Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 101. Urteil und Urteilschelte.
geschrieben ist, an den König zu berichten 38. Die Folgen der ab-
sichtlichen Rechtsbeugung sind in den verschiedenen Rechten ver-
schieden normiert. Bei den Westgoten hat der iudex der Partei
doppelt zu erstatten, was er ihr auf Grund seines Urteils hat weg-
nehmen lassen. Der baierische iudex zahlt doppelten Schadenersatz
und ein Friedensgeld von 40 Solidi 39. Nach dem Rechte der Ala-
mannen verwirkt der iudex einfachen Ersatz und eine Busse von
12 Solidi 40. Dieselbe Busse schuldet die Partei, die ein gerechtes Ur-
teil schalt 41.

Das Scheltungsverfahren gewann noch im Laufe der fränkischen
Periode die Form eines Rechtszuges, kraft dessen über die Schelte
von einem anderen Gerichte entschieden wurde. So bei den Ala-
mannen, wo nach einer Satzung des Herzogs Lantfrid, die in diesem
Punkte ein älteres uns unbekanntes Verfahren beseitigte, von einer
Versammlung anderer Judices über das berufene Urteil erkannt wer-
den sollte. In karolingischer Zeit finden wir, dass die Schelte an das
Königsgericht gebracht werden darf 42. Damit war zwar ein anderes
als das volksgerichtliche Beweisverfahren nicht mit Notwendigkeit ge-
geben. Allein da das Königsgericht nicht an die strengen Formen des
Volksrechtes gebunden war, so konnte auch eine freie Untersuchung
der Streitfrage Platz greifen. Eine nicht ganz deutliche Vorschrift
Karls des Grossen bestimmt, dass derjenige, der sich weigert, das Urteil
der Schöffen entweder anzuerkennen oder rechtsförmlich zu schelten,
so lange in Haft gesetzt werden soll, bis er sich zu einem von beiden
entschlossen hat 43.


38 Lex Burg. prima const. § 10. 11 u. tit. 90.
39 Lex Baiuw. II 17. 18.
40 Lex Alam. 41, 1. 2. Es gehört zum bussfälligen Thatbestand, dass das
Urteil per cupiditatem aut per invidiam alicuius aut per timorem gefunden wor-
den sei. Den Fall der absichtslosen Rechtsverletzung fasst die Lex nicht ins Auge.
41 Dagegen setzt ein jüngerer Zusatz zu Lex Alam. 44 eine Brüche von
150 Solidi an den König und eine Busse von 60 Solidi an den Urteiler oder aber
Verwirkung des halben Vermögens, wenn der Scheltende mit seinem Gegenurteil
ohne Folger blieb. Vgl. Schwabenspiegel Lehnr. Lassberg c. 17: widerwirfet ein
man ein urteil vor sinem herren und wirt er selbe dritte, die im helfent und im
volgent, er belibet ane buzze unde hat er nieman der im volge, so sol er sinem
herren wetten sine buzze.
42 Cap. Pipp. v. J. 754/5, c. 7, I 32. Cap. Baw. I 159, c. 7. Cap. Sax.
v. J. 797, c. 4, I 71. Aus den sächsischen Gerichtsgemeinden konnte eine Rechts-
sache aus Anlass einer Urteilschelte dreimal vor das Königsgericht gezogen werden.
43 Cap. miss. Theod. II, v. J. 805, c. 8, I 123: De clamatoribus vel causi-
dicis, qui nec iudicium scabinorum adquiescere nec blasfemare volunt, antiqua con-

§ 101. Urteil und Urteilschelte.
geschrieben ist, an den König zu berichten 38. Die Folgen der ab-
sichtlichen Rechtsbeugung sind in den verschiedenen Rechten ver-
schieden normiert. Bei den Westgoten hat der iudex der Partei
doppelt zu erstatten, was er ihr auf Grund seines Urteils hat weg-
nehmen lassen. Der baierische iudex zahlt doppelten Schadenersatz
und ein Friedensgeld von 40 Solidi 39. Nach dem Rechte der Ala-
mannen verwirkt der iudex einfachen Ersatz und eine Buſse von
12 Solidi 40. Dieselbe Buſse schuldet die Partei, die ein gerechtes Ur-
teil schalt 41.

Das Scheltungsverfahren gewann noch im Laufe der fränkischen
Periode die Form eines Rechtszuges, kraft dessen über die Schelte
von einem anderen Gerichte entschieden wurde. So bei den Ala-
mannen, wo nach einer Satzung des Herzogs Lantfrid, die in diesem
Punkte ein älteres uns unbekanntes Verfahren beseitigte, von einer
Versammlung anderer Judices über das berufene Urteil erkannt wer-
den sollte. In karolingischer Zeit finden wir, daſs die Schelte an das
Königsgericht gebracht werden darf 42. Damit war zwar ein anderes
als das volksgerichtliche Beweisverfahren nicht mit Notwendigkeit ge-
geben. Allein da das Königsgericht nicht an die strengen Formen des
Volksrechtes gebunden war, so konnte auch eine freie Untersuchung
der Streitfrage Platz greifen. Eine nicht ganz deutliche Vorschrift
Karls des Groſsen bestimmt, daſs derjenige, der sich weigert, das Urteil
der Schöffen entweder anzuerkennen oder rechtsförmlich zu schelten,
so lange in Haft gesetzt werden soll, bis er sich zu einem von beiden
entschlossen hat 43.


