Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

Bild:
<< vorherige Seite
§ 88. Dingpflicht und Gerichtswesen.

Karls Reform beschränkte die allgemeine Dingpflicht auf drei
jährliche placita generalia. Um diese Beschränkung durchzuführen,
bedurfte es keiner Änderung des Volksrechtes, sondern es genügte,
dass der König den Grafen und Centenaren verbot, die allgemeine
Dingpflicht öfter als dreimal jährlich in Anspruch zu nehmen. Nur
dort, wo der Centenar oder der ihm entsprechende Richter Volks-
beamter war, hätte seine Befugnis, zum Ding zu bannen, vom König
nicht ohne Änderung des Volksrechtes beschränkt werden können.
So erklärt es sich, dass die Befreiung von der Pflicht, das gebotene
Ding zu suchen, bei den Sachsen nicht durchdrang, deren Gograf die
Stellung eines Volksbeamten behauptet hatte 19.

Hinsichtlich der drei Vollgerichte, placita generalia, schwebt die
Streitfrage, ob sie sämtlich oder nur zum Teil als echte Dinge, ob
sie als Versammlungen der Hundertschaft oder der ganzen Grafschaft
zu denken seien. Vermutlich beabsichtigte Karl nicht, in diesen Be-
ziehungen eine Neuerung durchzuführen, und hat er vielmehr der be-
stehenden Verschiedenheit der Verhältnisse und Bedürfnisse Rechnung
getragen. Wo die Grafschaft so viele Hundertschaften hatte, dass der
Turnus der echten Dinge die einzelne Hundertschaft nicht öfter als
zweimal im Jahre traf, blieb Spielraum vorhanden, daneben noch ein
gebotenes Vollgericht, entweder der Hundertschaft oder der ganzen
Grafschaft, zu berufen. Allgemeine Grafschafts- oder Gauversamm-
lungen mögen schon vor der Reform Karls des Grossen nicht bloss
bei den Baiern vorhanden gewesen sein. Quellen des neunten Jahr-
hunderts setzen die Existenz solcher Versammlungen voraus 20. Nach-
mals finden sich bei den Franken, wie bei anderen Stämmen Gau-
oder Landesdinge, die von den Gerichtspflichtigen des ganzen Gau-
oder Landdistriktes besucht werden mussten 21.


19 Schröder, Gerichtsverfassung des Sachsenspiegels S. 52.
20 Edictum Pistense v. J. 864, c. 32, Pertz, LL I 496. Cap. Carisiac. v. J.
857, c. 2, Pertz, LL I 452. Waitz, VG IV 526 ff.
21 So finden sich in Drente jährlich drei Lottinge. Seerp Gratama, Rechts-
geschiedenis van Drenthe S. 64 ff. Im Lande der Freien von Brügge soll jährlich
ein Gauding abgehalten werden. Keurbrief von circa 1190, § 7, bei Gilliodts van
Severen, Coutume du Franc de Bruges II 5. Vom Gauding, goeding erhielt im
Niederländischen die Auflassung durch Halmwurf den Namen halmgoedinge.
Stallaert, Gloss. van verouderde rechtstermen (1890) I 550. Im Brokmerlande
giebt es nachmals zwei Landesversammlungen, mena loge. Unger, Gerichts-
verfassung S. 223. Bei den Angelsachsen wurde zweimal im Jahre Schirgemot
abgehalten. Weitere Belege bei Grimm, RA S. 821 f. Für Franken Schenk zu
Schweinsberg
a. O. Über Sachsen Schröder, Gerichtsverfassung des Sachsen-
spiegels S. 46.
§ 88. Dingpflicht und Gerichtswesen.

Karls Reform beschränkte die allgemeine Dingpflicht auf drei
jährliche placita generalia. Um diese Beschränkung durchzuführen,
bedurfte es keiner Änderung des Volksrechtes, sondern es genügte,
daſs der König den Grafen und Centenaren verbot, die allgemeine
Dingpflicht öfter als dreimal jährlich in Anspruch zu nehmen. Nur
dort, wo der Centenar oder der ihm entsprechende Richter Volks-
beamter war, hätte seine Befugnis, zum Ding zu bannen, vom König
nicht ohne Änderung des Volksrechtes beschränkt werden können.
So erklärt es sich, daſs die Befreiung von der Pflicht, das gebotene
Ding zu suchen, bei den Sachsen nicht durchdrang, deren Gograf die
Stellung eines Volksbeamten behauptet hatte 19.

