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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 73. Die Pfalzgrafen.
Inhalt der von pfalzgräflichen Notaren geschriebenen Placita trägt der
Pfalzgraf als Vorgesetzter die selbstverständliche Verantwortung. Die
Klausel über das testimonium comitis palatii ist daher zwecklos ge-
worden. Sie verschwindet schon in den Placita der merowingischen
Hausmeier und findet sich in keiner Gerichtsurkunde oder Formel
der karolingischen Zeit.

Zweitens gelangt der Pfalzgraf in Vertretung des Königs zu
selbständigem richterlichem Vorsitz15. Sachen geringerer Leute sind
ihm ein für allemal zugewiesen; dagegen soll er Angelegenheiten der
Grossen nicht ohne besonderen Auftrag des Königs erledigen16. So
zweigt sich von dem Königsgerichte, das unter dem Vorsitz des
Königs und nach wie vor unter dem Beisitz des Pfalzgrafen gehalten
wird, ein besonderes Gericht des Pfalzgrafen ab, welches er ex auctori-
tate regia und mit den ausserordentlichen Machtmitteln der königlichen
Gerichtsgewalt, insbesondere mit dem Rechte der königlichen Billig-
keitsjustiz leitet17. Rechtsfälle, für die es an einer Entscheidungs-
norm fehlte, und neu auftauchende Anlässe einer Kollision zwischen
strengem Volksrechte und den Grundsätzen der Billigkeit hatte der
Pfalzgraf an den König zu bringen, unter dessen Vorsitz dann die
Sache entschieden wurde. Soweit ein Herkommen oder auch nur ein
Präjudiz des Königsgerichtes vorlag, konnte der Pfalzgraf ohne Be-
fragung des Königs die Sache ex aequitate erledigen lassen.

Drittens erhält der Pfalzgraf bei dem Könige die Stellung eines

lum palatii der Gerichtsurkunden siehe Th. Sickel, Acta I 364. Mit der Tren-
nung der Gerichtsschreiberei von der königlichen Kanzlei hängt der Unterschied
zusammen, der sich unter den Karolingern zwischen der barbarischen Latinität der
Gerichtsurkunden und der glätteren Sprache der Diplome bemerkbar macht.
H. Brunner, Gerichtszeugnis S. 169, Anm. 2.
15 Als die ältesten Urkunden über Gerichtsverhandlungen, in welchen der
Pfalzgraf Gericht hielt, kenne ich Registrum Farfense Nr. 161 und 165 aus dem
Jahre 801. Beispiele aus der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts bei Bar-
chewitz
, Königsgericht S. 90. Dazu Thevenin Nr. 71 v. J. 834: comis eum
(Johannem) mallavit ... in Aquis palatii ante Vuarangande comiti palatii vel
ante ... comites .. seu etiam iudices .... qui erant ad tunc iudices dominici ...;
et a tunc Johannes in supradictorum iudicio sua dedit testimonia ..
16 Cap. de iustitiis faciendis 811--813, c. 2, I 176.
17 Siehe unten § 77. Hincmar, De ordine palatii c. 21: comitis palatii ..
in hoc maxime sollicitudo erat, ut omnes contentiones legales, quae alibi ortae
propter aequitatis iudicium palatium aggrediebantur, iuste ac rationabiliter
determinaret seu perverse iudicata ad aequitatis tramitem reduceret. In Schutz-
briefen dieser Zeit wird die Erledigung der reclamatio ad regis sententiam mit-
unter ausdrücklich auch der Entscheidung des Pfalzgrafen vorbehalten. Bouquet
VI 674. 678. H. Brunner, Entstehung der Schwurgerichte S. 75.

§ 73. Die Pfalzgrafen.
Inhalt der von pfalzgräflichen Notaren geschriebenen Placita trägt der
Pfalzgraf als Vorgesetzter die selbstverständliche Verantwortung. Die
Klausel über das testimonium comitis palatii ist daher zwecklos ge-
worden. Sie verschwindet schon in den Placita der merowingischen
Hausmeier und findet sich in keiner Gerichtsurkunde oder Formel
der karolingischen Zeit.

Zweitens gelangt der Pfalzgraf in Vertretung des Königs zu
selbständigem richterlichem Vorsitz15. Sachen geringerer Leute sind
ihm ein für allemal zugewiesen; dagegen soll er Angelegenheiten der
Groſsen nicht ohne besonderen Auftrag des Königs erledigen16. So
zweigt sich von dem Königsgerichte, das unter dem Vorsitz des
Königs und nach wie vor unter dem Beisitz des Pfalzgrafen gehalten
wird, ein besonderes Gericht des Pfalzgrafen ab, welches er ex auctori-
tate regia und mit den auſserordentlichen Machtmitteln der königlichen
Gerichtsgewalt, insbesondere mit dem Rechte der königlichen Billig-
keitsjustiz leitet17. Rechtsfälle, für die es an einer Entscheidungs-
norm fehlte, und neu auftauchende Anlässe einer Kollision zwischen
strengem Volksrechte und den Grundsätzen der Billigkeit hatte der
Pfalzgraf an den König zu bringen, unter dessen Vorsitz dann die
Sache entschieden wurde. Soweit ein Herkommen oder auch nur ein
Präjudiz des Königsgerichtes vorlag, konnte der Pfalzgraf ohne Be-
fragung des Königs die Sache ex aequitate erledigen lassen.

