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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 93. Die Grundherrlichkeit.
sein Wissen vom Liten begangenen Todschlag hat der Herr nur als
Ungefährwerk zu vertreten; doch muss er diesfalls den Liten aus-
liefern 20 oder preisgeben 21. Nach chamavischem Rechte mag der
Herr wegen des Liten direkt belangt werden und ist er verpflichtet,
ihn vor Gericht zu stellen 22. Andererseits hat der Lite personam
standi in iudicio: er kann ohne den Herrn vor Gericht auftreten und
kann Eide schwören 23. Sicherlich hatten Schutzrecht und Haftung
des Herrn hinsichtlich des Liten, mochte er nun im Hause des Herrn
leben oder als Hintersasse angesiedelt sein, keinen geringeren Um-
fang als hinsichtlich des in Schutzhörigkeit befindlichen Freien.

Die Haftung des Herrn für freie Personen erstreckte sich jeden-
falls auf diejenigen, welche in seinem Hause lebten 24, Gasinden oder
Vassallen nicht ausgeschlossen 25. Zweifelhaft ist es, wie weit sie über
den Kreis der eigentlichen Hausgenossen hinausging. Auf freie Vas-
sallen, die ausserhalb des Herrenhofes lebten, war sie jedenfalls nicht
ausgedehnt. Auch begründete die Verleihung eines Zinsgutes an sich
keine Haftung des Herrn für den Zinsmann. Ein Freier, der neben
dem Zinsgut sonstigen Grundbesitz hatte, welcher zur Zwangsvoll-
streckung dienen und wo er manniert werden konnte, befand sich
der öffentlichen Gewalt und Dritten gegenüber in gleicher Lage, wie
jeder andere freie Grundbesitzer. Dasselbe darf unbedenklich für
den Fall der precaria oblata behauptet werden 26. Überhaupt scheint
eine Haftung des Herrn nur eingetreten zu sein, wenn der freie
Hintersasse sich in die Schutzgewalt und in das obsequium des Grund-
herrn begab. Ursprünglich mag dabei Kommendation nötig gewesen
sein. Doch ist seit Ausbildung der Hofverfassung die Haftung mit

20 Lex Sal. 35, 5.
21 Lex Sax. 18. Vgl. Berl. SB 1890, S. 832.
22 Lex Chamav. 44.
23 Siehe oben I 239.
24 Ehefrau und Kinder bleiben hier, wo es sich um die Entstehung der
Grundherrlichkeit handelt, selbstverständlich ausser Betracht.
25 Nach Formeln und Urkunden besteht die Mithiopflicht auch in Bezug auf
gasindi vel amici, also in Bezug auf Gefolgsleute, sei es freier oder unfreier Ge-
burt. Gelegentlich werden daneben noch suscepti genannt; so in den bedenklichen
Schutzbriefen für Anisola, Dipl. M. 4. 9. 50, und in Mühlbacher Nr. 89. 118.
Susceptus heisst nach spätrömischem Sprachgebrauch derjenige, der sich pro-
zessualisch vertreten lässt. Interpr. zu Lex Rom. Wisig. C. Theod. II 10, 1 und
II 11, 1. Alte Glossen erklären den susceptus als Klienten. -- Ausdrücklich nor-
miert Lex Rib. 31, 1 die Haftung des Herrn für den Freien, der sich bei ihm in
seinem obsequium befindet.
26 Siehe oben I 211.

§ 93. Die Grundherrlichkeit.
sein Wissen vom Liten begangenen Todschlag hat der Herr nur als
Ungefährwerk zu vertreten; doch muſs er diesfalls den Liten aus-
liefern 20 oder preisgeben 21. Nach chamavischem Rechte mag der
Herr wegen des Liten direkt belangt werden und ist er verpflichtet,
ihn vor Gericht zu stellen 22. Andererseits hat der Lite personam
standi in iudicio: er kann ohne den Herrn vor Gericht auftreten und
kann Eide schwören 23. Sicherlich hatten Schutzrecht und Haftung
des Herrn hinsichtlich des Liten, mochte er nun im Hause des Herrn
leben oder als Hintersasse angesiedelt sein, keinen geringeren Um-
fang als hinsichtlich des in Schutzhörigkeit befindlichen Freien.

Die Haftung des Herrn für freie Personen erstreckte sich jeden-
falls auf diejenigen, welche in seinem Hause lebten 24, Gasinden oder
Vassallen nicht ausgeschlossen 25. Zweifelhaft ist es, wie weit sie über
den Kreis der eigentlichen Hausgenossen hinausging. Auf freie Vas-
sallen, die auſserhalb des Herrenhofes lebten, war sie jedenfalls nicht
ausgedehnt. Auch begründete die Verleihung eines Zinsgutes an sich
keine Haftung des Herrn für den Zinsmann. Ein Freier, der neben
dem Zinsgut sonstigen Grundbesitz hatte, welcher zur Zwangsvoll-
streckung dienen und wo er manniert werden konnte, befand sich
der öffentlichen Gewalt und Dritten gegenüber in gleicher Lage, wie
jeder andere freie Grundbesitzer. Dasselbe darf unbedenklich für
den Fall der precaria oblata behauptet werden 26. Überhaupt scheint
eine Haftung des Herrn nur eingetreten zu sein, wenn der freie
Hintersasse sich in die Schutzgewalt und in das obsequium des Grund-
herrn begab. Ursprünglich mag dabei Kommendation nötig gewesen
sein. Doch ist seit Ausbildung der Hofverfassung die Haftung mit

