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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 88. Dingpflicht und Gerichtswesen.
ein lebenslängliches Amt. Die Schöffen wurden von den königlichen
Missi unter Mitwirkung des Grafen und des Volkes aus den 'melio-
res', regelmässig wohl aus den Grundeigentümern ausgewählt. Die
Ernannten schwuren einen Amtseid, worin sie versprachen, gerecht
zu urteilen. Wegen schlechter Amtsführung konnten sie von den
Missi abgesetzt werden 26. Das Schöffenamt bezog sich auf die ge-
samte Grafschaft; jeder Schöffe konnte in jedem Gerichte der Graf-
schaft verwendet werden. Regelmässig waren sieben Schöffen als
Urteilfinder thätig 27. Sehr viel mehr als zwölf Schöffen scheint die
einzelne Grafschaft kaum gehabt zu haben. Denn eine Verordnung
Ludwigs I. verlangt, dass der Graf zu einer missatischen Versamm-
lung zwölf Schöffen mitbringe, wenn er so viele habe 28. Die Schöffen
heissen auch iudices, auditores, legum latores, legum magistri, legis
doctores. Mitunter werden sie auch Rachineburgen genannt, während
andererseits der Ausdruck scabini auch für nicht ständige Urteil-
finder, z. B. für Urteilfinder des Königsgerichtes, gebraucht wird 29.

Das Schöffengericht blieb nicht auf das fränkische und fränkisch-
romanische Rechtsgebiet beschränkt, ist aber mit nichten eine all-
gemeine Einrichtung des fränkischen Reiches geworden. Die Friesen
lehnten es völlig ab und hielten an ihrem einheimischen Asega fest.
Bei den Baiern und Alamannen vermochte es in fränkischer Zeit
wahrscheinlich nur in die missatischen Gerichte einzudringen. Da
andererseits bei den Oberdeutschen der einheimische Rechtsprecher
verschwand, lebte bei ihnen vermutlich wieder das Recht des Rich-
ters auf, beliebige Personen der Gerichtsgemeinde um das Urteil zu
fragen. Was die Sachsen anbelangt, so treten nachmals die Schöffen
nur in den echten Dingen, also in gräflichen Gerichten auf, dagegen
nicht in den gebotenen Dingen, in welchen die gesamte Gerichts-
gemeinde unter Vorsitz des Gografen thätig ist. In Italien begegnen
uns scabini zwar schon gegen Ende des achten Jahrhunderts, aber
zunächst als urteilende Richter. Erst im Laufe des neunten Jahr-
hunderts machte sich hier die dem langobardischen Rechte fremdartige
Unterscheidung zwischen Richtern und Urteilern geltend 30. Diese ist
auch bei der romanischen Bevölkerung Galliens durchgedrungen, sicher-
lich nicht sofort nach der Eroberung, sondern erst nach einem län-

26 Cap. miss. Worm. v. J. 829, c. 2--4, II 15. Hlotharii Cap. miss. v. J.
832, c. 5, II, 64.
27 Cap. miss. v. J. 803, c. 20, I 116. Waitz, VG IV 397.
28 Cap. de iusticiis fac. von circa 820, c. 2, I 295.
29 Waitz, VG IV 392, Anm. 1; 494.
30 Siehe Mitth. des Inst. für österr. Gf. a. O. S. 185 ff.

§ 88. Dingpflicht und Gerichtswesen.
ein lebenslängliches Amt. Die Schöffen wurden von den königlichen
Missi unter Mitwirkung des Grafen und des Volkes aus den ‘melio-
res’, regelmäſsig wohl aus den Grundeigentümern ausgewählt. Die
Ernannten schwuren einen Amtseid, worin sie versprachen, gerecht
zu urteilen. Wegen schlechter Amtsführung konnten sie von den
Missi abgesetzt werden 26. Das Schöffenamt bezog sich auf die ge-
samte Grafschaft; jeder Schöffe konnte in jedem Gerichte der Graf-
schaft verwendet werden. Regelmäſsig waren sieben Schöffen als
Urteilfinder thätig 27. Sehr viel mehr als zwölf Schöffen scheint die
einzelne Grafschaft kaum gehabt zu haben. Denn eine Verordnung
Ludwigs I. verlangt, daſs der Graf zu einer missatischen Versamm-
lung zwölf Schöffen mitbringe, wenn er so viele habe 28. Die Schöffen
heiſsen auch iudices, auditores, legum latores, legum magistri, legis
doctores. Mitunter werden sie auch Rachineburgen genannt, während
andererseits der Ausdruck scabini auch für nicht ständige Urteil-
finder, z. B. für Urteilfinder des Königsgerichtes, gebraucht wird 29.

