Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 79. Das Ämterwesen der Lex Salica.
von iudex, Abhalter des placitum, thunchinium 5, *thunc, mhd. dunk 6,
so dass die alte Form eigentlich Thunkino oder Thunkina wäre. Der
Thungin sagt den Mallus an, ist Vorsitzender desselben, stellt die
Hegungsfragen und spricht auf Verlangen des Gläubigers die Pfänd-
barkeit des Schuldners, die in jüngeren fränkischen Rechtsquellen so-
genannte Anpfändung, aus 7. Ein erhöhtes Wergeld, wie es den könig-
lichen Beamten kennzeichnet, hat er nicht. Er muss daher ein
Volksbeamter gewesen sein.

Die herrschende Ansicht betrachtet den Thungin als Vorsteher
der Hundertschaft. Allerdings sagt die Lex Salica an Stellen, wo vom
gebotenen Ding die Rede ist: thunginus aut centenarius 8. Doch ist
es unstatthaft, das 'aut' hier anders als disjunctiv zu nehmen 9 und beide
Bezeichnungen auf denselben Beamten zu beziehen. In einer anderen
Stelle wird dort, wo das echte Ding, der mallus legitimus, in Frage
kommt, nur des Thungins, nicht auch des Centenars gedacht 10. Ebenso

zug auf ags. thingan, venerari, Participium gethungen, honoratus. Grimm erklärt
den Thungin im Hinblick auf den angelsächsischen tungerefa als Dorfvorsteher.
Graff, Sprachschatz V 433. 436, denkt an tangannare (siehe oben I 180, Anm. 7).
Kern bei Hessels, Lex Sal. § 228, stellt das Wort mit ags. thengel, Fürst, Herr,
ahd. dwengil, exactor zusammen und gelangt zur Bedeutung Schultheiss.
5 So hat Lex Sal. Herold. 63 (Hessels 60) für placitum.
6 Diese Ableitung hat v. Amira in Pauls Grundriss II 2, S. 106 vorgeschla-
gen. Thunc gehört zum Verbum got. thugkjan, alts. thunkjan, ahd. dunchan, un-
serem dünken, fries. thinka, thinszia, tinsa. Vgl. Diefenbach, WB II 687,
Richthofen, WB S. 1074, Schade, WB S. 115. Dazu dunker bei Grimm,
WB II 1551, thunkitha, thungida bei Graff, Sprachsch. V 176.
7 So in den Drenter Rechtsquellen, welche Anpfändung und Auspfändung
unterscheiden.
8 In 44, 1 und in 46, 1. 4. Doch ist in diesen Stellen der Plural des Ver-
bums bezeichnend. Es heisst 44, 1: thunginus aut centenarius mallo indicant ..
et tres homines tres causas demandare (die Hegungsfragen) debent. In 46 1: thun-
ginus aut centenarius mallo indicant et scutum in illo mallo habere debent et tres
homines tres causas demandare debent. In 46, 4, Cod. 2 ff.: in mallum, quem
thunginus aut centenarius indixerunt (dixerunt). Der Plural ist nur angebracht,
wenn Thungin und Centenar als verschiedene Personen gedacht sind.
9 Wenn es auch mitunter vorkommt, dass durch 'aut' identische Begriffe ver-
bunden werden, so ist doch das Gegenteil oft genug bezeugt. So heisst es in Lex
Sal. 46: ante regem aut in mallo legitimo, in Lex Sal. 54, Cod. 7--10: sagsbaro
aut grafio.
10 Lex Sal. 46. Der erste gerichtliche Akt, welchen die Affatomie erfordert,
findet statt in dem Mallus, den der Thungin oder der Centenar ansagten, also
im gebotenen Ding, der zweite dagegen ante rege aut in mallo legitimo. Drei
Zeugen beschwören den ersten Akt, nämlich quod ibi fuissent in mallo, quem thun-
ginus aut centenarius indixerunt, drei andere Zeugen den zweiten Akt, welcher

§ 79. Das Ämterwesen der Lex Salica.
von iudex, Abhalter des placitum, thunchinium 5, *thunc, mhd. dunk 6,
so daſs die alte Form eigentlich Thunkino oder Thunkina wäre. Der
Thungin sagt den Mallus an, ist Vorsitzender desselben, stellt die
Hegungsfragen und spricht auf Verlangen des Gläubigers die Pfänd-
barkeit des Schuldners, die in jüngeren fränkischen Rechtsquellen so-
genannte Anpfändung, aus 7. Ein erhöhtes Wergeld, wie es den könig-
lichen Beamten kennzeichnet, hat er nicht. Er muſs daher ein
Volksbeamter gewesen sein.

