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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 96. Die Kirche.
vollständige Übergehung der Synode als rechtswidrigen Gewaltakt
ansah.

Was die übrigen Kleriker anbelangt, so stellten die kirchlichen
Synoden die Forderung auf, dass gegen sie kein weltlicher Richter
seine Zwangs- oder Strafgewalt ohne Vorwissen 9 des Bischofs geltend
mache. Das Edikt Chlothars II. v. J. 614, welches die darüber ent-
standenen Streitpunkte erledigte, hebt in einer schwer verständlichen
Stelle unter den weltlichen Rechtssachen die Kriminalfälle im Sinne
von causae maiores heraus 10. In solchen hielt der Staat seine
Strafgewalt fest. Gegen niedere Kleriker blieb nämlich dem weltlichen
Richter das Strafverfahren ohne Beschränkung vorbehalten, wenn hand-
hafte That oder eine gleichwertige prozessualische Lage, wie Geständ-
nis des Schuldigen, vorhanden war 11. Abgesehen davon durfte sie der

Leodegarii c. 12, Bouquet II 619, und vielleicht noch einzelne der Fälle zu er-
klären, die Nissl S. 59 anführt.
9 Conc. Aurel. v. J. 541, c. 20: praetermisso pontifice seu praeposito eccle-
siae. Conc. Matisc. v. J. 585, c. 10: .. neque ... iniuriam aliquam inscio episcopo
eorum patiantur; sed quidquid quis adversus eos habuerit, in notitiam episcopi
proprii perducat. Concil. Paris. v. J. 614, c. 4: ut nullus iudicum neque pres-
byterum neque diaconum vel clericum aut iuniores ecclesiae sine scientia pontificis
per se distringat aut damnare praesumat.
10 Ed. Chloth. c. 4, I 21: ut nullum iudicum de qualebit ordine clerecus de
civilibus causis praeter (?) criminale negucia per se distringere aut damnare praesu-
mat, nisi convincitur manefestus, excepto presbytero aut diacono; qui convicti fue-
rint de crimine capitali, iuxta canones distringantur et cum ponteficibus examinen-
tur. Die causae civiles schliessen das criminale negocium in sich; sie sind daher
als die den weltlichen Richter betreffenden Sachen gemeint. Siehe darüber unten § 97,
Anm. 4. Der verschlungene Satzbau macht den Eindruck, als ob eine ursprüng-
liche Proposition im Wege des Kompromisses mehrfach emendiert worden wäre.
Das Maximum dessen, was das Edikt gewährte, wird durch die oben in Anm. 9
ausgeschriebene Stelle des fünften Pariser Konzils angedeutet, über dessen Forde-
rungen das Edikt sicherlich nicht hinausging. Um das Minimum der gemachten
Konzessionen abzuwägen, bietet sich ein Anhaltspunkt in dem Kanon einer örtlich
unbestimmten Synode, die bald nach 614 abgehalten wurde, insofern darin an-
erkannt wird, dass die Bestimmungen des Ediktes in nullo fidei catholicae vel
ecclesiasticae regulae contrariae sunt inventae. Nissl S. 205, Anm. 2.
11 Die jetzt herrschende Ansicht fasst die Worte: nisi convincitur manifestus,
als die Bedingung, dass die Schuld klar bewiesen sei. Allein diese Voraussetzung
ist selbstverständlich; sie gilt auch bei Laien, ganz abgesehen davon, dass das
germanische Beweisrecht einen zweifelhaften Schuldbeweis nicht kennt. Auch
würde convincere allein dafür genügen, wie es der Lex Salica an zahllosen Stellen
und wie es der Praeceptio Chlothars II. c. 3 (habita discussione fortasse convictus)
genügt. Unerfindlich ist, wie Nissl S. 121 manifestus mit non inauditus zu-
sammenstellen und in dem Vergleich von Praecept. c. 3 und Ed. c. 22 mit Ed.