Das Schöffengericht blieb nicht auf das fränkische und fränkisch-
romanische Rechtsgebiet beschränkt, ist aber mit nichten eine all-
gemeine Einrichtung des fränkischen Reiches geworden. Die Friesen
lehnten es völlig ab und hielten an ihrem einheimischen Asega fest.
Bei den Baiern und Alamannen vermochte es in fränkischer Zeit
wahrscheinlich nur in die missatischen Gerichte einzudringen. Da
andererseits bei den Oberdeutschen der einheimische Rechtsprecher
verschwand, lebte bei ihnen vermutlich wieder das Recht des Rich-
ters auf, beliebige Personen der Gerichtsgemeinde um das Urteil zu
fragen. Was die Sachsen anbelangt, so treten nachmals die Schöffen
nur in den echten Dingen, also in gräflichen Gerichten auf, dagegen
nicht in den gebotenen Dingen, in welchen die gesamte Gerichts-
gemeinde unter Vorsitz des Gografen thätig ist. In Italien begegnen
uns scabini zwar schon gegen Ende des achten Jahrhunderts, aber
zunächst als urteilende Richter. Erst im Laufe des neunten Jahr-
hunderts machte sich hier die dem langobardischen Rechte fremdartige
Unterscheidung zwischen Richtern und Urteilern geltend 30. Diese ist
auch bei der romanischen Bevölkerung Galliens durchgedrungen, sicher-
lich nicht sofort nach der Eroberung, sondern erst nach einem län-

26 Cap. miss. Worm. v. J. 829, c. 2—4, II 15. Hlotharii Cap. miss. v. J.
832, c. 5, II, 64.
27 Cap. miss. v. J. 803, c. 20, I 116. Waitz, VG IV 397.
28 Cap. de iusticiis fac. von circa 820, c. 2, I 295.
29 Waitz, VG IV 392, Anm. 1; 494.
30 Siehe Mitth. des Inst. für österr. Gf. a. O. S. 185 ff.
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[224/0242] § 88. Dingpflicht und Gerichtswesen. ein lebenslängliches Amt. Die Schöffen wurden von den königlichen Missi unter Mitwirkung des Grafen und des Volkes aus den ‘melio- res’, regelmäſsig wohl aus den Grundeigentümern ausgewählt. Die Ernannten schwuren einen Amtseid, worin sie versprachen, gerecht zu urteilen. Wegen schlechter Amtsführung konnten sie von den Missi abgesetzt werden 26. Das Schöffenamt bezog sich auf die ge- samte Grafschaft; jeder Schöffe konnte in jedem Gerichte der Graf- schaft verwendet werden. Regelmäſsig waren sieben Schöffen als Urteilfinder thätig 27. Sehr viel mehr als zwölf Schöffen scheint die einzelne Grafschaft kaum gehabt zu haben. Denn eine Verordnung Ludwigs I. verlangt, daſs der Graf zu einer missatischen Versamm- lung zwölf Schöffen mitbringe, wenn er so viele habe 28. Die Schöffen heiſsen auch iudices, auditores, legum latores, legum magistri, legis doctores. Mitunter werden sie auch Rachineburgen genannt, während andererseits der Ausdruck scabini auch für nicht ständige Urteil- finder, z. B. für Urteilfinder des Königsgerichtes, gebraucht wird 29. Das Schöffengericht blieb nicht auf das fränkische und fränkisch- romanische Rechtsgebiet beschränkt, ist aber mit nichten eine all- gemeine Einrichtung des fränkischen Reiches geworden. Die Friesen lehnten es völlig ab und hielten an ihrem einheimischen Asega fest. Bei den Baiern und Alamannen vermochte es in fränkischer Zeit wahrscheinlich nur in die missatischen Gerichte einzudringen. Da andererseits bei den Oberdeutschen der einheimische Rechtsprecher verschwand, lebte bei ihnen vermutlich wieder das Recht des Rich- ters auf, beliebige Personen der Gerichtsgemeinde um das Urteil zu fragen. Was die Sachsen anbelangt, so treten nachmals die Schöffen nur in den echten Dingen, also in gräflichen Gerichten auf, dagegen nicht in den gebotenen Dingen, in welchen die gesamte Gerichts- gemeinde unter Vorsitz des Gografen thätig ist. In Italien begegnen uns scabini zwar schon gegen Ende des achten Jahrhunderts, aber zunächst als urteilende Richter. Erst im Laufe des neunten Jahr- hunderts machte sich hier die dem langobardischen Rechte fremdartige Unterscheidung zwischen Richtern und Urteilern geltend 30. Diese ist auch bei der romanischen Bevölkerung Galliens durchgedrungen, sicher- lich nicht sofort nach der Eroberung, sondern erst nach einem län- 26 Cap. miss. Worm. v. J. 829, c. 2—4, II 15. Hlotharii Cap. miss. v. J. 832, c. 5, II, 64. 27 Cap. miss. v. J. 803, c. 20, I 116. Waitz, VG IV 397. 28 Cap. de iusticiis fac. von circa 820, c. 2, I 295. 29 Waitz, VG IV 392, Anm. 1; 494. 30 Siehe Mitth. des Inst. für österr. Gf. a. O. S. 185 ff.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/242>, abgerufen am 08.05.2024.