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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 119. Der Rechtsgang um Liegenschaften.
An sich gegen keinen bestimmten Gegner gerichtet, vermag der Anefang
einen Rechtstreit einzuleiten, wenn jemand Widerspruch erhebt und
mit einem Gegenanefang antwortet, indem er seinerseits die Hand an
das Grundstück schlägt. Dringt der Anefangskläger nicht durch, so
hat er wegen unrechten Anefangs eine Busse verwirkt.

Der Anefang von Liegenschaften ist altfränkischer Rechtsbrauch.
Denn schon die decretio Childeberts II. v. J. 596 setzt ihn voraus,
indem sie bei einer Busse von 15 Schillingen das interciare auch in
Bezug auf Grundstücke verbietet, die der Besitzer inter praesentes zehn
Jahre hindurch besessen hatte 11.

Bei den Langobarden diente als Anefangsform die aussergericht-
liche wiffatio, das Aufstecken einer wiffa 12, eines Strohwisches oder
sonstigen Zeichens. Wenn derjenige, der durch die wiffatio ein
Grundstück in Anspruch genommen hatte, in dem darüber entstan-
denen Rechtsstreite unterlag, so musste er wegen rechtswidriger wiffatio
eine Busse von sechs Solidi zahlen 13.

Kam es zur gerichtlichen Klage, so gestaltete sich die Klagformel
unabhängig von der Art der Einleitung des Rechtsstreites, über welche
denn auch die Gerichtsurkunden, weil sie sich auf die Darstellung der
gerichtlichen Vorgänge beschränken, meistens mit Stillschweigen hin-
weggehen. Ein Voreid des Klägers ist uns wenigstens für gewisse
Fälle bei den Franken 14 und in ausgedehnterer Anwendung bei den
Sachsen beglaubigt 15.

Auf die Klage hin mag der Beklagte, ehe er sich auf den Rechts-
streit einlässt, Feststellung des Streitobjektes und seiner Grenzen ver-
langen. Zu diesem Zwecke kann er eine Frist begehren, binnen

11 Cap. I 15 f. c. 3: ut servo, campo aut quaslibet res ad unum ducem et
unum iudicem pertinentes per decem annos quicumque inconcusso iure possedit,
nullam habeat licentiam interciandi .. Quod si quis praesumpserit interciare, solidos
XV solvat et res quae male interciavit amittat.
12 Siehe oben S. 459.
13 Liu. c. 148: si quis ex sua auctoritate terra aliena sine puplico wifaverit
dicendo, quod sua debeat esse, et postea non potuerit probare, quod sua sit, con-
ponat solidos sex, quomodo qui palo in terra aliena figit. Aus der Stelle folgt,
dass der Anefang als Privatakt busslos war, wenn der Anefangskläger im Rechts-
streite durchdrang. Das wifare per publicum ist die Fronung. Vgl. Liu. 57.
14 Lex Rib. 67, 5, selbsiebent pro hereditate. Siehe oben S. 345, Anm. 20.
Perard S. 148, H. 370: Nachdem der Beklagte dem Kläger geantwortet, quod non
iuste, sed iniuste eum mallasset (ihn belangt habe), bietet dieser seinen Voreid an.
15 Auf einen Voreid des Klägers bezieht sich Lex Sax. c. 39: qui alteri
dolose per sacramentum res proprias tollere vult, duobus aut tribus de eadem pro-
vincia idoneis testibus vincatur et si plures fuerint, melius est.

§ 119. Der Rechtsgang um Liegenschaften.
An sich gegen keinen bestimmten Gegner gerichtet, vermag der Anefang
einen Rechtstreit einzuleiten, wenn jemand Widerspruch erhebt und
mit einem Gegenanefang antwortet, indem er seinerseits die Hand an
das Grundstück schlägt. Dringt der Anefangskläger nicht durch, so
hat er wegen unrechten Anefangs eine Buſse verwirkt.

Der Anefang von Liegenschaften ist altfränkischer Rechtsbrauch.
Denn schon die decretio Childeberts II. v. J. 596 setzt ihn voraus,
indem sie bei einer Buſse von 15 Schillingen das interciare auch in
Bezug auf Grundstücke verbietet, die der Besitzer inter praesentes zehn
Jahre hindurch besessen hatte 11.

Bei den Langobarden diente als Anefangsform die auſsergericht-
liche wiffatio, das Aufstecken einer wiffa 12, eines Strohwisches oder
sonstigen Zeichens. Wenn derjenige, der durch die wiffatio ein
Grundstück in Anspruch genommen hatte, in dem darüber entstan-
denen Rechtsstreite unterlag, so muſste er wegen rechtswidriger wiffatio
eine Buſse von sechs Solidi zahlen 13.

Kam es zur gerichtlichen Klage, so gestaltete sich die Klagformel
unabhängig von der Art der Einleitung des Rechtsstreites, über welche
denn auch die Gerichtsurkunden, weil sie sich auf die Darstellung der
gerichtlichen Vorgänge beschränken, meistens mit Stillschweigen hin-
weggehen. Ein Voreid des Klägers ist uns wenigstens für gewisse
Fälle bei den Franken 14 und in ausgedehnterer Anwendung bei den
Sachsen beglaubigt 15.

Auf die Klage hin mag der Beklagte, ehe er sich auf den Rechts-
streit einläſst, Feststellung des Streitobjektes und seiner Grenzen ver-
langen. Zu diesem Zwecke kann er eine Frist begehren, binnen

11 Cap. I 15 f. c. 3: ut servo, campo aut quaslibet res ad unum ducem et
unum iudicem pertinentes per decem annos quicumque inconcusso iure possedit,
nullam habeat licentiam interciandi .. Quod si quis praesumpserit interciare, solidos
XV solvat et res quae male interciavit amittat.
12 Siehe oben S. 459.
13 Liu. c. 148: si quis ex sua auctoritate terra aliena sine puplico wifaverit
dicendo, quod sua debeat esse, et postea non potuerit probare, quod sua sit, con-
ponat solidos sex, quomodo qui palo in terra aliena figit. Aus der Stelle folgt,
daſs der Anefang als Privatakt buſslos war, wenn der Anefangskläger im Rechts-
streite durchdrang. Das wifare per publicum ist die Fronung. Vgl. Liu. 57.
14 Lex Rib. 67, 5, selbsiebent pro hereditate. Siehe oben S. 345, Anm. 20.
Pérard S. 148, H. 370: Nachdem der Beklagte dem Kläger geantwortet, quod non
iuste, sed iniuste eum mallasset (ihn belangt habe), bietet dieser seinen Voreid an.
15 Auf einen Voreid des Klägers bezieht sich Lex Sax. c. 39: qui alteri
dolose per sacramentum res proprias tollere vult, duobus aut tribus de eadem pro-
vincia idoneis testibus vincatur et si plures fuerint, melius est.
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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 514. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/532>, abgerufen am 17.09.2024.