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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 95. Die Vögte.

In dem Verhältnis des Vogtes zu den Leuten der Herrschaft ist
dessen äussere und innere Rolle zu unterscheiden. Nach aussen hin
vermittelt der Vogt die Erfüllung gewisser Pflichten gegenüber der
Staatsgewalt. Er muss die Verbrecher unter den Grundholden und Im-
munitätsleuten an den öffentlichen Beamten ausliefern; er hat diese
auf Klage eines Dritten im öffentlichen Gerichte zu stellen, zu ver-
treten oder zu verbeistanden, sofern der Rechtsfall über die Kompe-
tenz seiner Herrschaft hinausgeht. Er soll andererseits die Rechte
der homines im öffentlichen Gerichte gegen Dritte wahrnehmen.
Soweit die Hintersassen zum Heerdienst verpflichtet sind, hat der
Vogt sie auszuheben 40. In allen diesen Beziehungen vertritt er den
Grund- oder Immunitätsherrn nach aussen in den Pflichten und Rech-
ten, die dieser hinsichtlich seiner Hintersassen hat.

Innerhalb der Herrschaft ist er iudex, Amtmann mit gerichtlichen
und polizeilichen Funktionen. Er verwaltet die dem Herrn über
seine Leute zustehende Gerichtsbarkeit, beziehungsweise jene grund-
herrlichen Befugnisse, die sich zur eigentlichen Gerichtsbarkeit noch
nicht verdichtet haben. Insbesondere hat er im Namen seines Herrn,
wenn Dritte Ansprüche gegen Hintersassen erheben, dafür zu sorgen,
dass jenen rechtliche Genugthuung zu teil werde. Da die Gerichts-
gewalt des Immunitätsherrn auf causae minores beschränkt ist und
somit der des Centenars gleichsteht, wird der Vogt, der sie ausübt,
gelegentlich auch centenarius 41 genannt.

Mit der Stellung des Vogtes konnte ein Amt von rein wirtschaft-
lichen Funktionen verbunden sein. Doch war es natürlich nicht aus-
geschlossen, dass keiner der Gutsverwalter oder Wirtschaftsbeamten
mit der Vogtei betraut war, diese vielmehr ein selbständiges Amt
bildete. Den weltlichen Grund- und Immunitätsherren stand es frei,
sowohl die Vertretung ihrer Leute im öffentlichen Gerichte als auch
die innere Gerichtsbarkeit persönlich auszuüben 42. Bei den geist-
lichen Grund- und Immunitätsherren war seit karolingischer Zeit die
Vertretung der Leute durch den Vogt vorgeschrieben. Dagegen mochte
die innere Jurisdiktion von dem Bischofe 43 oder Abte selbst oder von

40 Cap. de exerc. promov. v. J. 808, c. 3, I 137. Cap. incerti anni c. 5,
I 185.
41 Cap. miss. v. J. 802, c. 13, I 93. Cap. de exerc. promov. c. 3, I 137, wo
der am Schluss erwähnte advocatus dem Eingangs genannten centenarius entspricht.
Sohm, Reichs- u. GV I 267. Waitz, VG IV 467, VII 319, Anm. 3.
42 Mühlbacher Nr. 1751: Ad publicum iam fati comitis mallum scilicet
ipse Heimo seu vicarius eius legem ac iustitiam exigendam vel perpetrandam
pergat. Et si forsitan de Maravorum regno aliquis causa justicie supervenerit, si
43 Mühlbacher Nr. 1529 (v. J. 881): coram nulla iudiciaria potestate exa-
minentur nisi coram episcopo aut advocato, quem eiusdem loci episcopus elegerit.
§ 95. Die Vögte.

In dem Verhältnis des Vogtes zu den Leuten der Herrschaft ist
dessen äuſsere und innere Rolle zu unterscheiden. Nach auſsen hin
vermittelt der Vogt die Erfüllung gewisser Pflichten gegenüber der
Staatsgewalt. Er muſs die Verbrecher unter den Grundholden und Im-
munitätsleuten an den öffentlichen Beamten ausliefern; er hat diese
auf Klage eines Dritten im öffentlichen Gerichte zu stellen, zu ver-
treten oder zu verbeistanden, sofern der Rechtsfall über die Kompe-
tenz seiner Herrschaft hinausgeht. Er soll andererseits die Rechte
der homines im öffentlichen Gerichte gegen Dritte wahrnehmen.
Soweit die Hintersassen zum Heerdienst verpflichtet sind, hat der
Vogt sie auszuheben 40. In allen diesen Beziehungen vertritt er den
Grund- oder Immunitätsherrn nach auſsen in den Pflichten und Rech-
ten, die dieser hinsichtlich seiner Hintersassen hat.

Innerhalb der Herrschaft ist er iudex, Amtmann mit gerichtlichen
und polizeilichen Funktionen. Er verwaltet die dem Herrn über
seine Leute zustehende Gerichtsbarkeit, beziehungsweise jene grund-
herrlichen Befugnisse, die sich zur eigentlichen Gerichtsbarkeit noch
nicht verdichtet haben. Insbesondere hat er im Namen seines Herrn,
wenn Dritte Ansprüche gegen Hintersassen erheben, dafür zu sorgen,
daſs jenen rechtliche Genugthuung zu teil werde. Da die Gerichts-
gewalt des Immunitätsherrn auf causae minores beschränkt ist und
somit der des Centenars gleichsteht, wird der Vogt, der sie ausübt,
gelegentlich auch centenarius 41 genannt.

