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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 101. Urteil und Urteilschelte.
Ein derartiges Urteil darf im Anschluss an einen neuerdings eindrin-
genden Sprachgebrauch der Germanisten als ein zweizüngiges be-
zeichnet werden im Gegensatz zum einzüngigen, welches entweder nur
Beweisurteil oder Endurteil ist.

Hinsichtlich der Fassung des Urteils macht sich schon in mero-
wingischer Zeit insofern eine Änderung geltend, als es oft nicht mehr
ausdrücklich auf das Gelöbnis, sondern unmittelbar auf die Leistung 47,
beziehungsweise auf Beweis oder Leistung lautet 48. Der Beklagte
wird z. B. verurteilt, dass er schwöre oder zahle, iuret aut componat.
Der Unterschied ist zunächst wohl nur ein Unterschied in der Form
und nicht in der Sache. Denn solange eine eigentliche Exekution nur
um gelobte Schuld zulässig war, musste das Urteil in der Sache auf
ein Angelöbnis gehen 49. Erst mit der Ausbildung eines gegen den
Ungehorsamen zulässigen Exekutionsverfahrens konnte hierin eine sach-
liche Änderung eintreten.

Liegt der Streitfall derart, dass der Kläger zu beweisen hat, so
lautet das Urteil, soweit es Beweisurteil, auf den Beweis des Klägers 50.

Über das Ergebnis des Beweisverfahrens kann die obsiegende
Partei sich Zeugen ziehen oder eine Notitia ausstellen lassen. Sie

47 Den Übergang vermitteln Formeln wie in Form. Bignon. 27: fuit iudica-
tum, ut per wadium meum eam (causam) contra vos componere vel satisfacere
debeam hoc est solidos tantos ... Wohl nichts anderes ist gemeint, wenn es in
Form. Bignon. 9 heisst: iudicaverunt, ut ipsum hominem vel ipsa leode legibus ex-
inde trassolvere deberet. Vgl. ebenda 14: iudicaverunt, ut ipsam rem ei transsolvere
vel emendare deberet. -- Auch das Urteil auf Zahlung meint ein Gelöbnis der
Zahlung. Anderer Ansicht Heusler, Institutionen II 232 f.
48 Form. Andeg. 10: visum fuit, ut .. coniurare deberet .. sin autem non
potuerit, hoc inmendare studiat. Ebenda 11. 24. 28. 29. 30. 50. Marculf I 38: fuit
iudicatum, ut ... debeat coniurare .. Si hoc coniurare potuerit, de hac causa ductus
resedeat; sin autem non potuerit, ipso servo ... reddere studeat. Form. Senon.
rec. 5. Pertz, Dipl. M. 59 v. J. 691: fuit iudecatum, ut Ch. ipso extromento in
noctis XL .. in nostri presenciam dibiat presentari .. sin autem non potuerit,
quod lex de tali causa edocit, exinde susteniat. Perard S. 148, H. 370: decreve-
runt iudicium, quod post XL noctes in proximo mallo ipse H. contra A. iurasset
aut quod lex est fecisset. Cap. de latronibus c. 7, I 180: et si servus ad ex-
cusandum aut ad emendandum iudicatus fuerit, dominus eius faciat .. Für das
kentische Recht folgt dieselbe Form des Urteils aus Hlothar u. Eadric 10: Wenn
die Rechtssache entschieden ist, so thue der Mann in sieben Nächten dem andern
sein Recht, geschehe es in Gut oder Eid (gecwime an feo odde an ade); d. h. er
zahle oder schwöre, wie das Urteil lautete.
49 Vgl. Franken, Das franz. Pfandrecht des Mittelalters, 1879, S. 230 ff.
50 Perard S. 34, Nr. 15, H. 220: iudicatum fuit, ut tale testimonia aremisset
in proximo mallo post XL noctes .. aut faciat quod lex est.

§ 101. Urteil und Urteilschelte.
Ein derartiges Urteil darf im Anschluſs an einen neuerdings eindrin-
genden Sprachgebrauch der Germanisten als ein zweizüngiges be-
zeichnet werden im Gegensatz zum einzüngigen, welches entweder nur
Beweisurteil oder Endurteil ist.

Hinsichtlich der Fassung des Urteils macht sich schon in mero-
wingischer Zeit insofern eine Änderung geltend, als es oft nicht mehr
ausdrücklich auf das Gelöbnis, sondern unmittelbar auf die Leistung 47,
beziehungsweise auf Beweis oder Leistung lautet 48. Der Beklagte
wird z. B. verurteilt, daſs er schwöre oder zahle, iuret aut componat.
Der Unterschied ist zunächst wohl nur ein Unterschied in der Form
und nicht in der Sache. Denn solange eine eigentliche Exekution nur
um gelobte Schuld zulässig war, muſste das Urteil in der Sache auf
ein Angelöbnis gehen 49. Erst mit der Ausbildung eines gegen den
Ungehorsamen zulässigen Exekutionsverfahrens konnte hierin eine sach-
liche Änderung eintreten.

Liegt der Streitfall derart, daſs der Kläger zu beweisen hat, so
lautet das Urteil, soweit es Beweisurteil, auf den Beweis des Klägers 50.

