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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 60. Die königliche Gewalt.
Hintersassen, eine Anzahl öffentlicher Frondienste der Unterthanen,
die Anwendung des königlichen Ehebefehls, die Ausdehnung, die der
Begriff des Hochverrats durch das römische crimen laesae maiestatis
erfuhr und wohl auch die allgemeine Huldigung der Unterthanen und
die kräftigere Ausgestaltung der königlichen Billigkeitsjustiz.

Trotz der gewaltigen Steigerung der Königsmacht ist es eine arge
Übertreibung, zu behaupten, dass die Verfassungsform des fränkischen
Reiches ein königlicher Absolutismus gewesen sei, der nicht nur das
öffentliche Recht, sondern auch Leben, Freiheit und Privatrechte der
Unterthanen dem Willen des Königs schrankenlos preisgab 3. Aller-
dings ergiebt sich aus den historischen Quellen, namentlich aus Gregor
von Tours, dass das Königtum in der Zeit der Söhne Chlothars I.,
als seine Gewalt am straffsten gespannt war, sich Akte despotischer Will-
kür erlaubte. Das war aber nicht sein verfassungsmässiges Recht,
sondern Rechtsbruch, nicht Anwendung, sondern Missbrauch der könig-
lichen Gewalt. Zudem beruht manches, was Gregor erzählt, auf
persönlichem Hasse gegen König Chilperich; anderes bringt er in
schiefem Lichte, weil ihm genügendes Verständnis des fränkischen
Rechtes fehlte, wie ihm denn überhaupt die Anschauungen über Sünde
und göttliche Strafe und über die Empfindlichkeit und den mächtigen
Zorn seiner Heiligen den Begriff des Rechtes verdunkelten 4. Nicht
selten mag, wo wir bei Gregor Gewaltthat und grausame Willkür
sehen, in Wahrheit nur ein Akt erlaubter Rache oder Vollstreckung
der Friedlosigkeit an handhaften, geständigen oder flüchtigen Ver-
brechern vorgelegen haben. Rechtswidrigkeiten werden vom Volke
als solche empfunden; es reagiert dagegen, oder der Nachfolger schafft
Remedur, wie denn z. B. Eingriffe Chilperichs und seiner Anhänger

3 Das ist der Standpunkt Fahlbecks, nach welchem die ganze fränkische
Verfassung in dem Grundsatz aufging, dass der König unbeschränkter Herr seiner
Unterthanen sei. Siehe dagegen Zeumer, Sohm a. O., W. Sickel, Göttinger
gel. Anzeigen 1890, S. 239, und vgl. Schröder, RG S. 115 f. 119.
4 Ein Beispiel für viele. Nach Greg. Tur. De virtutibus S. Juliani c. 16,
MG SS rer. Merov. I 571, liess Graf Becco einen Unfreien des heiligen Julian ver-
haften, der im Besitz eines dem Grafen abhanden gekommenen Falken betroffen
wurde, und dachte ihn wegen Diebstahls aufhängen zu lassen. Die Kirche des
Heiligen will ihn auslösen und bietet zehn Goldsolidi an; der Graf verlangt dreissig,
wird aber für seine 'avaritia', für die bewiesene 'cupiditas auri' dadurch bestraft,
dass ihn plötzlicher Wahnsinn ergreift. Offenbar kannte der heilige Julian die
Lex Salica nicht. Jener Unfreie war Schenke. Als vassus ad ministerium war er
nach Lex Salica 10, 3 allerdings auf dreissig Solidi anzuschlagen. Zehn Solidi
waren der Preis des gewöhnlichen Knechtes.

§ 60. Die königliche Gewalt.
Hintersassen, eine Anzahl öffentlicher Frondienste der Unterthanen,
die Anwendung des königlichen Ehebefehls, die Ausdehnung, die der
Begriff des Hochverrats durch das römische crimen laesae maiestatis
erfuhr und wohl auch die allgemeine Huldigung der Unterthanen und
die kräftigere Ausgestaltung der königlichen Billigkeitsjustiz.

Trotz der gewaltigen Steigerung der Königsmacht ist es eine arge
Übertreibung, zu behaupten, daſs die Verfassungsform des fränkischen
Reiches ein königlicher Absolutismus gewesen sei, der nicht nur das
öffentliche Recht, sondern auch Leben, Freiheit und Privatrechte der
Unterthanen dem Willen des Königs schrankenlos preisgab 3. Aller-
dings ergiebt sich aus den historischen Quellen, namentlich aus Gregor
von Tours, daſs das Königtum in der Zeit der Söhne Chlothars I.,
als seine Gewalt am straffsten gespannt war, sich Akte despotischer Will-
kür erlaubte. Das war aber nicht sein verfassungsmäſsiges Recht,
sondern Rechtsbruch, nicht Anwendung, sondern Miſsbrauch der könig-
lichen Gewalt. Zudem beruht manches, was Gregor erzählt, auf
persönlichem Hasse gegen König Chilperich; anderes bringt er in
schiefem Lichte, weil ihm genügendes Verständnis des fränkischen
Rechtes fehlte, wie ihm denn überhaupt die Anschauungen über Sünde
und göttliche Strafe und über die Empfindlichkeit und den mächtigen
Zorn seiner Heiligen den Begriff des Rechtes verdunkelten 4. Nicht
selten mag, wo wir bei Gregor Gewaltthat und grausame Willkür
sehen, in Wahrheit nur ein Akt erlaubter Rache oder Vollstreckung
der Friedlosigkeit an handhaften, geständigen oder flüchtigen Ver-
brechern vorgelegen haben. Rechtswidrigkeiten werden vom Volke
als solche empfunden; es reagiert dagegen, oder der Nachfolger schafft
Remedur, wie denn z. B. Eingriffe Chilperichs und seiner Anhänger

