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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 82. Centenar und Vikar.
lichen Missi26 und im Mallus27, wo er als Beisitzer des Grafen
fungiert28.

Der Centenar oder Vikar ist ausserdem als selbständiger Richter
thätig. Und zwar wird seit dem Beginn des neunten Jahrhunderts
seine richterliche Kompetenz im Verhältnis zu der des Grafen in fester
Weise abgegrenzt. Es wird nämlich bestimmt, dass in den Gerichten
der Centenare oder Vikare keine peinliche Klage, d. h. keine Klage,
die an das Leben geht, ferner keine Streitsache über Grundeigentum,
Freiheit oder Eigenleute erhoben und entschieden werden, sondern
die Kompetenz in solchen Angelegenheiten dem Grafen und den könig-
lichen Missi vorbehalten sein solle29.

Diese Bestimmungen enthielten eine Neuerung gegenüber der
richterlichen Kompetenz, die der neufränkische Graf bis zum Ausgang
des achten Jahrhunderts hatte. Zwar waren nach wie vor die causae
maiores dem Grafen vorbehalten; allein der Umfang dieses Begriffes
ist seit dem neunten Jahrhundert für den neufränkischen Grafen ein
weiterer, als er vorher war. Wie bereits bemerkt worden, succedierte
der Graf in Gallien in die Kompetenz des römischen Provinzialstatt-
halters. Dieser war ausschliesslich zuständig in causae maiores, ins-
besondere in schweren Kriminalsachen, nämlich in solchen, welche nach
römischem Rechte eine Inscriptio30 des Klägers erforderten, während
andere Angelegenheiten vor die mediocres iudices (defensores und
assertores pacis) gelangten31. Zu den causae minores zählte u. a.
auch der Streit um ein Grundstück von mässigem Umfang und die
Vindikation eines Knechtes. Der Kompetenz des römischen Statt-
halters entspricht es, wenn nach den merowingischen Formelsamm-
lungen der Graf über homicidium richtet32 und über Angelegenheiten,

26 Cap. miss. gener. v. J. 802, c. 28, I 96. Cap. incerta v. J. 829 (?), c. 3,
II 11.
27 Form. Sen. rec. 1. 3. 6.
28 Siehe die Belege bei Sohm a. O. S. 406, Anm. 55.
29 Pipp. Cap. ital. 801--810, c. 14, I 210. Cap. miss. Aquisgr. prim. v. J.
810, c. 3, I 153. Cap. Aquisgr. secund. v. J. 810, c. 15, I 154. Cap. de iustitiis
faciendis 811--813, c. 4, I 176. Cap. incerta 814--840, c. 3, I 315. Ergänzt und
erläutert werden diese Stellen durch die Abgrenzung der gräflichen und der Im-
munitätsgerichtsbarkeit. Vgl. unten § 94.
30 Eine schriftliche Erklärung, durch welche der Kläger die Rechtsfolgen
eventueller Sachfälligkeit auf sich nahm.
31 Interpr. zu Lex Rom. Wisig. Cod. Theod. II 1, 8. Z2 f. RG V 74. Über
den defensor civitatis siehe § 86. Über den assertor pacis § 93.
32 Form. Andegav. 12. 50. Form. Turon. 29, Zeumer S. 152, 20. Ebenso
noch Form. Bignon. 8. 9. Form. Sal. Merkel. 38. Form. Lindenbrog. 19. Vgl.

§ 82. Centenar und Vikar.
lichen Missi26 und im Mallus27, wo er als Beisitzer des Grafen
fungiert28.

Der Centenar oder Vikar ist auſserdem als selbständiger Richter
thätig. Und zwar wird seit dem Beginn des neunten Jahrhunderts
seine richterliche Kompetenz im Verhältnis zu der des Grafen in fester
Weise abgegrenzt. Es wird nämlich bestimmt, daſs in den Gerichten
der Centenare oder Vikare keine peinliche Klage, d. h. keine Klage,
die an das Leben geht, ferner keine Streitsache über Grundeigentum,
Freiheit oder Eigenleute erhoben und entschieden werden, sondern
die Kompetenz in solchen Angelegenheiten dem Grafen und den könig-
lichen Missi vorbehalten sein solle29.

Diese Bestimmungen enthielten eine Neuerung gegenüber der
richterlichen Kompetenz, die der neufränkische Graf bis zum Ausgang
des achten Jahrhunderts hatte. Zwar waren nach wie vor die causae
maiores dem Grafen vorbehalten; allein der Umfang dieses Begriffes
ist seit dem neunten Jahrhundert für den neufränkischen Grafen ein
weiterer, als er vorher war. Wie bereits bemerkt worden, succedierte
der Graf in Gallien in die Kompetenz des römischen Provinzialstatt-
halters. Dieser war ausschlieſslich zuständig in causae maiores, ins-
besondere in schweren Kriminalsachen, nämlich in solchen, welche nach
römischem Rechte eine Inscriptio30 des Klägers erforderten, während
andere Angelegenheiten vor die mediocres iudices (defensores und
assertores pacis) gelangten31. Zu den causae minores zählte u. a.
auch der Streit um ein Grundstück von mäſsigem Umfang und die
Vindikation eines Knechtes. Der Kompetenz des römischen Statt-
halters entspricht es, wenn nach den merowingischen Formelsamm-
lungen der Graf über homicidium richtet32 und über Angelegenheiten,