§ 96. Die Kirche.
vollständige Übergehung der Synode als rechtswidrigen Gewaltakt
ansah.

Was die übrigen Kleriker anbelangt, so stellten die kirchlichen
Synoden die Forderung auf, daſs gegen sie kein weltlicher Richter
seine Zwangs- oder Strafgewalt ohne Vorwissen 9 des Bischofs geltend
mache. Das Edikt Chlothars II. v. J. 614, welches die darüber ent-
standenen Streitpunkte erledigte, hebt in einer schwer verständlichen
Stelle unter den weltlichen Rechtssachen die Kriminalfälle im Sinne
von causae maiores heraus 10. In solchen hielt der Staat seine
Strafgewalt fest. Gegen niedere Kleriker blieb nämlich dem weltlichen
Richter das Strafverfahren ohne Beschränkung vorbehalten, wenn hand-
hafte That oder eine gleichwertige prozessualische Lage, wie Geständ-
nis des Schuldigen, vorhanden war 11. Abgesehen davon durfte sie der

Leodegarii c. 12, Bouquet II 619, und vielleicht noch einzelne der Fälle zu er-
klären, die Niſsl S. 59 anführt.
9 Conc. Aurel. v. J. 541, c. 20: praetermisso pontifice seu praeposito eccle-
siae. Conc. Matisc. v. J. 585, c. 10: .. neque … iniuriam aliquam inscio episcopo
eorum patiantur; sed quidquid quis adversus eos habuerit, in notitiam episcopi
proprii perducat. Concil. Paris. v. J. 614, c. 4: ut nullus iudicum neque pres-
byterum neque diaconum vel clericum aut iuniores ecclesiae sine scientia pontificis
per se distringat aut damnare praesumat.
10 Ed. Chloth. c. 4, I 21: ut nullum iudicum de qualebit ordine clerecus de
civilibus causis praeter (?) criminale negucia per se distringere aut damnare praesu-
mat, nisi convincitur manefestus, excepto presbytero aut diacono; qui convicti fue-
rint de crimine capitali, iuxta canones distringantur et cum ponteficibus examinen-
tur. Die causae civiles schlieſsen das criminale negocium in sich; sie sind daher
als die den weltlichen Richter betreffenden Sachen gemeint. Siehe darüber unten § 97,
Anm. 4. Der verschlungene Satzbau macht den Eindruck, als ob eine ursprüng-
liche Proposition im Wege des Kompromisses mehrfach emendiert worden wäre.
Das Maximum dessen, was das Edikt gewährte, wird durch die oben in Anm. 9
ausgeschriebene Stelle des fünften Pariser Konzils angedeutet, über dessen Forde-
rungen das Edikt sicherlich nicht hinausging. Um das Minimum der gemachten
Konzessionen abzuwägen, bietet sich ein Anhaltspunkt in dem Kanon einer örtlich
unbestimmten Synode, die bald nach 614 abgehalten wurde, insofern darin an-
erkannt wird, daſs die Bestimmungen des Ediktes in nullo fidei catholicae vel
ecclesiasticae regulae contrariae sunt inventae. Niſsl S. 205, Anm. 2.
11 Die jetzt herrschende Ansicht faſst die Worte: nisi convincitur manifestus,
als die Bedingung, daſs die Schuld klar bewiesen sei. Allein diese Voraussetzung
ist selbstverständlich; sie gilt auch bei Laien, ganz abgesehen davon, daſs das
germanische Beweisrecht einen zweifelhaften Schuldbeweis nicht kennt. Auch
würde convincere allein dafür genügen, wie es der Lex Salica an zahllosen Stellen
und wie es der Praeceptio Chlothars II. c. 3 (habita discussione fortasse convictus)
genügt. Unerfindlich ist, wie Niſsl S. 121 manifestus mit non inauditus zu-
sammenstellen und in dem Vergleich von Praecept. c. 3 und Ed. c. 22 mit Ed.