Die herrschende Ansicht betrachtet den Thungin als Vorsteher
der Hundertschaft. Allerdings sagt die Lex Salica an Stellen, wo vom
gebotenen Ding die Rede ist: thunginus aut centenarius 8. Doch ist
es unstatthaft, das ‘aut’ hier anders als disjunctiv zu nehmen 9 und beide
Bezeichnungen auf denselben Beamten zu beziehen. In einer anderen
Stelle wird dort, wo das echte Ding, der mallus legitimus, in Frage
kommt, nur des Thungins, nicht auch des Centenars gedacht 10. Ebenso

zug auf ags. þingan, venerari, Participium geþungen, honoratus. Grimm erklärt
den Thungin im Hinblick auf den angelsächsischen túngeréfa als Dorfvorsteher.
Graff, Sprachschatz V 433. 436, denkt an tangannare (siehe oben I 180, Anm. 7).
Kern bei Hessels, Lex Sal. § 228, stellt das Wort mit ags. þengel, Fürst, Herr,
ahd. dwengil, exactor zusammen und gelangt zur Bedeutung Schultheiſs.
5 So hat Lex Sal. Herold. 63 (Hessels 60) für placitum.
6 Diese Ableitung hat v. Amira in Pauls Grundriſs II 2, S. 106 vorgeschla-
gen. Thunc gehört zum Verbum got. thugkjan, alts. thunkjan, ahd. dunchan, un-
serem dünken, fries. thinka, thinszia, tinsa. Vgl. Diefenbach, WB II 687,
Richthofen, WB S. 1074, Schade, WB S. 115. Dazu dunker bei Grimm,
WB II 1551, thunkitha, thungida bei Graff, Sprachsch. V 176.
7 So in den Drenter Rechtsquellen, welche Anpfändung und Auspfändung
unterscheiden.
8 In 44, 1 und in 46, 1. 4. Doch ist in diesen Stellen der Plural des Ver-
bums bezeichnend. Es heiſst 44, 1: thunginus aut centenarius mallo indicant ..
et tres homines tres causas demandare (die Hegungsfragen) debent. In 46 1: thun-
ginus aut centenarius mallo indicant et scutum in illo mallo habere debent et tres
homines tres causas demandare debent. In 46, 4, Cod. 2 ff.: in mallum, quem
thunginus aut centenarius indixerunt (dixerunt). Der Plural ist nur angebracht,
wenn Thungin und Centenar als verschiedene Personen gedacht sind.
9 Wenn es auch mitunter vorkommt, daſs durch ‘aut’ identische Begriffe ver-
bunden werden, so ist doch das Gegenteil oft genug bezeugt. So heiſst es in Lex
Sal. 46: ante regem aut in mallo legitimo, in Lex Sal. 54, Cod. 7—10: sagsbaro
aut grafio.
