, um von der Verurteilung zum Friedensgelde frei zu werden. Das Wergeld zahlt er in beiden Fällen, wenn die Spitze um drei Finger höher ist als der hintere Schaft. Nach friesischem Rechte sind Ungefährwerke alle bekwarda deda, d. h. solche Thaten, die jemand hinter seinem Rücken verur- sacht. Richthofen, Rqu. S. 177, 13. 14 Siehe unten § 126. 15 Roth. 305. Lex Rib. 70, 4. Lex Baiuw. XIV 1. Lex Burg. 18, 2. 16 Satzung Wambas zur Lex Wisig. bei Walter C.J.G. I 668. 17 Paenitent. Valicellanum I, c. 15 bei Waſserschleben S. 549. Vgl. Hälsch- ner, Das preuſsische Strafrecht II 155.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 548. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/566>, abgerufen am 22.11.2024.