Über das Ergebnis des Beweisverfahrens kann die obsiegende
Partei sich Zeugen ziehen oder eine Notitia ausstellen lassen. Sie

47 Den Übergang vermitteln Formeln wie in Form. Bignon. 27: fuit iudica-
tum, ut per wadium meum eam (causam) contra vos componere vel satisfacere
debeam hoc est solidos tantos … Wohl nichts anderes ist gemeint, wenn es in
Form. Bignon. 9 heiſst: iudicaverunt, ut ipsum hominem vel ipsa leode legibus ex-
inde trassolvere deberet. Vgl. ebenda 14: iudicaverunt, ut ipsam rem ei transsolvere
vel emendare deberet. — Auch das Urteil auf Zahlung meint ein Gelöbnis der
Zahlung. Anderer Ansicht Heusler, Institutionen II 232 f.
48 Form. Andeg. 10: visum fuit, ut .. coniurare deberet .. sin autem non
potuerit, hoc inmendare studiat. Ebenda 11. 24. 28. 29. 30. 50. Marculf I 38: fuit
iudicatum, ut … debeat coniurare .. Si hoc coniurare potuerit, de hac causa ductus
resedeat; sin autem non potuerit, ipso servo … reddere studeat. Form. Senon.
rec. 5. Pertz, Dipl. M. 59 v. J. 691: fuit iudecatum, ut Ch. ipso extromento in
noctis XL .. in nostri presenciam dibiat presentari .. sin autem non potuerit,
quod lex de tali causa edocit, exinde susteniat. Pérard S. 148, H. 370: decreve-
runt iudicium, quod post XL noctes in proximo mallo ipse H. contra A. iurasset
aut quod lex est fecisset. Cap. de latronibus c. 7, I 180: et si servus ad ex-
cusandum aut ad emendandum iudicatus fuerit, dominus eius faciat .. Für das
kentische Recht folgt dieselbe Form des Urteils aus Hlothar u. Eadric 10: Wenn
die Rechtssache entschieden ist, so thue der Mann in sieben Nächten dem andern
sein Recht, geschehe es in Gut oder Eid (gecwime an feo ođđe an âđe); d. h. er
zahle oder schwöre, wie das Urteil lautete.
49 Vgl. Franken, Das franz. Pfandrecht des Mittelalters, 1879, S. 230 ff.
50 Pérard S. 34, Nr. 15, H. 220: iudicatum fuit, ut tale testimonia aremisset
in proximo mallo post XL noctes .. aut faciat quod lex est.
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[363/0381] § 101. Urteil und Urteilschelte. Ein derartiges Urteil darf im Anschluſs an einen neuerdings eindrin- genden Sprachgebrauch der Germanisten als ein zweizüngiges be- zeichnet werden im Gegensatz zum einzüngigen, welches entweder nur Beweisurteil oder Endurteil ist. Hinsichtlich der Fassung des Urteils macht sich schon in mero- wingischer Zeit insofern eine Änderung geltend, als es oft nicht mehr ausdrücklich auf das Gelöbnis, sondern unmittelbar auf die Leistung 47, beziehungsweise auf Beweis oder Leistung lautet 48. Der Beklagte wird z. B. verurteilt, daſs er schwöre oder zahle, iuret aut componat. Der Unterschied ist zunächst wohl nur ein Unterschied in der Form und nicht in der Sache. Denn solange eine eigentliche Exekution nur um gelobte Schuld zulässig war, muſste das Urteil in der Sache auf ein Angelöbnis gehen 49. Erst mit der Ausbildung eines gegen den Ungehorsamen zulässigen Exekutionsverfahrens konnte hierin eine sach- liche Änderung eintreten. Liegt der Streitfall derart, daſs der Kläger zu beweisen hat, so lautet das Urteil, soweit es Beweisurteil, auf den Beweis des Klägers 50. Über das Ergebnis des Beweisverfahrens kann die obsiegende Partei sich Zeugen ziehen oder eine Notitia ausstellen lassen. Sie 47 Den Übergang vermitteln Formeln wie in Form. Bignon. 27: fuit iudica- tum, ut per wadium meum eam (causam) contra vos componere vel satisfacere debeam hoc est solidos tantos … Wohl nichts anderes ist gemeint, wenn es in Form. Bignon. 9 heiſst: iudicaverunt, ut ipsum hominem vel ipsa leode legibus ex- inde trassolvere deberet. Vgl. ebenda 14: iudicaverunt, ut ipsam rem ei transsolvere vel emendare deberet. — Auch das Urteil auf Zahlung meint ein Gelöbnis der Zahlung. Anderer Ansicht Heusler, Institutionen II 232 f. 48 Form. Andeg. 10: visum fuit, ut .. coniurare deberet .. sin autem non potuerit, hoc inmendare studiat. Ebenda 11. 24. 28. 29. 30. 50. Marculf I 38: fuit iudicatum, ut … debeat coniurare .. Si hoc coniurare potuerit, de hac causa ductus resedeat; sin autem non potuerit, ipso servo … reddere studeat. Form. Senon. rec. 5. Pertz, Dipl. M. 59 v. J. 691: fuit iudecatum, ut Ch. ipso extromento in noctis XL .. in nostri presenciam dibiat presentari .. sin autem non potuerit, quod lex de tali causa edocit, exinde susteniat. Pérard S. 148, H. 370: decreve- runt iudicium, quod post XL noctes in proximo mallo ipse H. contra A. iurasset aut quod lex est fecisset. Cap. de latronibus c. 7, I 180: et si servus ad ex- cusandum aut ad emendandum iudicatus fuerit, dominus eius faciat .. Für das kentische Recht folgt dieselbe Form des Urteils aus Hlothar u. Eadric 10: Wenn die Rechtssache entschieden ist, so thue der Mann in sieben Nächten dem andern sein Recht, geschehe es in Gut oder Eid (gecwime an feo ođđe an âđe); d. h. er zahle oder schwöre, wie das Urteil lautete. 49 Vgl. Franken, Das franz. Pfandrecht des Mittelalters, 1879, S. 230 ff. 50 Pérard S. 34, Nr. 15, H. 220: iudicatum fuit, ut tale testimonia aremisset in proximo mallo post XL noctes .. aut faciat quod lex est.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/381>, abgerufen am 22.11.2024.