38 Lex Burg. prima const. § 10. 11 u. tit. 90.
39 Lex Baiuw. II 17. 18.
40 Lex Alam. 41, 1. 2. Es gehört zum buſsfälligen Thatbestand, daſs das
Urteil per cupiditatem aut per invidiam alicuius aut per timorem gefunden wor-
den sei. Den Fall der absichtslosen Rechtsverletzung faſst die Lex nicht ins Auge.
41 Dagegen setzt ein jüngerer Zusatz zu Lex Alam. 44 eine Brüche von
150 Solidi an den König und eine Buſse von 60 Solidi an den Urteiler oder aber
Verwirkung des halben Vermögens, wenn der Scheltende mit seinem Gegenurteil
ohne Folger blieb. Vgl. Schwabenspiegel Lehnr. Laſsberg c. 17: widerwirfet ein
man ein urteil vor sinem herren und wirt er selbe dritte, die im helfent und im
volgent, er belibet ane bůzze unde hat er nieman der im volge, so sol er sinem
herren wetten sine bůzze.
42 Cap. Pipp. v. J. 754/5, c. 7, I 32. Cap. Baw. I 159, c. 7. Cap. Sax.
v. J. 797, c. 4, I 71. Aus den sächsischen Gerichtsgemeinden konnte eine Rechts-
sache aus Anlaſs einer Urteilschelte dreimal vor das Königsgericht gezogen werden.
43 Cap. miss. Theod. II, v. J. 805, c. 8, I 123: De clamatoribus vel causi-
dicis, qui nec iudicium scabinorum adquiescere nec blasfemare volunt, antiqua con-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0379" n="361"/><fw place="top" type="header">§ 101. Urteil und Urteilschelte.</fw><lb/>
geschrieben ist, an den König zu berichten <note place="foot" n="38">Lex Burg. prima const. § 10. 11 u. tit. 90.</note>. Die Folgen der ab-<lb/>
sichtlichen Rechtsbeugung sind in den verschiedenen Rechten ver-<lb/>
schieden normiert. Bei den Westgoten hat der iudex der Partei<lb/>
doppelt zu erstatten, was er ihr auf Grund seines Urteils hat weg-<lb/>
nehmen lassen. Der baierische iudex zahlt doppelten Schadenersatz<lb/>
und ein Friedensgeld von 40 Solidi <note place="foot" n="39">Lex Baiuw. II 17. 18.</note>. Nach dem Rechte der Ala-<lb/>
mannen verwirkt der iudex einfachen Ersatz und eine Bu&#x017F;se von<lb/>
12 Solidi <note place="foot" n="40">Lex Alam. 41, 1. 2. Es gehört zum bu&#x017F;sfälligen Thatbestand, da&#x017F;s das<lb/>
Urteil per cupiditatem aut per invidiam alicuius aut per timorem gefunden wor-<lb/>
den sei. Den Fall der absichtslosen Rechtsverletzung fa&#x017F;st die Lex nicht ins Auge.</note>. Dieselbe Bu&#x017F;se schuldet die Partei, die ein gerechtes Ur-<lb/>
teil schalt <note place="foot" n="41">Dagegen setzt ein jüngerer Zusatz zu Lex Alam. 44 eine Brüche von<lb/>
150 Solidi an den König und eine Bu&#x017F;se von 60 Solidi an den Urteiler oder aber<lb/>
Verwirkung des halben Vermögens, wenn der Scheltende mit seinem Gegenurteil<lb/>
ohne Folger blieb. Vgl. Schwabenspiegel Lehnr. La&#x017F;sberg c. 17: widerwirfet ein<lb/>
man ein urteil vor sinem herren und wirt er selbe dritte, die im helfent und im<lb/>
volgent, er belibet ane b&#x016F;zze unde hat er nieman der im volge, so sol er sinem<lb/>
herren wetten sine b&#x016F;zze.</note>.</p><lb/>
              <p>Das Scheltungsverfahren gewann noch im Laufe der fränkischen<lb/>
Periode die Form eines Rechtszuges, kraft dessen über die Schelte<lb/>
von einem anderen Gerichte entschieden wurde. So bei den Ala-<lb/>
mannen, wo nach einer Satzung des Herzogs Lantfrid, die in diesem<lb/>
Punkte ein älteres uns unbekanntes Verfahren beseitigte, von einer<lb/>
Versammlung anderer Judices über das berufene Urteil erkannt wer-<lb/>
den sollte. In karolingischer Zeit finden wir, da&#x017F;s die Schelte an das<lb/>
Königsgericht gebracht werden darf <note place="foot" n="42">Cap. Pipp. v. J. 754/5, c. 7, I 32. Cap. Baw. I 159, c. 7. Cap. Sax.<lb/>
v. J. 797, c. 4, I 71. Aus den sächsischen Gerichtsgemeinden konnte eine Rechts-<lb/>
sache aus Anla&#x017F;s einer Urteilschelte dreimal vor das Königsgericht gezogen werden.</note>. Damit war zwar ein anderes<lb/>