26 Cap. miss. gener. v. J. 802, c. 28, I 96. Cap. incerta v. J. 829 (?), c. 3,
II 11.
27 Form. Sen. rec. 1. 3. 6.
28 Siehe die Belege bei Sohm a. O. S. 406, Anm. 55.
29 Pipp. Cap. ital. 801—810, c. 14, I 210. Cap. miss. Aquisgr. prim. v. J.
810, c. 3, I 153. Cap. Aquisgr. secund. v. J. 810, c. 15, I 154. Cap. de iustitiis
faciendis 811—813, c. 4, I 176. Cap. incerta 814—840, c. 3, I 315. Ergänzt und
erläutert werden diese Stellen durch die Abgrenzung der gräflichen und der Im-
munitätsgerichtsbarkeit. Vgl. unten § 94.
30 Eine schriftliche Erklärung, durch welche der Kläger die Rechtsfolgen
eventueller Sachfälligkeit auf sich nahm.
31 Interpr. zu Lex Rom. Wisig. Cod. Theod. II 1, 8. Z2 f. RG V 74. Über
den defensor civitatis siehe § 86. Über den assertor pacis § 93.
32 Form. Andegav. 12. 50. Form. Turon. 29, Zeumer S. 152, 20. Ebenso
noch Form. Bignon. 8. 9. Form. Sal. Merkel. 38. Form. Lindenbrog. 19. Vgl.
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[178/0196] § 82. Centenar und Vikar. lichen Missi 26 und im Mallus 27, wo er als Beisitzer des Grafen fungiert 28. Der Centenar oder Vikar ist auſserdem als selbständiger Richter thätig. Und zwar wird seit dem Beginn des neunten Jahrhunderts seine richterliche Kompetenz im Verhältnis zu der des Grafen in fester Weise abgegrenzt. Es wird nämlich bestimmt, daſs in den Gerichten der Centenare oder Vikare keine peinliche Klage, d. h. keine Klage, die an das Leben geht, ferner keine Streitsache über Grundeigentum, Freiheit oder Eigenleute erhoben und entschieden werden, sondern die Kompetenz in solchen Angelegenheiten dem Grafen und den könig- lichen Missi vorbehalten sein solle 29. Diese Bestimmungen enthielten eine Neuerung gegenüber der richterlichen Kompetenz, die der neufränkische Graf bis zum Ausgang des achten Jahrhunderts hatte. Zwar waren nach wie vor die causae maiores dem Grafen vorbehalten; allein der Umfang dieses Begriffes ist seit dem neunten Jahrhundert für den neufränkischen Grafen ein weiterer, als er vorher war. Wie bereits bemerkt worden, succedierte der Graf in Gallien in die Kompetenz des römischen Provinzialstatt- halters. Dieser war ausschlieſslich zuständig in causae maiores, ins- besondere in schweren Kriminalsachen, nämlich in solchen, welche nach römischem Rechte eine Inscriptio 30 des Klägers erforderten, während andere Angelegenheiten vor die mediocres iudices (defensores und assertores pacis) gelangten 31. Zu den causae minores zählte u. a. auch der Streit um ein Grundstück von mäſsigem Umfang und die Vindikation eines Knechtes. Der Kompetenz des römischen Statt- halters entspricht es, wenn nach den merowingischen Formelsamm- lungen der Graf über homicidium richtet 32 und über Angelegenheiten, 26 Cap. miss. gener. v. J. 802, c. 28, I 96. Cap. incerta v. J. 829 (?), c. 3, II 11. 27 Form. Sen. rec. 1. 3. 6. 28 Siehe die Belege bei Sohm a. O. S. 406, Anm. 55. 29 Pipp. Cap. ital. 801—810, c. 14, I 210. Cap. miss. Aquisgr. prim. v. J. 810, c. 3, I 153. Cap. Aquisgr. secund. v. J. 810, c. 15, I 154. Cap. de iustitiis faciendis 811—813, c. 4, I 176. Cap. incerta 814—840, c. 3, I 315. Ergänzt und erläutert werden diese Stellen durch die Abgrenzung der gräflichen und der Im- munitätsgerichtsbarkeit. Vgl. unten § 94. 30 Eine schriftliche Erklärung, durch welche der Kläger die Rechtsfolgen eventueller Sachfälligkeit auf sich nahm. 31 Interpr. zu Lex Rom. Wisig. Cod. Theod. II 1, 8. Z2 f. RG V 74. Über den defensor civitatis siehe § 86. Über den assertor pacis § 93. 32 Form. Andegav. 12. 50. Form. Turon. 29, Zeumer S. 152, 20. Ebenso noch Form. Bignon. 8. 9. Form. Sal. Merkel. 38. Form. Lindenbrog. 19. Vgl.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/196>, abgerufen am 28.11.2024.