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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 103. Die allgemeinen Grundsätze, insbesondere die Beweisrolle.
trachten. Vielmehr scheint die Ausdehnung des Kesselfangs auf eine
bewusste Abänderung älteren Rechtes hinzudeuten, welche den gericht-
lichen Zweikampf zurückzudrängen bestrebt war. Dem Kesselfang
muss die katholische Kirche Galliens schon früh ein christliches Rituale
zur Verfügung gestellt haben, während sie dem Zweikampf abhold
war. So mag die Satzung der Lex Salica darauf angelegt worden sein,
dass den christianisierten Saliern nicht zugemutet werden sollte, eine
Beweisform zu wählen, die in den Zeiten des Übergangs zum Christen-
tum noch unlösbar mit heidnischen Vorstellungen verknüpft war. Je
mehr die Christianisierung der Salfranken sich vollendete, desto mehr
ist die Sonderstellung des salischen Beweisrechtes verschwunden.

Die Grundsätze über die Verteilung der Beweisrolle erleiden in
einzelnen typisch gestalteten Fällen eine Veränderung durch die Beweis-
lage. So finden wir in langobardischen Quellen die Regel ausge-
sprochen, dass derjenige, der auf Grund einer Urkunde oder einer
Wadia klagt, das Recht des Eides habe 26. So finden wir, dass für
ein Beweisthema, dessen Wissenschaft auf Seite des Beklagten nicht
vorausgesetzt werden durfte, die Beweisrolle dem Kläger zuerteilt
wurde 27. Man darf insofern sagen, dass die Abwägung von Wahr-
scheinlichkeiten für die Verteilung der Beweisrolle massgebend war.
Nur lag die Bestimmung nicht etwa für den Einzelfall in dem Er-
messen des Gerichtes, sondern es bestanden in dieser Beziehung volks-
rechtlich feststehende Grundsätze, die nach den verschiedenen Rechten
verschieden waren. Wie das ältere Recht überhaupt, hatte auch das
Beweisrecht einen typischen Zuschnitt, sodass es auf die Lage der
Wahrscheinlichkeit im konkreten Falle keine Rücksicht nahm.

Das Beweisthema wird durch das Beweisurteil gemäss den Wechsel-
reden der Parteien bestimmt. Bei einfachster Gestaltung des Rechts-
streites stellt es die Antwort des Beklagten oder den Vorwurf des
Klägers zum Beweise. Dabei ist es nicht etwa Aufgabe des Gerichtes,
aus den Parteireden die nackten Thatsachen herauszuschälen und die
der rechtlichen Beurteilung anheimfallenden Bestandteile der Partei-
erklärungen seiner eigenen Entscheidung vorzubehalten, sondern
das Beweisthema greift oft in ausgedehntem Masse in das Gebiet der
Rechtsfragen hinüber. Nicht selten wird geradezu die Frage des
besseren Rechtes zum Beweise gestellt. Das geschieht selbst dann,
wenn die Thatsache, aus der es erschlossen werden muss, in dem
Beweisthema mitenthalten ist. So haben im Freiheitsprozesse die vom
Kläger producierten Zeugen zu schwören, dass der Beklagte dricto

26 Siehe unten § 107.
27 Siehe unten § 105, Anm. 19.

§ 103. Die allgemeinen Grundsätze, insbesondere die Beweisrolle.
trachten. Vielmehr scheint die Ausdehnung des Kesselfangs auf eine
bewuſste Abänderung älteren Rechtes hinzudeuten, welche den gericht-
lichen Zweikampf zurückzudrängen bestrebt war. Dem Kesselfang
muſs die katholische Kirche Galliens schon früh ein christliches Rituale
zur Verfügung gestellt haben, während sie dem Zweikampf abhold
war. So mag die Satzung der Lex Salica darauf angelegt worden sein,
daſs den christianisierten Saliern nicht zugemutet werden sollte, eine
Beweisform zu wählen, die in den Zeiten des Übergangs zum Christen-
tum noch unlösbar mit heidnischen Vorstellungen verknüpft war. Je
mehr die Christianisierung der Salfranken sich vollendete, desto mehr
ist die Sonderstellung des salischen Beweisrechtes verschwunden.

Die Grundsätze über die Verteilung der Beweisrolle erleiden in
einzelnen typisch gestalteten Fällen eine Veränderung durch die Beweis-
lage. So finden wir in langobardischen Quellen die Regel ausge-
sprochen, daſs derjenige, der auf Grund einer Urkunde oder einer
Wadia klagt, das Recht des Eides habe 26. So finden wir, daſs für
ein Beweisthema, dessen Wissenschaft auf Seite des Beklagten nicht
vorausgesetzt werden durfte, die Beweisrolle dem Kläger zuerteilt
wurde 27. Man darf insofern sagen, daſs die Abwägung von Wahr-
scheinlichkeiten für die Verteilung der Beweisrolle maſsgebend war.
Nur lag die Bestimmung nicht etwa für den Einzelfall in dem Er-
messen des Gerichtes, sondern es bestanden in dieser Beziehung volks-
rechtlich feststehende Grundsätze, die nach den verschiedenen Rechten
verschieden waren. Wie das ältere Recht überhaupt, hatte auch das
Beweisrecht einen typischen Zuschnitt, sodaſs es auf die Lage der
Wahrscheinlichkeit im konkreten Falle keine Rücksicht nahm.