20 Lex Sal. 35, 5.
21 Lex Sax. 18. Vgl. Berl. SB 1890, S. 832.
22 Lex Chamav. 44.
23 Siehe oben I 239.
24 Ehefrau und Kinder bleiben hier, wo es sich um die Entstehung der
Grundherrlichkeit handelt, selbstverständlich auſser Betracht.
25 Nach Formeln und Urkunden besteht die Mithiopflicht auch in Bezug auf
gasindi vel amici, also in Bezug auf Gefolgsleute, sei es freier oder unfreier Ge-
burt. Gelegentlich werden daneben noch suscepti genannt; so in den bedenklichen
Schutzbriefen für Anisola, Dipl. M. 4. 9. 50, und in Mühlbacher Nr. 89. 118.
Susceptus heiſst nach spätrömischem Sprachgebrauch derjenige, der sich pro-
zessualisch vertreten läſst. Interpr. zu Lex Rom. Wisig. C. Theod. II 10, 1 und
II 11, 1. Alte Glossen erklären den susceptus als Klienten. — Ausdrücklich nor-
miert Lex Rib. 31, 1 die Haftung des Herrn für den Freien, der sich bei ihm in
seinem obsequium befindet.
26 Siehe oben I 211.
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[280/0298] § 93. Die Grundherrlichkeit. sein Wissen vom Liten begangenen Todschlag hat der Herr nur als Ungefährwerk zu vertreten; doch muſs er diesfalls den Liten aus- liefern 20 oder preisgeben 21. Nach chamavischem Rechte mag der Herr wegen des Liten direkt belangt werden und ist er verpflichtet, ihn vor Gericht zu stellen 22. Andererseits hat der Lite personam standi in iudicio: er kann ohne den Herrn vor Gericht auftreten und kann Eide schwören 23. Sicherlich hatten Schutzrecht und Haftung des Herrn hinsichtlich des Liten, mochte er nun im Hause des Herrn leben oder als Hintersasse angesiedelt sein, keinen geringeren Um- fang als hinsichtlich des in Schutzhörigkeit befindlichen Freien. Die Haftung des Herrn für freie Personen erstreckte sich jeden- falls auf diejenigen, welche in seinem Hause lebten 24, Gasinden oder Vassallen nicht ausgeschlossen 25. Zweifelhaft ist es, wie weit sie über den Kreis der eigentlichen Hausgenossen hinausging. Auf freie Vas- sallen, die auſserhalb des Herrenhofes lebten, war sie jedenfalls nicht ausgedehnt. Auch begründete die Verleihung eines Zinsgutes an sich keine Haftung des Herrn für den Zinsmann. Ein Freier, der neben dem Zinsgut sonstigen Grundbesitz hatte, welcher zur Zwangsvoll- streckung dienen und wo er manniert werden konnte, befand sich der öffentlichen Gewalt und Dritten gegenüber in gleicher Lage, wie jeder andere freie Grundbesitzer. Dasselbe darf unbedenklich für den Fall der precaria oblata behauptet werden 26. Überhaupt scheint eine Haftung des Herrn nur eingetreten zu sein, wenn der freie Hintersasse sich in die Schutzgewalt und in das obsequium des Grund- herrn begab. Ursprünglich mag dabei Kommendation nötig gewesen sein. Doch ist seit Ausbildung der Hofverfassung die Haftung mit 20 Lex Sal. 35, 5. 21 Lex Sax. 18. Vgl. Berl. SB 1890, S. 832. 22 Lex Chamav. 44. 23 Siehe oben I 239. 24 Ehefrau und Kinder bleiben hier, wo es sich um die Entstehung der Grundherrlichkeit handelt, selbstverständlich auſser Betracht. 25 Nach Formeln und Urkunden besteht die Mithiopflicht auch in Bezug auf gasindi vel amici, also in Bezug auf Gefolgsleute, sei es freier oder unfreier Ge- burt. Gelegentlich werden daneben noch suscepti genannt; so in den bedenklichen Schutzbriefen für Anisola, Dipl. M. 4. 9. 50, und in Mühlbacher Nr. 89. 118. Susceptus heiſst nach spätrömischem Sprachgebrauch derjenige, der sich pro- zessualisch vertreten läſst. Interpr. zu Lex Rom. Wisig. C. Theod. II 10, 1 und II 11, 1. Alte Glossen erklären den susceptus als Klienten. — Ausdrücklich nor- miert Lex Rib. 31, 1 die Haftung des Herrn für den Freien, der sich bei ihm in seinem obsequium befindet. 26 Siehe oben I 211.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/298>, abgerufen am 22.11.2024.