als das volksgerichtliche Beweisverfahren nicht mit Notwendigkeit ge-<lb/>
geben. Allein da das Königsgericht nicht an die strengen Formen des<lb/>
Volksrechtes gebunden war, so konnte auch eine freie Untersuchung<lb/>
der Streitfrage Platz greifen. Eine nicht ganz deutliche Vorschrift<lb/>
Karls des Gro&#x017F;sen bestimmt, da&#x017F;s derjenige, der sich weigert, das Urteil<lb/>
der Schöffen entweder anzuerkennen oder rechtsförmlich zu schelten,<lb/>
so lange in Haft gesetzt werden soll, bis er sich zu einem von beiden<lb/>
entschlossen hat <note xml:id="seg2pn_93_1" next="#seg2pn_93_2" place="foot" n="43">Cap. miss. Theod. II, v. J. 805, c. 8, I 123: De clamatoribus vel causi-<lb/>
dicis, qui nec iudicium scabinorum adquiescere nec blasfemare volunt, antiqua con-</note>.</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[361/0379] § 101. Urteil und Urteilschelte. geschrieben ist, an den König zu berichten 38. Die Folgen der ab- sichtlichen Rechtsbeugung sind in den verschiedenen Rechten ver- schieden normiert. Bei den Westgoten hat der iudex der Partei doppelt zu erstatten, was er ihr auf Grund seines Urteils hat weg- nehmen lassen. Der baierische iudex zahlt doppelten Schadenersatz und ein Friedensgeld von 40 Solidi 39. Nach dem Rechte der Ala- mannen verwirkt der iudex einfachen Ersatz und eine Buſse von 12 Solidi 40. Dieselbe Buſse schuldet die Partei, die ein gerechtes Ur- teil schalt 41. Das Scheltungsverfahren gewann noch im Laufe der fränkischen Periode die Form eines Rechtszuges, kraft dessen über die Schelte von einem anderen Gerichte entschieden wurde. So bei den Ala- mannen, wo nach einer Satzung des Herzogs Lantfrid, die in diesem Punkte ein älteres uns unbekanntes Verfahren beseitigte, von einer Versammlung anderer Judices über das berufene Urteil erkannt wer- den sollte. In karolingischer Zeit finden wir, daſs die Schelte an das Königsgericht gebracht werden darf 42. Damit war zwar ein anderes als das volksgerichtliche Beweisverfahren nicht mit Notwendigkeit ge- geben. Allein da das Königsgericht nicht an die strengen Formen des Volksrechtes gebunden war, so konnte auch eine freie Untersuchung der Streitfrage Platz greifen. Eine nicht ganz deutliche Vorschrift Karls des Groſsen bestimmt, daſs derjenige, der sich weigert, das Urteil der Schöffen entweder anzuerkennen oder rechtsförmlich zu schelten, so lange in Haft gesetzt werden soll, bis er sich zu einem von beiden entschlossen hat 43. 38 Lex Burg. prima const. § 10. 11 u. tit. 90. 39 Lex Baiuw. II 17. 18. 40 Lex Alam. 41, 1. 2. Es gehört zum buſsfälligen Thatbestand, daſs das Urteil per cupiditatem aut per invidiam alicuius aut per timorem gefunden wor- den sei. Den Fall der absichtslosen Rechtsverletzung faſst die Lex nicht ins Auge. 41 Dagegen setzt ein jüngerer Zusatz zu Lex Alam. 44 eine Brüche von 150 Solidi an den König und eine Buſse von 60 Solidi an den Urteiler oder aber Verwirkung des halben Vermögens, wenn der Scheltende mit seinem Gegenurteil ohne Folger blieb. Vgl. Schwabenspiegel Lehnr. Laſsberg c. 17: widerwirfet ein man ein urteil vor sinem herren und wirt er selbe dritte, die im helfent und im volgent, er belibet ane bůzze unde hat er nieman der im volge, so sol er sinem herren wetten sine bůzze. 42 Cap. Pipp. v. J. 754/5, c. 7, I 32. Cap. Baw. I 159, c. 7. Cap. Sax. v. J. 797, c. 4, I 71. Aus den sächsischen Gerichtsgemeinden konnte eine Rechts- sache aus Anlaſs einer Urteilschelte dreimal vor das Königsgericht gezogen werden. 43 Cap. miss. Theod. II, v. J. 805, c. 8, I 123: De clamatoribus vel causi- dicis, qui nec iudicium scabinorum adquiescere nec blasfemare volunt, antiqua con-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/379
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/379>, abgerufen am 20.05.2024.