Das Beweisthema wird durch das Beweisurteil gemäſs den Wechsel-
reden der Parteien bestimmt. Bei einfachster Gestaltung des Rechts-
streites stellt es die Antwort des Beklagten oder den Vorwurf des
Klägers zum Beweise. Dabei ist es nicht etwa Aufgabe des Gerichtes,
aus den Parteireden die nackten Thatsachen herauszuschälen und die
der rechtlichen Beurteilung anheimfallenden Bestandteile der Partei-
erklärungen seiner eigenen Entscheidung vorzubehalten, sondern
das Beweisthema greift oft in ausgedehntem Maſse in das Gebiet der
Rechtsfragen hinüber. Nicht selten wird geradezu die Frage des
besseren Rechtes zum Beweise gestellt. Das geschieht selbst dann,
wenn die Thatsache, aus der es erschlossen werden muſs, in dem
Beweisthema mitenthalten ist. So haben im Freiheitsprozesse die vom
Kläger producierten Zeugen zu schwören, daſs der Beklagte dricto

26 Siehe unten § 107.
27 Siehe unten § 105, Anm. 19.
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[375/0393] § 103. Die allgemeinen Grundsätze, insbesondere die Beweisrolle. trachten. Vielmehr scheint die Ausdehnung des Kesselfangs auf eine bewuſste Abänderung älteren Rechtes hinzudeuten, welche den gericht- lichen Zweikampf zurückzudrängen bestrebt war. Dem Kesselfang muſs die katholische Kirche Galliens schon früh ein christliches Rituale zur Verfügung gestellt haben, während sie dem Zweikampf abhold war. So mag die Satzung der Lex Salica darauf angelegt worden sein, daſs den christianisierten Saliern nicht zugemutet werden sollte, eine Beweisform zu wählen, die in den Zeiten des Übergangs zum Christen- tum noch unlösbar mit heidnischen Vorstellungen verknüpft war. Je mehr die Christianisierung der Salfranken sich vollendete, desto mehr ist die Sonderstellung des salischen Beweisrechtes verschwunden. Die Grundsätze über die Verteilung der Beweisrolle erleiden in einzelnen typisch gestalteten Fällen eine Veränderung durch die Beweis- lage. So finden wir in langobardischen Quellen die Regel ausge- sprochen, daſs derjenige, der auf Grund einer Urkunde oder einer Wadia klagt, das Recht des Eides habe 26. So finden wir, daſs für ein Beweisthema, dessen Wissenschaft auf Seite des Beklagten nicht vorausgesetzt werden durfte, die Beweisrolle dem Kläger zuerteilt wurde 27. Man darf insofern sagen, daſs die Abwägung von Wahr- scheinlichkeiten für die Verteilung der Beweisrolle maſsgebend war. Nur lag die Bestimmung nicht etwa für den Einzelfall in dem Er- messen des Gerichtes, sondern es bestanden in dieser Beziehung volks- rechtlich feststehende Grundsätze, die nach den verschiedenen Rechten verschieden waren. Wie das ältere Recht überhaupt, hatte auch das Beweisrecht einen typischen Zuschnitt, sodaſs es auf die Lage der Wahrscheinlichkeit im konkreten Falle keine Rücksicht nahm. Das Beweisthema wird durch das Beweisurteil gemäſs den Wechsel- reden der Parteien bestimmt. Bei einfachster Gestaltung des Rechts- streites stellt es die Antwort des Beklagten oder den Vorwurf des Klägers zum Beweise. Dabei ist es nicht etwa Aufgabe des Gerichtes, aus den Parteireden die nackten Thatsachen herauszuschälen und die der rechtlichen Beurteilung anheimfallenden Bestandteile der Partei- erklärungen seiner eigenen Entscheidung vorzubehalten, sondern das Beweisthema greift oft in ausgedehntem Maſse in das Gebiet der Rechtsfragen hinüber. Nicht selten wird geradezu die Frage des besseren Rechtes zum Beweise gestellt. Das geschieht selbst dann, wenn die Thatsache, aus der es erschlossen werden muſs, in dem Beweisthema mitenthalten ist. So haben im Freiheitsprozesse die vom Kläger producierten Zeugen zu schwören, daſs der Beklagte dricto 26 Siehe unten § 107. 27 Siehe unten § 105, Anm. 19.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/393>, abgerufen am 25.11.2024.