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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 114. Acht- und Strafvollzug.
seine Schergen, lictores. Schon in merowingischer Zeit ist es im all-
gemeinen der Graf, der die Exekution von Lebens- und Leibesstrafen
befiehlt 30. Childebert II. macht es dem iudex zur Pflicht, den Frauen-
räuber zu verfolgen und zu töten, den Dieb in seiner Behausung zu
fahnden, zu binden und ihn, wenn er geringeren Standes ist, zu hän-
gen 31. Amtliche Hinrichtung setzt Chlothars Edikt v. J. 614 voraus,
indem es dem Richter untersagt, den Missethäter, der nicht bei hand-
haftem Diebstahl ergriffen worden ist, ungehört zu töten 32. Ganz
allgemein befiehlt Karl der Grosse, dass die iudices und die Vikare
Galgen haben sollen 33. Er versichert die Grafen, dass sie laut dem
Zeugnisse der Bischöfe ohne Sünde vor Gott Räuber und Diebe pein-
lich bestrafen können 34; er verbietet den Vikaren, zu gestatten, dass
der Dieb die zuerkannte Strafe durch Selbstverknechtung ablöse 35.

Nichtsdestoweniger muss für den Strafvollzug durch ausseramt-
liche Organe in fränkischer Zeit noch ein ausgedehnter Spielraum
übrig geblieben sein. Namentlich in den ostrheinischen Gebieten mag
die Vollstreckung vielfach den Gerichtsgemeinden obgelegen haben.
Häufig liess wohl auch der Richter den zum Tode verurteilten Ver-
brecher dem Verletzten übergeben, damit er die Strafe an ihm voll-
ziehe, oder er übergab ihn einem Mitgliede der Gerichtsgemeinde,
das ad hoc als Henker bestellt, etwa als solcher gedungen wurde 36.
Nachmals findet sich mitunter eine subsidiäre Vollstreckungspflicht
der Gemeinden, während hie und da den Gemeindegenossen wenig-
stens noch obliegt, bei der amtlichen Hinrichtung gegenwärtig zu sein 37.

Achtvollzug und Hinrichtung entehrten denjenigen nicht, der sie
ausführte. Die Volksanschauung, dass der Henker ehrlos oder an-
rüchig sei, war der fränkischen Zeit noch vollständig fremd und ent-
stand erst später nicht ohne Einwirkung der Kirche. Ältester Henker
des germanischen Rechtes war der Heidenpriester gewesen. Noch

30 Waitz, VG II 2, S. 32, Anm. 1.
31 Childeb. II. decretio c. 4. 8, Cap. I 16 f.
32 Cap. I 23, c. 22.
33 Cap. Aquisgr. 801--813, c. 11, I 171.
34 Cap. Harist. v. J. 779, c. 11, I 49. Vgl. Cap. de latr. c. 7, I 181.
35 Cap. Aquisgr. 801--813, c. 15, I 172.
36 So ist Cap. ital. v. J. 801, c. 4, I 205 zu deuten. Si quis latronem morte
dignum sibi ad occidendum traditum servaverit et vitam indigno concesserit, medie-
tatem damni, propter quod traditus est, pro latrone componat. A. A. Waitz, VG
IV 505, Anm. 3, der dabei an Beamte denkt.
37 Vgl. Z2 f. RG XI 65. Miracula S. Thomae, Materials for the history of
Thomas a Becket, Rolls Series 1875 ff. I 369 ff.: igitur oppidanis ex voce prae-
conis
prosequentibus, fur ad furcas protractus ... suspensus est.

§ 114. Acht- und Strafvollzug.
seine Schergen, lictores. Schon in merowingischer Zeit ist es im all-
gemeinen der Graf, der die Exekution von Lebens- und Leibesstrafen
befiehlt 30. Childebert II. macht es dem iudex zur Pflicht, den Frauen-
räuber zu verfolgen und zu töten, den Dieb in seiner Behausung zu
fahnden, zu binden und ihn, wenn er geringeren Standes ist, zu hän-
gen 31. Amtliche Hinrichtung setzt Chlothars Edikt v. J. 614 voraus,
indem es dem Richter untersagt, den Missethäter, der nicht bei hand-
haftem Diebstahl ergriffen worden ist, ungehört zu töten 32. Ganz
allgemein befiehlt Karl der Groſse, daſs die iudices und die Vikare
Galgen haben sollen 33. Er versichert die Grafen, daſs sie laut dem
Zeugnisse der Bischöfe ohne Sünde vor Gott Räuber und Diebe pein-
lich bestrafen können 34; er verbietet den Vikaren, zu gestatten, daſs
der Dieb die zuerkannte Strafe durch Selbstverknechtung ablöse 35.

Nichtsdestoweniger muſs für den Strafvollzug durch auſseramt-
liche Organe in fränkischer Zeit noch ein ausgedehnter Spielraum
übrig geblieben sein. Namentlich in den ostrheinischen Gebieten mag
die Vollstreckung vielfach den Gerichtsgemeinden obgelegen haben.
Häufig lieſs wohl auch der Richter den zum Tode verurteilten Ver-
brecher dem Verletzten übergeben, damit er die Strafe an ihm voll-
ziehe, oder er übergab ihn einem Mitgliede der Gerichtsgemeinde,
das ad hoc als Henker bestellt, etwa als solcher gedungen wurde 36.
Nachmals findet sich mitunter eine subsidiäre Vollstreckungspflicht
der Gemeinden, während hie und da den Gemeindegenossen wenig-
stens noch obliegt, bei der amtlichen Hinrichtung gegenwärtig zu sein 37.