3 Das ist der Standpunkt Fahlbecks, nach welchem die ganze fränkische
Verfassung in dem Grundsatz aufging, daſs der König unbeschränkter Herr seiner
Unterthanen sei. Siehe dagegen Zeumer, Sohm a. O., W. Sickel, Göttinger
gel. Anzeigen 1890, S. 239, und vgl. Schröder, RG S. 115 f. 119.
4 Ein Beispiel für viele. Nach Greg. Tur. De virtutibus S. Juliani c. 16,
MG SS rer. Merov. I 571, lieſs Graf Becco einen Unfreien des heiligen Julian ver-
haften, der im Besitz eines dem Grafen abhanden gekommenen Falken betroffen
wurde, und dachte ihn wegen Diebstahls aufhängen zu lassen. Die Kirche des
Heiligen will ihn auslösen und bietet zehn Goldsolidi an; der Graf verlangt dreiſsig,
wird aber für seine ‘avaritia’, für die bewiesene ‘cupiditas auri’ dadurch bestraft,
daſs ihn plötzlicher Wahnsinn ergreift. Offenbar kannte der heilige Julian die
Lex Salica nicht. Jener Unfreie war Schenke. Als vassus ad ministerium war er
nach Lex Salica 10, 3 allerdings auf dreiſsig Solidi anzuschlagen. Zehn Solidi
waren der Preis des gewöhnlichen Knechtes.
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[9/0027] § 60. Die königliche Gewalt. Hintersassen, eine Anzahl öffentlicher Frondienste der Unterthanen, die Anwendung des königlichen Ehebefehls, die Ausdehnung, die der Begriff des Hochverrats durch das römische crimen laesae maiestatis erfuhr und wohl auch die allgemeine Huldigung der Unterthanen und die kräftigere Ausgestaltung der königlichen Billigkeitsjustiz. Trotz der gewaltigen Steigerung der Königsmacht ist es eine arge Übertreibung, zu behaupten, daſs die Verfassungsform des fränkischen Reiches ein königlicher Absolutismus gewesen sei, der nicht nur das öffentliche Recht, sondern auch Leben, Freiheit und Privatrechte der Unterthanen dem Willen des Königs schrankenlos preisgab 3. Aller- dings ergiebt sich aus den historischen Quellen, namentlich aus Gregor von Tours, daſs das Königtum in der Zeit der Söhne Chlothars I., als seine Gewalt am straffsten gespannt war, sich Akte despotischer Will- kür erlaubte. Das war aber nicht sein verfassungsmäſsiges Recht, sondern Rechtsbruch, nicht Anwendung, sondern Miſsbrauch der könig- lichen Gewalt. Zudem beruht manches, was Gregor erzählt, auf persönlichem Hasse gegen König Chilperich; anderes bringt er in schiefem Lichte, weil ihm genügendes Verständnis des fränkischen Rechtes fehlte, wie ihm denn überhaupt die Anschauungen über Sünde und göttliche Strafe und über die Empfindlichkeit und den mächtigen Zorn seiner Heiligen den Begriff des Rechtes verdunkelten 4. Nicht selten mag, wo wir bei Gregor Gewaltthat und grausame Willkür sehen, in Wahrheit nur ein Akt erlaubter Rache oder Vollstreckung der Friedlosigkeit an handhaften, geständigen oder flüchtigen Ver- brechern vorgelegen haben. Rechtswidrigkeiten werden vom Volke als solche empfunden; es reagiert dagegen, oder der Nachfolger schafft Remedur, wie denn z. B. Eingriffe Chilperichs und seiner Anhänger 3 Das ist der Standpunkt Fahlbecks, nach welchem die ganze fränkische Verfassung in dem Grundsatz aufging, daſs der König unbeschränkter Herr seiner Unterthanen sei. Siehe dagegen Zeumer, Sohm a. O., W. Sickel, Göttinger gel. Anzeigen 1890, S. 239, und vgl. Schröder, RG S. 115 f. 119. 4 Ein Beispiel für viele. Nach Greg. Tur. De virtutibus S. Juliani c. 16, MG SS rer. Merov. I 571, lieſs Graf Becco einen Unfreien des heiligen Julian ver- haften, der im Besitz eines dem Grafen abhanden gekommenen Falken betroffen wurde, und dachte ihn wegen Diebstahls aufhängen zu lassen. Die Kirche des Heiligen will ihn auslösen und bietet zehn Goldsolidi an; der Graf verlangt dreiſsig, wird aber für seine ‘avaritia’, für die bewiesene ‘cupiditas auri’ dadurch bestraft, daſs ihn plötzlicher Wahnsinn ergreift. Offenbar kannte der heilige Julian die Lex Salica nicht. Jener Unfreie war Schenke. Als vassus ad ministerium war er nach Lex Salica 10, 3 allerdings auf dreiſsig Solidi anzuschlagen. Zehn Solidi waren der Preis des gewöhnlichen Knechtes.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/27>, abgerufen am 28.03.2024.