Karls Reform beschränkte die allgemeine Dingpflicht auf drei jährliche placita generalia. Um diese Beschränkung durchzuführen, bedurfte es keiner Änderung des Volksrechtes, sondern es genügte, dass der König den Grafen und Centenaren verbot, die allgemeine Dingpflicht öfter als dreimal jährlich in Anspruch zu nehmen. Nur dort, wo der Centenar oder der ihm entsprechende Richter Volks- beamter war, hätte seine Befugnis, zum Ding zu bannen, vom König nicht ohne Änderung des Volksrechtes beschränkt werden können. So erklärt es sich, dass die Befreiung von der Pflicht, das gebotene Ding zu suchen, bei den Sachsen nicht durchdrang, deren Gograf die Stellung eines Volksbeamten behauptet hatte 19.
Hinsichtlich der drei Vollgerichte, placita generalia, schwebt die Streitfrage, ob sie sämtlich oder nur zum Teil als echte Dinge, ob sie als Versammlungen der Hundertschaft oder der ganzen Grafschaft zu denken seien. Vermutlich beabsichtigte Karl nicht, in diesen Be- ziehungen eine Neuerung durchzuführen, und hat er vielmehr der be- stehenden Verschiedenheit der Verhältnisse und Bedürfnisse Rechnung getragen. Wo die Grafschaft so viele Hundertschaften hatte, dass der Turnus der echten Dinge die einzelne Hundertschaft nicht öfter als zweimal im Jahre traf, blieb Spielraum vorhanden, daneben noch ein gebotenes Vollgericht, entweder der Hundertschaft oder der ganzen Grafschaft, zu berufen. Allgemeine Grafschafts- oder Gauversamm- lungen mögen schon vor der Reform Karls des Grossen nicht bloss bei den Baiern vorhanden gewesen sein. Quellen des neunten Jahr- hunderts setzen die Existenz solcher Versammlungen voraus 20. Nach- mals finden sich bei den Franken, wie bei anderen Stämmen Gau- oder Landesdinge, die von den Gerichtspflichtigen des ganzen Gau- oder Landdistriktes besucht werden mussten 21.
19Schröder, Gerichtsverfassung des Sachsenspiegels S. 52.
20 Edictum Pistense v. J. 864, c. 32, Pertz, LL I 496. Cap. Carisiac. v. J. 857, c. 2, Pertz, LL I 452. Waitz, VG IV 526 ff.
21 So finden sich in Drente jährlich drei Lottinge. Seerp Gratama, Rechts- geschiedenis van Drenthe S. 64 ff. Im Lande der Freien von Brügge soll jährlich ein Gauding abgehalten werden. Keurbrief von circa 1190, § 7, bei Gilliodts van Severen, Coutume du Franc de Bruges II 5. Vom Gauding, goeding erhielt im Niederländischen die Auflassung durch Halmwurf den Namen halmgoedinge. Stallaert, Gloss. van verouderde rechtstermen (1890) I 550. Im Brokmerlande giebt es nachmals zwei Landesversammlungen, mena loge. Unger, Gerichts- verfassung S. 223. Bei den Angelsachsen wurde zweimal im Jahre Schirgemot abgehalten. Weitere Belege bei Grimm, RA S. 821 f. Für Franken Schenk zu Schweinsberg a. O. Über Sachsen Schröder, Gerichtsverfassung des Sachsen- spiegels S. 46.
§ 88. Dingpflicht und Gerichtswesen.
Karls Reform beschränkte die allgemeine Dingpflicht auf drei jährliche placita generalia. Um diese Beschränkung durchzuführen, bedurfte es keiner Änderung des Volksrechtes, sondern es genügte, daſs der König den Grafen und Centenaren verbot, die allgemeine Dingpflicht öfter als dreimal jährlich in Anspruch zu nehmen. Nur dort, wo der Centenar oder der ihm entsprechende Richter Volks- beamter war, hätte seine Befugnis, zum Ding zu bannen, vom König nicht ohne Änderung des Volksrechtes beschränkt werden können. So erklärt es sich, daſs die Befreiung von der Pflicht, das gebotene Ding zu suchen, bei den Sachsen nicht durchdrang, deren Gograf die Stellung eines Volksbeamten behauptet hatte 19.
Hinsichtlich der drei Vollgerichte, placita generalia, schwebt die Streitfrage, ob sie sämtlich oder nur zum Teil als echte Dinge, ob sie als Versammlungen der Hundertschaft oder der ganzen Grafschaft zu denken seien. Vermutlich beabsichtigte Karl nicht, in diesen Be- ziehungen eine Neuerung durchzuführen, und hat er vielmehr der be- stehenden Verschiedenheit der Verhältnisse und Bedürfnisse Rechnung getragen. Wo die Grafschaft so viele Hundertschaften hatte, daſs der Turnus der echten Dinge die einzelne Hundertschaft nicht öfter als zweimal im Jahre traf, blieb Spielraum vorhanden, daneben noch ein gebotenes Vollgericht, entweder der Hundertschaft oder der ganzen Grafschaft, zu berufen. Allgemeine Grafschafts- oder Gauversamm- lungen mögen schon vor der Reform Karls des Groſsen nicht bloſs bei den Baiern vorhanden gewesen sein. Quellen des neunten Jahr- hunderts setzen die Existenz solcher Versammlungen voraus 20. Nach- mals finden sich bei den Franken, wie bei anderen Stämmen Gau- oder Landesdinge, die von den Gerichtspflichtigen des ganzen Gau- oder Landdistriktes besucht werden muſsten 21.