10 Lex Sal. 46. Der erste gerichtliche Akt, welchen die Affatomie erfordert,
findet statt in dem Mallus, den der Thungin oder der Centenar ansagten, also
im gebotenen Ding, der zweite dagegen ante rege aut in mallo legitimo. Drei
Zeugen beschwören den ersten Akt, nämlich quod ibi fuissent in mallo, quem thun-
ginus aut centenarius indixerunt, drei andere Zeugen den zweiten Akt, welcher
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0168" n="150"/><fw place="top" type="header">§ 79. Das Ämterwesen der Lex Salica.</fw><lb/>
von iudex, Abhalter des placitum, thunchinium <note place="foot" n="5">So hat Lex Sal. Herold. 63 (Hessels 60) für placitum.</note>, *thunc, mhd. dunk <note place="foot" n="6">Diese Ableitung hat v. <hi rendition="#g">Amira</hi> in Pauls Grundri&#x017F;s II 2, S. 106 vorgeschla-<lb/>
gen. Thunc gehört zum Verbum got. thugkjan, alts. thunkjan, ahd. dunchan, un-<lb/>
serem dünken, fries. thinka, thinszia, tinsa. Vgl. <hi rendition="#g">Diefenbach</hi>, WB II 687,<lb/><hi rendition="#g">Richthofen</hi>, WB S. 1074, <hi rendition="#g">Schade</hi>, WB S. 115. Dazu dunker bei <hi rendition="#g">Grimm</hi>,<lb/>
WB II 1551, thunkitha, thungida bei <hi rendition="#g">Graff</hi>, Sprachsch. V 176.</note>,<lb/>
so da&#x017F;s die alte Form eigentlich Thunkino oder Thunkina wäre. Der<lb/>
Thungin sagt den Mallus an, ist Vorsitzender desselben, stellt die<lb/>
Hegungsfragen und spricht auf Verlangen des Gläubigers die Pfänd-<lb/>
barkeit des Schuldners, die in jüngeren fränkischen Rechtsquellen so-<lb/>
genannte Anpfändung, aus <note place="foot" n="7">So in den Drenter Rechtsquellen, welche Anpfändung und Auspfändung<lb/>
unterscheiden.</note>. Ein erhöhtes Wergeld, wie es den könig-<lb/>
lichen Beamten kennzeichnet, hat er nicht. Er mu&#x017F;s daher ein<lb/>
Volksbeamter gewesen sein.</p><lb/>
            <p>Die herrschende Ansicht betrachtet den Thungin als Vorsteher<lb/>
der Hundertschaft. Allerdings sagt die Lex Salica an Stellen, wo vom<lb/>
gebotenen Ding die Rede ist: thunginus aut centenarius <note place="foot" n="8">In 44, 1 und in 46, 1. 4. Doch ist in diesen Stellen der Plural des Ver-<lb/>
bums bezeichnend. Es hei&#x017F;st 44, 1: thunginus aut centenarius mallo indicant ..<lb/>
et tres homines tres causas demandare (die Hegungsfragen) debent. In 46 1: thun-<lb/>
ginus aut centenarius mallo indicant et scutum in illo mallo habere debent et tres<lb/>
homines tres causas demandare debent. In 46, 4, Cod. 2 ff.: in mallum, quem<lb/>
thunginus aut centenarius indixerunt (dixerunt). Der Plural ist nur angebracht,<lb/>
wenn Thungin und Centenar als verschiedene Personen gedacht sind.</note>. Doch ist<lb/>
es unstatthaft, das &#x2018;aut&#x2019; hier anders als disjunctiv zu nehmen <note place="foot" n="9">Wenn es auch mitunter vorkommt, da&#x017F;s durch &#x2018;aut&#x2019; identische Begriffe ver-<lb/>
bunden werden, so ist doch das Gegenteil oft genug bezeugt. So hei&#x017F;st es in Lex<lb/>
Sal. 46: ante regem aut in mallo legitimo, in Lex Sal. 54, Cod. 7&#x2014;10: sagsbaro<lb/>
aut grafio.</note> und beide<lb/>
Bezeichnungen auf denselben Beamten zu beziehen. In einer anderen<lb/>
Stelle wird dort, wo das echte Ding, der mallus legitimus, in Frage<lb/>
kommt, nur des Thungins, nicht auch des Centenars gedacht <note xml:id="seg2pn_35_1" next="#seg2pn_35_2" place="foot" n="10">Lex Sal. 46. Der erste gerichtliche Akt, welchen die Affatomie erfordert,<lb/>
findet statt in dem Mallus, den der Thungin oder der Centenar ansagten, also<lb/>
im gebotenen Ding, der zweite dagegen ante rege aut in mallo legitimo. Drei<lb/>
Zeugen beschwören den ersten Akt, nämlich quod ibi fuissent in mallo, quem thun-<lb/>