Hinsichtlich der drei Vollgerichte, placita generalia, schwebt die
Streitfrage, ob sie sämtlich oder nur zum Teil als echte Dinge, ob
sie als Versammlungen der Hundertschaft oder der ganzen Grafschaft
zu denken seien. Vermutlich beabsichtigte Karl nicht, in diesen Be-
ziehungen eine Neuerung durchzuführen, und hat er vielmehr der be-
stehenden Verschiedenheit der Verhältnisse und Bedürfnisse Rechnung
getragen. Wo die Grafschaft so viele Hundertschaften hatte, daſs der
Turnus der echten Dinge die einzelne Hundertschaft nicht öfter als
zweimal im Jahre traf, blieb Spielraum vorhanden, daneben noch ein
gebotenes Vollgericht, entweder der Hundertschaft oder der ganzen
Grafschaft, zu berufen. Allgemeine Grafschafts- oder Gauversamm-
lungen mögen schon vor der Reform Karls des Groſsen nicht bloſs
bei den Baiern vorhanden gewesen sein. Quellen des neunten Jahr-
hunderts setzen die Existenz solcher Versammlungen voraus 20. Nach-
mals finden sich bei den Franken, wie bei anderen Stämmen Gau-
oder Landesdinge, die von den Gerichtspflichtigen des ganzen Gau-
oder Landdistriktes besucht werden muſsten 21.


