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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 93. Die Grundherrlichkeit.
dann durch seinen Vogt dafür sorgen lasse, dass geschehe was Rech-
tens ist (iustitiam faciat). Allgemein ordnete Ludwig II. i. J. 856
an, dass freie Hintersassen nur durch Vermittlung ihres Herrn vor
das öffentliche Gericht gezogen werden sollen 33.

Mit Rücksicht auf die Haftung des Herrn wurde es Sitte, dass
man sich bei Ansprüchen an Freie in obsequio ebenso an den Herrn
wendete, wie man es wegen Handlungen von Unfreien zu thun ge-
wohnt war. Der Herr konnte dann die Untersuchung der Angelegen-
heit selbst in die Hand nehmen oder durch seinen Vogt durchführen
lassen und eventuell seinen homo anhalten, dass er dem Dritten die
rechtmässige Genugthuung zu teil werden lasse. Ausgeschlossen war
diese interne Erledigung der Streitsache in Fällen, in welchen auf
die That des Mannes eine Leibes- oder Lebensstrafe stand, da dem
Herrn eine Strafgewalt dieses Inhalts nicht zustand 34. Handelte es
sich um eine That, die das Recht der Rache begründete, so konnte
der Herr die Auslieferung oder Preisgabe des Thäters nur dadurch
vermeiden, dass er eine Sühne vermittelte, falls er nicht etwa die
That selbst vertreten wollte.

Bei Streitigkeiten freier Hintersassen untereinander war eine ge-
richtliche Kompetenz des Herrn, auch eine schiedsrichterliche, nicht
begründet. Causae maiores, die sich unter ihnen ergaben, gehörten
vor das echte Ding. In anderen Angelegenheiten konnten die freien
Hintersassen auf die schiedsrichterliche Entscheidung des Herrn oder
seines Beamten kompromittieren. Über die Hausangehörigen besass
der Hausherr eine in der Hausgenossenschaft begründete Disciplinar-
gewalt, welche in abgeschwächtem Masse thatsächlich auch auf Hinter-
sassen Anwendung finden mochte. Denn wie in der Ausstossung aus
dem Dienste gegen den freien Hausdiener, hatte der Herr in der Ent-

(servi, aldiones, libellarii), episcopus primo compellatur et ipsi per advocatum
suum secundum quod lex est iuxta conditionem singularum personarum iustitiam
faciant. Bei freien Leuten bestand dieses iustitiam facere darin, dass der Bischof
die Sache entweder durch interne Untersuchung erledigen liess oder den Mann
vor den öffentlichen Richter stellte. Über die verschiedenen Bedeutungen von
iustitiam facere siehe Beaudouin a. O. S. 60 f. Dass es sich in c. 5 des Cap. Mant.
nicht, wie Bethmann-Hollweg a. O. V 41, Anm. 31 behauptet, um Kirchen
handelt, deren Immunität vorausgesetzt wird, zeigt das vorhergehende c. 4, wo
zweifellos nicht immune Kirchen gemeint sind. Denn das Verbot, in der Kirche
und den sie umgebenden Gebäuden kein placitum abzuhalten, hätte für immune
Kirchen keinen Sinn gehabt, da die Immunität bereits das allgemeine Verbot des
introitus iudicum in sich schloss.
33 Cap. Papiense pro lege tenendum v. J. 856, c. 4, II 90.
34 Georg Meyer a. O. III 113.

§ 93. Die Grundherrlichkeit.
dann durch seinen Vogt dafür sorgen lasse, daſs geschehe was Rech-
tens ist (iustitiam faciat). Allgemein ordnete Ludwig II. i. J. 856
an, daſs freie Hintersassen nur durch Vermittlung ihres Herrn vor
das öffentliche Gericht gezogen werden sollen 33.

Mit Rücksicht auf die Haftung des Herrn wurde es Sitte, daſs
man sich bei Ansprüchen an Freie in obsequio ebenso an den Herrn
wendete, wie man es wegen Handlungen von Unfreien zu thun ge-
wohnt war. Der Herr konnte dann die Untersuchung der Angelegen-
heit selbst in die Hand nehmen oder durch seinen Vogt durchführen
lassen und eventuell seinen homo anhalten, daſs er dem Dritten die
rechtmäſsige Genugthuung zu teil werden lasse. Ausgeschlossen war
diese interne Erledigung der Streitsache in Fällen, in welchen auf
die That des Mannes eine Leibes- oder Lebensstrafe stand, da dem
Herrn eine Strafgewalt dieses Inhalts nicht zustand 34. Handelte es
sich um eine That, die das Recht der Rache begründete, so konnte
der Herr die Auslieferung oder Preisgabe des Thäters nur dadurch
vermeiden, daſs er eine Sühne vermittelte, falls er nicht etwa die
That selbst vertreten wollte.