19Schröder, Gerichtsverfassung des Sachsenspiegels S. 52.
20 Edictum Pistense v. J. 864, c. 32, Pertz, LL I 496. Cap. Carisiac. v. J. 857, c. 2, Pertz, LL I 452. Waitz, VG IV 526 ff.
21 So finden sich in Drente jährlich drei Lottinge. Seerp Gratama, Rechts- geschiedenis van Drenthe S. 64 ff. Im Lande der Freien von Brügge soll jährlich ein Gauding abgehalten werden. Keurbrief von circa 1190, § 7, bei Gilliodts van Severen, Coutume du Franc de Bruges II 5. Vom Gauding, goeding erhielt im Niederländischen die Auflassung durch Halmwurf den Namen halmgoedinge. Stallaert, Gloss. van verouderde rechtstermen (1890) I 550. Im Brokmerlande giebt es nachmals zwei Landesversammlungen, mena loge. Unger, Gerichts- verfassung S. 223. Bei den Angelsachsen wurde zweimal im Jahre Schirgemot abgehalten. Weitere Belege bei Grimm, RA S. 821 f. Für Franken Schenk zu Schweinsberg a. O. Über Sachsen Schröder, Gerichtsverfassung des Sachsen- spiegels S. 46.
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§ 88. Dingpflicht und Gerichtswesen.
Karls Reform beschränkte die allgemeine Dingpflicht auf drei
jährliche placita generalia. Um diese Beschränkung durchzuführen,
bedurfte es keiner Änderung des Volksrechtes, sondern es genügte,
daſs der König den Grafen und Centenaren verbot, die allgemeine
Dingpflicht öfter als dreimal jährlich in Anspruch zu nehmen. Nur
dort, wo der Centenar oder der ihm entsprechende Richter Volks-
beamter war, hätte seine Befugnis, zum Ding zu bannen, vom König
nicht ohne Änderung des Volksrechtes beschränkt werden können.
So erklärt es sich, daſs die Befreiung von der Pflicht, das gebotene
Ding zu suchen, bei den Sachsen nicht durchdrang, deren Gograf die
Stellung eines Volksbeamten behauptet hatte 19.
Hinsichtlich der drei Vollgerichte, placita generalia, schwebt die
Streitfrage, ob sie sämtlich oder nur zum Teil als echte Dinge, ob
sie als Versammlungen der Hundertschaft oder der ganzen Grafschaft
zu denken seien. Vermutlich beabsichtigte Karl nicht, in diesen Be-
ziehungen eine Neuerung durchzuführen, und hat er vielmehr der be-
stehenden Verschiedenheit der Verhältnisse und Bedürfnisse Rechnung
getragen. Wo die Grafschaft so viele Hundertschaften hatte, daſs der
Turnus der echten Dinge die einzelne Hundertschaft nicht öfter als
zweimal im Jahre traf, blieb Spielraum vorhanden, daneben noch ein
gebotenes Vollgericht, entweder der Hundertschaft oder der ganzen
Grafschaft, zu berufen. Allgemeine Grafschafts- oder Gauversamm-
lungen mögen schon vor der Reform Karls des Groſsen nicht bloſs
bei den Baiern vorhanden gewesen sein. Quellen des neunten Jahr-
hunderts setzen die Existenz solcher Versammlungen voraus 20. Nach-
mals finden sich bei den Franken, wie bei anderen Stämmen Gau-
oder Landesdinge, die von den Gerichtspflichtigen des ganzen Gau-
oder Landdistriktes besucht werden muſsten 21.
19 Schröder, Gerichtsverfassung des Sachsenspiegels S. 52.
20 Edictum Pistense v. J. 864, c. 32, Pertz, LL I 496. Cap. Carisiac. v. J.
857, c. 2, Pertz, LL I 452. Waitz, VG IV 526 ff.
21 So finden sich in Drente jährlich drei Lottinge. Seerp Gratama, Rechts-
geschiedenis van Drenthe S. 64 ff. Im Lande der Freien von Brügge soll jährlich
ein Gauding abgehalten werden. Keurbrief von circa 1190, § 7, bei Gilliodts van
Severen, Coutume du Franc de Bruges II 5. Vom Gauding, goeding erhielt im
Niederländischen die Auflassung durch Halmwurf den Namen halmgoedinge.
Stallaert, Gloss. van verouderde rechtstermen (1890) I 550. Im Brokmerlande
giebt es nachmals zwei Landesversammlungen, mena loge. Unger, Gerichts-
verfassung S. 223. Bei den Angelsachsen wurde zweimal im Jahre Schirgemot
abgehalten. Weitere Belege bei Grimm, RA S. 821 f. Für Franken Schenk zu
Schweinsberg a. O. Über Sachsen Schröder, Gerichtsverfassung des Sachsen-
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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/240>, abgerufen am 16.02.2025.
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