Mit der Stellung des Vogtes konnte ein Amt von rein wirtschaft-
lichen Funktionen verbunden sein. Doch war es natürlich nicht aus-
geschlossen, daſs keiner der Gutsverwalter oder Wirtschaftsbeamten
mit der Vogtei betraut war, diese vielmehr ein selbständiges Amt
bildete. Den weltlichen Grund- und Immunitätsherren stand es frei,
sowohl die Vertretung ihrer Leute im öffentlichen Gerichte als auch
die innere Gerichtsbarkeit persönlich auszuüben 42. Bei den geist-
lichen Grund- und Immunitätsherren war seit karolingischer Zeit die
Vertretung der Leute durch den Vogt vorgeschrieben. Dagegen mochte
die innere Jurisdiktion von dem Bischofe 43 oder Abte selbst oder von

40 Cap. de exerc. promov. v. J. 808, c. 3, I 137. Cap. incerti anni c. 5,
I 185.
41 Cap. miss. v. J. 802, c. 13, I 93. Cap. de exerc. promov. c. 3, I 137, wo
der am Schluſs erwähnte advocatus dem Eingangs genannten centenarius entspricht.
Sohm, Reichs- u. GV I 267. Waitz, VG IV 467, VII 319, Anm. 3.
42 Mühlbacher Nr. 1751: Ad publicum iam fati comitis mallum scilicet
ipse Heimo seu vicarius eius legem ac iustitiam exigendam vel perpetrandam
pergat. Et si forsitan de Maravorum regno aliquis causa justicie supervenerit, si
43 Mühlbacher Nr. 1529 (v. J. 881): coram nulla iudiciaria potestate exa-
minentur nisi coram episcopo aut advocato, quem eiusdem loci episcopus elegerit.
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[308/0326] § 95. Die Vögte. In dem Verhältnis des Vogtes zu den Leuten der Herrschaft ist dessen äuſsere und innere Rolle zu unterscheiden. Nach auſsen hin vermittelt der Vogt die Erfüllung gewisser Pflichten gegenüber der Staatsgewalt. Er muſs die Verbrecher unter den Grundholden und Im- munitätsleuten an den öffentlichen Beamten ausliefern; er hat diese auf Klage eines Dritten im öffentlichen Gerichte zu stellen, zu ver- treten oder zu verbeistanden, sofern der Rechtsfall über die Kompe- tenz seiner Herrschaft hinausgeht. Er soll andererseits die Rechte der homines im öffentlichen Gerichte gegen Dritte wahrnehmen. Soweit die Hintersassen zum Heerdienst verpflichtet sind, hat der Vogt sie auszuheben 40. In allen diesen Beziehungen vertritt er den Grund- oder Immunitätsherrn nach auſsen in den Pflichten und Rech- ten, die dieser hinsichtlich seiner Hintersassen hat. Innerhalb der Herrschaft ist er iudex, Amtmann mit gerichtlichen und polizeilichen Funktionen. Er verwaltet die dem Herrn über seine Leute zustehende Gerichtsbarkeit, beziehungsweise jene grund- herrlichen Befugnisse, die sich zur eigentlichen Gerichtsbarkeit noch nicht verdichtet haben. Insbesondere hat er im Namen seines Herrn, wenn Dritte Ansprüche gegen Hintersassen erheben, dafür zu sorgen, daſs jenen rechtliche Genugthuung zu teil werde. Da die Gerichts- gewalt des Immunitätsherrn auf causae minores beschränkt ist und somit der des Centenars gleichsteht, wird der Vogt, der sie ausübt, gelegentlich auch centenarius 41 genannt. Mit der Stellung des Vogtes konnte ein Amt von rein wirtschaft- lichen Funktionen verbunden sein. Doch war es natürlich nicht aus- geschlossen, daſs keiner der Gutsverwalter oder Wirtschaftsbeamten mit der Vogtei betraut war, diese vielmehr ein selbständiges Amt bildete. Den weltlichen Grund- und Immunitätsherren stand es frei, sowohl die Vertretung ihrer Leute im öffentlichen Gerichte als auch die innere Gerichtsbarkeit persönlich auszuüben 42. Bei den geist- lichen Grund- und Immunitätsherren war seit karolingischer Zeit die Vertretung der Leute durch den Vogt vorgeschrieben. Dagegen mochte die innere Jurisdiktion von dem Bischofe 43 oder Abte selbst oder von 40 Cap. de exerc. promov. v. J. 808, c. 3, I 137. Cap. incerti anni c. 5, I 185. 41 Cap. miss. v. J. 802, c. 13, I 93. Cap. de exerc. promov. c. 3, I 137, wo der am Schluſs erwähnte advocatus dem Eingangs genannten centenarius entspricht. Sohm, Reichs- u. GV I 267. Waitz, VG IV 467, VII 319, Anm. 3. 42 Mühlbacher Nr. 1751: Ad publicum iam fati comitis mallum scilicet ipse Heimo seu vicarius eius legem ac iustitiam exigendam vel perpetrandam pergat. Et si forsitan de Maravorum regno aliquis causa justicie supervenerit, si 43 Mühlbacher Nr. 1529 (v. J. 881): coram nulla iudiciaria potestate exa- minentur nisi coram episcopo aut advocato, quem eiusdem loci episcopus elegerit.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/326>, abgerufen am 25.11.2024.