Achtvollzug und Hinrichtung entehrten denjenigen nicht, der sie
ausführte. Die Volksanschauung, daſs der Henker ehrlos oder an-
rüchig sei, war der fränkischen Zeit noch vollständig fremd und ent-
stand erst später nicht ohne Einwirkung der Kirche. Ältester Henker
des germanischen Rechtes war der Heidenpriester gewesen. Noch

30 Waitz, VG II 2, S. 32, Anm. 1.
31 Childeb. II. decretio c. 4. 8, Cap. I 16 f.
32 Cap. I 23, c. 22.
33 Cap. Aquisgr. 801—813, c. 11, I 171.
34 Cap. Harist. v. J. 779, c. 11, I 49. Vgl. Cap. de latr. c. 7, I 181.
35 Cap. Aquisgr. 801—813, c. 15, I 172.
36 So ist Cap. ital. v. J. 801, c. 4, I 205 zu deuten. Si quis latronem morte
dignum sibi ad occidendum traditum servaverit et vitam indigno concesserit, medie-
tatem damni, propter quod traditus est, pro latrone componat. A. A. Waitz, VG
IV 505, Anm. 3, der dabei an Beamte denkt.
37 Vgl. Z2 f. RG XI 65. Miracula S. Thomae, Materials for the history of
Thomas a Becket, Rolls Series 1875 ff. I 369 ff.: igitur oppidanis ex voce prae-
conis
prosequentibus, fur ad furcas protractus … suspensus est.
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[473/0491] § 114. Acht- und Strafvollzug. seine Schergen, lictores. Schon in merowingischer Zeit ist es im all- gemeinen der Graf, der die Exekution von Lebens- und Leibesstrafen befiehlt 30. Childebert II. macht es dem iudex zur Pflicht, den Frauen- räuber zu verfolgen und zu töten, den Dieb in seiner Behausung zu fahnden, zu binden und ihn, wenn er geringeren Standes ist, zu hän- gen 31. Amtliche Hinrichtung setzt Chlothars Edikt v. J. 614 voraus, indem es dem Richter untersagt, den Missethäter, der nicht bei hand- haftem Diebstahl ergriffen worden ist, ungehört zu töten 32. Ganz allgemein befiehlt Karl der Groſse, daſs die iudices und die Vikare Galgen haben sollen 33. Er versichert die Grafen, daſs sie laut dem Zeugnisse der Bischöfe ohne Sünde vor Gott Räuber und Diebe pein- lich bestrafen können 34; er verbietet den Vikaren, zu gestatten, daſs der Dieb die zuerkannte Strafe durch Selbstverknechtung ablöse 35. Nichtsdestoweniger muſs für den Strafvollzug durch auſseramt- liche Organe in fränkischer Zeit noch ein ausgedehnter Spielraum übrig geblieben sein. Namentlich in den ostrheinischen Gebieten mag die Vollstreckung vielfach den Gerichtsgemeinden obgelegen haben. Häufig lieſs wohl auch der Richter den zum Tode verurteilten Ver- brecher dem Verletzten übergeben, damit er die Strafe an ihm voll- ziehe, oder er übergab ihn einem Mitgliede der Gerichtsgemeinde, das ad hoc als Henker bestellt, etwa als solcher gedungen wurde 36. Nachmals findet sich mitunter eine subsidiäre Vollstreckungspflicht der Gemeinden, während hie und da den Gemeindegenossen wenig- stens noch obliegt, bei der amtlichen Hinrichtung gegenwärtig zu sein 37. Achtvollzug und Hinrichtung entehrten denjenigen nicht, der sie ausführte. Die Volksanschauung, daſs der Henker ehrlos oder an- rüchig sei, war der fränkischen Zeit noch vollständig fremd und ent- stand erst später nicht ohne Einwirkung der Kirche. Ältester Henker des germanischen Rechtes war der Heidenpriester gewesen. Noch 30 Waitz, VG II 2, S. 32, Anm. 1. 31 Childeb. II. decretio c. 4. 8, Cap. I 16 f. 32 Cap. I 23, c. 22. 33 Cap. Aquisgr. 801—813, c. 11, I 171. 34 Cap. Harist. v. J. 779, c. 11, I 49. Vgl. Cap. de latr. c. 7, I 181. 35 Cap. Aquisgr. 801—813, c. 15, I 172. 36 So ist Cap. ital. v. J. 801, c. 4, I 205 zu deuten. Si quis latronem morte dignum sibi ad occidendum traditum servaverit et vitam indigno concesserit, medie- tatem damni, propter quod traditus est, pro latrone componat. A. A. Waitz, VG IV 505, Anm. 3, der dabei an Beamte denkt. 37 Vgl. Z2 f. RG XI 65. Miracula S. Thomae, Materials for the history of Thomas a Becket, Rolls Series 1875 ff. I 369 ff.: igitur oppidanis ex voce prae- conis prosequentibus, fur ad furcas protractus … suspensus est.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 473. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/491>, abgerufen am 22.11.2024.