Bei Streitigkeiten freier Hintersassen untereinander war eine ge-
richtliche Kompetenz des Herrn, auch eine schiedsrichterliche, nicht
begründet. Causae maiores, die sich unter ihnen ergaben, gehörten
vor das echte Ding. In anderen Angelegenheiten konnten die freien
Hintersassen auf die schiedsrichterliche Entscheidung des Herrn oder
seines Beamten kompromittieren. Über die Hausangehörigen besaſs
der Hausherr eine in der Hausgenossenschaft begründete Disciplinar-
gewalt, welche in abgeschwächtem Maſse thatsächlich auch auf Hinter-
sassen Anwendung finden mochte. Denn wie in der Ausstoſsung aus
dem Dienste gegen den freien Hausdiener, hatte der Herr in der Ent-

(servi, aldiones, libellarii), episcopus primo compellatur et ipsi per advocatum
suum secundum quod lex est iuxta conditionem singularum personarum iustitiam
faciant. Bei freien Leuten bestand dieses iustitiam facere darin, daſs der Bischof
die Sache entweder durch interne Untersuchung erledigen lieſs oder den Mann
vor den öffentlichen Richter stellte. Über die verschiedenen Bedeutungen von
iustitiam facere siehe Beaudouin a. O. S. 60 f. Daſs es sich in c. 5 des Cap. Mant.
nicht, wie Bethmann-Hollweg a. O. V 41, Anm. 31 behauptet, um Kirchen
handelt, deren Immunität vorausgesetzt wird, zeigt das vorhergehende c. 4, wo
zweifellos nicht immune Kirchen gemeint sind. Denn das Verbot, in der Kirche
und den sie umgebenden Gebäuden kein placitum abzuhalten, hätte für immune
Kirchen keinen Sinn gehabt, da die Immunität bereits das allgemeine Verbot des
introitus iudicum in sich schloſs.
33 Cap. Papiense pro lege tenendum v. J. 856, c. 4, II 90.
34 Georg Meyer a. O. III 113.
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[282/0300] § 93. Die Grundherrlichkeit. dann durch seinen Vogt dafür sorgen lasse, daſs geschehe was Rech- tens ist (iustitiam faciat). Allgemein ordnete Ludwig II. i. J. 856 an, daſs freie Hintersassen nur durch Vermittlung ihres Herrn vor das öffentliche Gericht gezogen werden sollen 33. Mit Rücksicht auf die Haftung des Herrn wurde es Sitte, daſs man sich bei Ansprüchen an Freie in obsequio ebenso an den Herrn wendete, wie man es wegen Handlungen von Unfreien zu thun ge- wohnt war. Der Herr konnte dann die Untersuchung der Angelegen- heit selbst in die Hand nehmen oder durch seinen Vogt durchführen lassen und eventuell seinen homo anhalten, daſs er dem Dritten die rechtmäſsige Genugthuung zu teil werden lasse. Ausgeschlossen war diese interne Erledigung der Streitsache in Fällen, in welchen auf die That des Mannes eine Leibes- oder Lebensstrafe stand, da dem Herrn eine Strafgewalt dieses Inhalts nicht zustand 34. Handelte es sich um eine That, die das Recht der Rache begründete, so konnte der Herr die Auslieferung oder Preisgabe des Thäters nur dadurch vermeiden, daſs er eine Sühne vermittelte, falls er nicht etwa die That selbst vertreten wollte. Bei Streitigkeiten freier Hintersassen untereinander war eine ge- richtliche Kompetenz des Herrn, auch eine schiedsrichterliche, nicht begründet. Causae maiores, die sich unter ihnen ergaben, gehörten vor das echte Ding. In anderen Angelegenheiten konnten die freien Hintersassen auf die schiedsrichterliche Entscheidung des Herrn oder seines Beamten kompromittieren. Über die Hausangehörigen besaſs der Hausherr eine in der Hausgenossenschaft begründete Disciplinar- gewalt, welche in abgeschwächtem Maſse thatsächlich auch auf Hinter- sassen Anwendung finden mochte. Denn wie in der Ausstoſsung aus dem Dienste gegen den freien Hausdiener, hatte der Herr in der Ent- 32 33 Cap. Papiense pro lege tenendum v. J. 856, c. 4, II 90. 34 Georg Meyer a. O. III 113. 32 (servi, aldiones, libellarii), episcopus primo compellatur et ipsi per advocatum suum secundum quod lex est iuxta conditionem singularum personarum iustitiam faciant. Bei freien Leuten bestand dieses iustitiam facere darin, daſs der Bischof die Sache entweder durch interne Untersuchung erledigen lieſs oder den Mann vor den öffentlichen Richter stellte. Über die verschiedenen Bedeutungen von iustitiam facere siehe Beaudouin a. O. S. 60 f. Daſs es sich in c. 5 des Cap. Mant. nicht, wie Bethmann-Hollweg a. O. V 41, Anm. 31 behauptet, um Kirchen handelt, deren Immunität vorausgesetzt wird, zeigt das vorhergehende c. 4, wo zweifellos nicht immune Kirchen gemeint sind. Denn das Verbot, in der Kirche und den sie umgebenden Gebäuden kein placitum abzuhalten, hätte für immune Kirchen keinen Sinn gehabt, da die Immunität bereits das allgemeine Verbot des introitus iudicum in sich schloſs.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/300>, abgerufen am 22.11.2024.