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[315/0333] § 96. Die Kirche. vollständige Übergehung der Synode als rechtswidrigen Gewaltakt ansah. Was die übrigen Kleriker anbelangt, so stellten die kirchlichen Synoden die Forderung auf, daſs gegen sie kein weltlicher Richter seine Zwangs- oder Strafgewalt ohne Vorwissen 9 des Bischofs geltend mache. Das Edikt Chlothars II. v. J. 614, welches die darüber ent- standenen Streitpunkte erledigte, hebt in einer schwer verständlichen Stelle unter den weltlichen Rechtssachen die Kriminalfälle im Sinne von causae maiores heraus 10. In solchen hielt der Staat seine Strafgewalt fest. Gegen niedere Kleriker blieb nämlich dem weltlichen Richter das Strafverfahren ohne Beschränkung vorbehalten, wenn hand- hafte That oder eine gleichwertige prozessualische Lage, wie Geständ- nis des Schuldigen, vorhanden war 11. Abgesehen davon durfte sie der 8 9 Conc. Aurel. v. J. 541, c. 20: praetermisso pontifice seu praeposito eccle- siae. Conc. Matisc. v. J. 585, c. 10: .. neque … iniuriam aliquam inscio episcopo eorum patiantur; sed quidquid quis adversus eos habuerit, in notitiam episcopi proprii perducat. Concil. Paris. v. J. 614, c. 4: ut nullus iudicum neque pres- byterum neque diaconum vel clericum aut iuniores ecclesiae sine scientia pontificis per se distringat aut damnare praesumat. 10 Ed. Chloth. c. 4, I 21: ut nullum iudicum de qualebit ordine clerecus de civilibus causis praeter (?) criminale negucia per se distringere aut damnare praesu- mat, nisi convincitur manefestus, excepto presbytero aut diacono; qui convicti fue- rint de crimine capitali, iuxta canones distringantur et cum ponteficibus examinen- tur. Die causae civiles schlieſsen das criminale negocium in sich; sie sind daher als die den weltlichen Richter betreffenden Sachen gemeint. Siehe darüber unten § 97, Anm. 4. Der verschlungene Satzbau macht den Eindruck, als ob eine ursprüng- liche Proposition im Wege des Kompromisses mehrfach emendiert worden wäre. Das Maximum dessen, was das Edikt gewährte, wird durch die oben in Anm. 9 ausgeschriebene Stelle des fünften Pariser Konzils angedeutet, über dessen Forde- rungen das Edikt sicherlich nicht hinausging. Um das Minimum der gemachten Konzessionen abzuwägen, bietet sich ein Anhaltspunkt in dem Kanon einer örtlich unbestimmten Synode, die bald nach 614 abgehalten wurde, insofern darin an- erkannt wird, daſs die Bestimmungen des Ediktes in nullo fidei catholicae vel ecclesiasticae regulae contrariae sunt inventae. Niſsl S. 205, Anm. 2. 11 Die jetzt herrschende Ansicht faſst die Worte: nisi convincitur manifestus, als die Bedingung, daſs die Schuld klar bewiesen sei. Allein diese Voraussetzung ist selbstverständlich; sie gilt auch bei Laien, ganz abgesehen davon, daſs das germanische Beweisrecht einen zweifelhaften Schuldbeweis nicht kennt. Auch würde convincere allein dafür genügen, wie es der Lex Salica an zahllosen Stellen und wie es der Praeceptio Chlothars II. c. 3 (habita discussione fortasse convictus) genügt. Unerfindlich ist, wie Niſsl S. 121 manifestus mit non inauditus zu- sammenstellen und in dem Vergleich von Praecept. c. 3 und Ed. c. 22 mit Ed. 8 Leodegarii c. 12, Bouquet II 619, und vielleicht noch einzelne der Fälle zu er- klären, die Niſsl S. 59 anführt.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/333>, abgerufen am 19.05.2024.