19 Schröder, Gerichtsverfassung des Sachsenspiegels S. 52.
20 Edictum Pistense v. J. 864, c. 32, Pertz, LL I 496. Cap. Carisiac. v. J.
857, c. 2, Pertz, LL I 452. Waitz, VG IV 526 ff.
21 So finden sich in Drente jährlich drei Lottinge. Seerp Gratama, Rechts-
geschiedenis van Drenthe S. 64 ff. Im Lande der Freien von Brügge soll jährlich
ein Gauding abgehalten werden. Keurbrief von circa 1190, § 7, bei Gilliodts van
Severen, Coutume du Franc de Bruges II 5. Vom Gauding, goeding erhielt im
Niederländischen die Auflassung durch Halmwurf den Namen halmgoedinge.
Stallaert, Gloss. van verouderde rechtstermen (1890) I 550. Im Brokmerlande
giebt es nachmals zwei Landesversammlungen, mena loge. Unger, Gerichts-
verfassung S. 223. Bei den Angelsachsen wurde zweimal im Jahre Schirgemot
abgehalten. Weitere Belege bei Grimm, RA S. 821 f. Für Franken Schenk zu
Schweinsberg
a. O. Über Sachsen Schröder, Gerichtsverfassung des Sachsen-
spiegels S. 46.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0240" n="222"/>
            <fw place="top" type="header">§ 88. Dingpflicht und Gerichtswesen.</fw><lb/>
            <p>Karls Reform beschränkte die allgemeine Dingpflicht auf drei<lb/>
jährliche placita generalia. Um diese Beschränkung durchzuführen,<lb/>
bedurfte es keiner Änderung des Volksrechtes, sondern es genügte,<lb/>
da&#x017F;s der König den Grafen und Centenaren verbot, die allgemeine<lb/>
Dingpflicht öfter als dreimal jährlich in Anspruch zu nehmen. Nur<lb/>
dort, wo der Centenar oder der ihm entsprechende Richter Volks-<lb/>
beamter war, hätte seine Befugnis, zum Ding zu bannen, vom König<lb/>
nicht ohne Änderung des Volksrechtes beschränkt werden können.<lb/>
So erklärt es sich, da&#x017F;s die Befreiung von der Pflicht, das gebotene<lb/>
Ding zu suchen, bei den Sachsen nicht durchdrang, deren Gograf die<lb/>
Stellung eines Volksbeamten behauptet hatte <note place="foot" n="19"><hi rendition="#g">Schröder</hi>, Gerichtsverfassung des Sachsenspiegels S. 52.</note>.</p><lb/>
            <p>Hinsichtlich der drei Vollgerichte, placita generalia, schwebt die<lb/>
Streitfrage, ob sie sämtlich oder nur zum Teil als echte Dinge, ob<lb/>
sie als Versammlungen der Hundertschaft oder der ganzen Grafschaft<lb/>
zu denken seien. Vermutlich beabsichtigte Karl nicht, in diesen Be-<lb/>
ziehungen eine Neuerung durchzuführen, und hat er vielmehr der be-<lb/>
stehenden Verschiedenheit der Verhältnisse und Bedürfnisse Rechnung<lb/>
getragen. Wo die Grafschaft so viele Hundertschaften hatte, da&#x017F;s der<lb/>
Turnus der echten Dinge die einzelne Hundertschaft nicht öfter als<lb/>
zweimal im Jahre traf, blieb Spielraum vorhanden, daneben noch ein<lb/>
gebotenes Vollgericht, entweder der Hundertschaft oder der ganzen<lb/>
Grafschaft, zu berufen. Allgemeine Grafschafts- oder Gauversamm-<lb/>
lungen mögen schon vor der Reform Karls des Gro&#x017F;sen nicht blo&#x017F;s<lb/>
bei den Baiern vorhanden gewesen sein. Quellen des neunten Jahr-<lb/>
hunderts setzen die Existenz solcher Versammlungen voraus <note place="foot" n="20">Edictum Pistense v. J. 864, c. 32, Pertz, LL I 496. Cap. Carisiac. v. J.<lb/>
857, c. 2, Pertz, LL I 452. <hi rendition="#g">Waitz</hi>, VG IV 526 ff.</note>. Nach-<lb/>
mals finden sich bei den Franken, wie bei anderen Stämmen Gau-<lb/>
oder Landesdinge, die von den Gerichtspflichtigen des ganzen Gau-<lb/>
oder Landdistriktes besucht werden mu&#x017F;sten <note place="foot" n="21">So finden sich in Drente jährlich drei Lottinge. <hi rendition="#g">Seerp Gratama</hi>, Rechts-<lb/>
geschiedenis van Drenthe S. 64 ff. Im Lande der Freien von Brügge soll jährlich<lb/>
ein Gauding abgehalten werden. Keurbrief von circa 1190, § 7, bei Gilliodts van<lb/>
Severen, Coutume du Franc de Bruges II 5. Vom Gauding, goeding erhielt im<lb/>
Niederländischen die Auflassung durch Halmwurf den Namen halmgoedinge.<lb/><hi rendition="#g">Stallaert</hi>, Gloss. van verouderde rechtstermen (1890) I 550. Im Brokmerlande<lb/>
giebt es nachmals zwei Landesversammlungen, mena loge. <hi rendition="#g">Unger</hi>, Gerichts-<lb/>
verfassung S. 223. Bei den Angelsachsen wurde zweimal im Jahre Schirgemot<lb/>
abgehalten. Weitere Belege bei Grimm, RA S. 821 f. Für Franken <hi rendition="#g">Schenk zu<lb/>
Schweinsberg</hi> a. O. Über Sachsen <hi rendition="#g">Schröder</hi>, Gerichtsverfassung des Sachsen-<lb/>
spiegels S. 46.</note>.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[222/0240] § 88. Dingpflicht und Gerichtswesen. Karls Reform beschränkte die allgemeine Dingpflicht auf drei jährliche placita generalia. Um diese Beschränkung durchzuführen, bedurfte es keiner Änderung des Volksrechtes, sondern es genügte, daſs der König den Grafen und Centenaren verbot, die allgemeine Dingpflicht öfter als dreimal jährlich in Anspruch zu nehmen. Nur dort, wo der Centenar oder der ihm entsprechende Richter Volks- beamter war, hätte seine Befugnis, zum Ding zu bannen, vom König nicht ohne Änderung des Volksrechtes beschränkt werden können. So erklärt es sich, daſs die Befreiung von der Pflicht, das gebotene Ding zu suchen, bei den Sachsen nicht durchdrang, deren Gograf die Stellung eines Volksbeamten behauptet hatte 19. Hinsichtlich der drei Vollgerichte, placita generalia, schwebt die Streitfrage, ob sie sämtlich oder nur zum Teil als echte Dinge, ob sie als Versammlungen der Hundertschaft oder der ganzen Grafschaft zu denken seien. Vermutlich beabsichtigte Karl nicht, in diesen Be- ziehungen eine Neuerung durchzuführen, und hat er vielmehr der be- stehenden Verschiedenheit der Verhältnisse und Bedürfnisse Rechnung getragen. Wo die Grafschaft so viele Hundertschaften hatte, daſs der Turnus der echten Dinge die einzelne Hundertschaft nicht öfter als zweimal im Jahre traf, blieb Spielraum vorhanden, daneben noch ein gebotenes Vollgericht, entweder der Hundertschaft oder der ganzen Grafschaft, zu berufen. Allgemeine Grafschafts- oder Gauversamm- lungen mögen schon vor der Reform Karls des Groſsen nicht bloſs bei den Baiern vorhanden gewesen sein. Quellen des neunten Jahr- hunderts setzen die Existenz solcher Versammlungen voraus 20. Nach- mals finden sich bei den Franken, wie bei anderen Stämmen Gau- oder Landesdinge, die von den Gerichtspflichtigen des ganzen Gau- oder Landdistriktes besucht werden muſsten 21. 19 Schröder, Gerichtsverfassung des Sachsenspiegels S. 52. 20 Edictum Pistense v. J. 864, c. 32, Pertz, LL I 496. Cap. Carisiac. v. J. 857, c. 2, Pertz, LL I 452. Waitz, VG IV 526 ff. 21 So finden sich in Drente jährlich drei Lottinge. Seerp Gratama, Rechts- geschiedenis van Drenthe S. 64 ff. Im Lande der Freien von Brügge soll jährlich ein Gauding abgehalten werden. Keurbrief von circa 1190, § 7, bei Gilliodts van Severen, Coutume du Franc de Bruges II 5. Vom Gauding, goeding erhielt im Niederländischen die Auflassung durch Halmwurf den Namen halmgoedinge. Stallaert, Gloss. van verouderde rechtstermen (1890) I 550. Im Brokmerlande giebt es nachmals zwei Landesversammlungen, mena loge. Unger, Gerichts- verfassung S. 223. Bei den Angelsachsen wurde zweimal im Jahre Schirgemot abgehalten. Weitere Belege bei Grimm, RA S. 821 f. Für Franken Schenk zu Schweinsberg a. O. Über Sachsen Schröder, Gerichtsverfassung des Sachsen- spiegels S. 46.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/240
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/240>, abgerufen am 08.05.2024.