ginus aut centenarius indixerunt, drei andere Zeugen den zweiten Akt, welcher</note>. Ebenso<lb/><note xml:id="seg2pn_34_2" prev="#seg2pn_34_1" place="foot" n="4">zug auf ags. þingan, venerari, Participium geþungen, honoratus. <hi rendition="#g">Grimm</hi> erklärt<lb/>
den Thungin im Hinblick auf den angelsächsischen túngeréfa als Dorfvorsteher.<lb/><hi rendition="#g">Graff</hi>, Sprachschatz V 433. 436, denkt an tangannare (siehe oben I 180, Anm. 7).<lb/><hi rendition="#g">Kern</hi> bei Hessels, Lex Sal. § 228, stellt das Wort mit ags. þengel, Fürst, Herr,<lb/>
ahd. dwengil, exactor zusammen und gelangt zur Bedeutung Schulthei&#x017F;s.</note><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[150/0168] § 79. Das Ämterwesen der Lex Salica. von iudex, Abhalter des placitum, thunchinium 5, *thunc, mhd. dunk 6, so daſs die alte Form eigentlich Thunkino oder Thunkina wäre. Der Thungin sagt den Mallus an, ist Vorsitzender desselben, stellt die Hegungsfragen und spricht auf Verlangen des Gläubigers die Pfänd- barkeit des Schuldners, die in jüngeren fränkischen Rechtsquellen so- genannte Anpfändung, aus 7. Ein erhöhtes Wergeld, wie es den könig- lichen Beamten kennzeichnet, hat er nicht. Er muſs daher ein Volksbeamter gewesen sein. Die herrschende Ansicht betrachtet den Thungin als Vorsteher der Hundertschaft. Allerdings sagt die Lex Salica an Stellen, wo vom gebotenen Ding die Rede ist: thunginus aut centenarius 8. Doch ist es unstatthaft, das ‘aut’ hier anders als disjunctiv zu nehmen 9 und beide Bezeichnungen auf denselben Beamten zu beziehen. In einer anderen Stelle wird dort, wo das echte Ding, der mallus legitimus, in Frage kommt, nur des Thungins, nicht auch des Centenars gedacht 10. Ebenso 4 5 So hat Lex Sal. Herold. 63 (Hessels 60) für placitum. 6 Diese Ableitung hat v. Amira in Pauls Grundriſs II 2, S. 106 vorgeschla- gen. Thunc gehört zum Verbum got. thugkjan, alts. thunkjan, ahd. dunchan, un- serem dünken, fries. thinka, thinszia, tinsa. Vgl. Diefenbach, WB II 687, Richthofen, WB S. 1074, Schade, WB S. 115. Dazu dunker bei Grimm, WB II 1551, thunkitha, thungida bei Graff, Sprachsch. V 176. 7 So in den Drenter Rechtsquellen, welche Anpfändung und Auspfändung unterscheiden. 8 In 44, 1 und in 46, 1. 4. Doch ist in diesen Stellen der Plural des Ver- bums bezeichnend. Es heiſst 44, 1: thunginus aut centenarius mallo indicant .. et tres homines tres causas demandare (die Hegungsfragen) debent. In 46 1: thun- ginus aut centenarius mallo indicant et scutum in illo mallo habere debent et tres homines tres causas demandare debent. In 46, 4, Cod. 2 ff.: in mallum, quem thunginus aut centenarius indixerunt (dixerunt). Der Plural ist nur angebracht, wenn Thungin und Centenar als verschiedene Personen gedacht sind. 9 Wenn es auch mitunter vorkommt, daſs durch ‘aut’ identische Begriffe ver- bunden werden, so ist doch das Gegenteil oft genug bezeugt. So heiſst es in Lex Sal. 46: ante regem aut in mallo legitimo, in Lex Sal. 54, Cod. 7—10: sagsbaro aut grafio. 10 Lex Sal. 46. Der erste gerichtliche Akt, welchen die Affatomie erfordert, findet statt in dem Mallus, den der Thungin oder der Centenar ansagten, also im gebotenen Ding, der zweite dagegen ante rege aut in mallo legitimo. Drei Zeugen beschwören den ersten Akt, nämlich quod ibi fuissent in mallo, quem thun- ginus aut centenarius indixerunt, drei andere Zeugen den zweiten Akt, welcher 4 zug auf ags. þingan, venerari, Participium geþungen, honoratus. Grimm erklärt den Thungin im Hinblick auf den angelsächsischen túngeréfa als Dorfvorsteher. Graff, Sprachschatz V 433. 436, denkt an tangannare (siehe oben I 180, Anm. 7). Kern bei Hessels, Lex Sal. § 228, stellt das Wort mit ags. þengel, Fürst, Herr, ahd. dwengil, exactor zusammen und gelangt zur Bedeutung Schultheiſs.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/168
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/168>, abgerufen am 25.11.2024.