Drittens erhält der Pfalzgraf bei dem Könige die Stellung eines

lum palatii der Gerichtsurkunden siehe Th. Sickel, Acta I 364. Mit der Tren-
nung der Gerichtsschreiberei von der königlichen Kanzlei hängt der Unterschied
zusammen, der sich unter den Karolingern zwischen der barbarischen Latinität der
Gerichtsurkunden und der glätteren Sprache der Diplome bemerkbar macht.
H. Brunner, Gerichtszeugnis S. 169, Anm. 2.
15 Als die ältesten Urkunden über Gerichtsverhandlungen, in welchen der
Pfalzgraf Gericht hielt, kenne ich Registrum Farfense Nr. 161 und 165 aus dem
Jahre 801. Beispiele aus der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts bei Bar-
chewitz
, Königsgericht S. 90. Dazu Thévenin Nr. 71 v. J. 834: comis eum
(Johannem) mallavit … in Aquis palatii ante Vuarangande comiti palatii vel
ante … comites .. seu etiam iudices .... qui erant ad tunc iudices dominici …;
et a tunc Johannes in supradictorum iudicio sua dedit testimonia ..
16 Cap. de iustitiis faciendis 811—813, c. 2, I 176.
17 Siehe unten § 77. Hincmar, De ordine palatii c. 21: comitis palatii ..
in hoc maxime sollicitudo erat, ut omnes contentiones legales, quae alibi ortae
propter aequitatis iudicium palatium aggrediebantur, iuste ac rationabiliter
determinaret seu perverse iudicata ad aequitatis tramitem reduceret. In Schutz-
briefen dieser Zeit wird die Erledigung der reclamatio ad regis sententiam mit-
unter ausdrücklich auch der Entscheidung des Pfalzgrafen vorbehalten. Bouquet
VI 674. 678. H. Brunner, Entstehung der Schwurgerichte S. 75.
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[111/0129] § 73. Die Pfalzgrafen. Inhalt der von pfalzgräflichen Notaren geschriebenen Placita trägt der Pfalzgraf als Vorgesetzter die selbstverständliche Verantwortung. Die Klausel über das testimonium comitis palatii ist daher zwecklos ge- worden. Sie verschwindet schon in den Placita der merowingischen Hausmeier und findet sich in keiner Gerichtsurkunde oder Formel der karolingischen Zeit. Zweitens gelangt der Pfalzgraf in Vertretung des Königs zu selbständigem richterlichem Vorsitz 15. Sachen geringerer Leute sind ihm ein für allemal zugewiesen; dagegen soll er Angelegenheiten der Groſsen nicht ohne besonderen Auftrag des Königs erledigen 16. So zweigt sich von dem Königsgerichte, das unter dem Vorsitz des Königs und nach wie vor unter dem Beisitz des Pfalzgrafen gehalten wird, ein besonderes Gericht des Pfalzgrafen ab, welches er ex auctori- tate regia und mit den auſserordentlichen Machtmitteln der königlichen Gerichtsgewalt, insbesondere mit dem Rechte der königlichen Billig- keitsjustiz leitet 17. Rechtsfälle, für die es an einer Entscheidungs- norm fehlte, und neu auftauchende Anlässe einer Kollision zwischen strengem Volksrechte und den Grundsätzen der Billigkeit hatte der Pfalzgraf an den König zu bringen, unter dessen Vorsitz dann die Sache entschieden wurde. Soweit ein Herkommen oder auch nur ein Präjudiz des Königsgerichtes vorlag, konnte der Pfalzgraf ohne Be- fragung des Königs die Sache ex aequitate erledigen lassen. Drittens erhält der Pfalzgraf bei dem Könige die Stellung eines 14 15 Als die ältesten Urkunden über Gerichtsverhandlungen, in welchen der Pfalzgraf Gericht hielt, kenne ich Registrum Farfense Nr. 161 und 165 aus dem Jahre 801. Beispiele aus der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts bei Bar- chewitz, Königsgericht S. 90. Dazu Thévenin Nr. 71 v. J. 834: comis eum (Johannem) mallavit … in Aquis palatii ante Vuarangande comiti palatii vel ante … comites .. seu etiam iudices .... qui erant ad tunc iudices dominici …; et a tunc Johannes in supradictorum iudicio sua dedit testimonia .. 16 Cap. de iustitiis faciendis 811—813, c. 2, I 176. 17 Siehe unten § 77. Hincmar, De ordine palatii c. 21: comitis palatii .. in hoc maxime sollicitudo erat, ut omnes contentiones legales, quae alibi ortae propter aequitatis iudicium palatium aggrediebantur, iuste ac rationabiliter determinaret seu perverse iudicata ad aequitatis tramitem reduceret. In Schutz- briefen dieser Zeit wird die Erledigung der reclamatio ad regis sententiam mit- unter ausdrücklich auch der Entscheidung des Pfalzgrafen vorbehalten. Bouquet VI 674. 678. H. Brunner, Entstehung der Schwurgerichte S. 75. 14 lum palatii der Gerichtsurkunden siehe Th. Sickel, Acta I 364. Mit der Tren- nung der Gerichtsschreiberei von der königlichen Kanzlei hängt der Unterschied zusammen, der sich unter den Karolingern zwischen der barbarischen Latinität der Gerichtsurkunden und der glätteren Sprache der Diplome bemerkbar macht. H. Brunner, Gerichtszeugnis S. 169, Anm. 2.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/129>, abgerufen am 22.11.2024.