§ 70. Der fränkische König als Patricius Romanorum etc.
über andere Herrscher gewähren. Mit Erfolg hat Karl in die inneren kirchlichen Angelegenheiten fremder Reiche eingegriffen49. Totius or- bis domini nennt einer der Päpste die Kaiser; alle Königreiche seien ihnen unterthan50. Ob und wie weit diese Prätensionen, die sich mit der zunehmenden Schwäche des Kaisertums steigerten, verwirk- licht werden konnten, blieb eine Machtfrage. Sie war zu Ungunsten des Kaisertums entschieden, seit die Kaiseridee im Vertrage von Ver- dun ihre entscheidende Niederlage erlitten hatte. Was von dem gross- artigen Inhalt, den Karl der Grosse dem Kaisertum gegeben hatte, noch etwa zu retten war, hat das Vorgehen Karls des Kahlen gründ- lich vergeudet. War das Kaisertum Karls des Grossen nur der Aus- druck für seine thatsächliche Herrschaft über das Abendland gewesen, so wurde es noch vor Ablauf eines Jahrhunderts der Zankapfel und die Beute des italienischen Kleinfürstentums.
Das Kaisertum wirkte auf das fränkische Königtum ein, aus dem es hervorgegangen war, indem es insbesondere eine Steigerung des theokratischen Charakters herbeiführte, den die Karolinger in das Königtum hineingetragen hatten. Ein Kapitular Karls des Grossen von 802, welches gewissermassen als Programm des kaiserlichen König- tums gelten darf, ist unter dem Impuls der jüngst erworbenen Kaiser- würde entstanden und lässt die Absicht einer erhöhten Regierungs- thätigkeit deutlich erkennen. Die kaiserliche Gewalt wurde nicht als eine von der königlichen verschiedene gedacht. Die königlichen Rechte waren kaiserliche geworden. Der Treueid, wie er früher dem König geleistet wurde, heisst jetzt imperiale sacramentum. Das Kaisertum ist gewissermassen nur das potenzierte Königtum. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass neben der Erhebung Ludwigs und Lothars zur Kaiserwürde eine besondere Erhebung zum König nicht stattfindet. Der Erwerb des Kaisertums erschien in beiden Fällen zugleich als der Erwerb des Königtums, welches jenes in sich schloss51.
Das Kaisertum war begrifflich das römische Kaisertum. Die oben erwähnte Fälschung, das Constitutum Constantini, bot die Handhabe dar, durch das Mittelglied des Papsttums eine Rechtskontinuität zwischen dem Reiche der römischen Imperatoren und dem neuen Kaisertum herzustellen, eine Auffassung, die nachmals für die Re- ception des römischen Rechtes massgebende Bedeutung erlangte. In fränkischer Zeit hat man die Konsequenz vom römischen Kaisertum
49Dahn, Urgesch. III 1053.
50 Joh. VIII epist. 73. 197 bei Mansi XVII 61. 134.
51 Vgl. oben Anm. 28 über eine Rückwirkung, welche andererseits das König- tum auf das Kaisertum ausübte.
§ 70. Der fränkische König als Patricius Romanorum etc.
über andere Herrscher gewähren. Mit Erfolg hat Karl in die inneren kirchlichen Angelegenheiten fremder Reiche eingegriffen49. Totius or- bis domini nennt einer der Päpste die Kaiser; alle Königreiche seien ihnen unterthan50. Ob und wie weit diese Prätensionen, die sich mit der zunehmenden Schwäche des Kaisertums steigerten, verwirk- licht werden konnten, blieb eine Machtfrage. Sie war zu Ungunsten des Kaisertums entschieden, seit die Kaiseridee im Vertrage von Ver- dun ihre entscheidende Niederlage erlitten hatte. Was von dem groſs- artigen Inhalt, den Karl der Groſse dem Kaisertum gegeben hatte, noch etwa zu retten war, hat das Vorgehen Karls des Kahlen gründ- lich vergeudet. War das Kaisertum Karls des Groſsen nur der Aus- druck für seine thatsächliche Herrschaft über das Abendland gewesen, so wurde es noch vor Ablauf eines Jahrhunderts der Zankapfel und die Beute des italienischen Kleinfürstentums.
Das Kaisertum wirkte auf das fränkische Königtum ein, aus dem es hervorgegangen war, indem es insbesondere eine Steigerung des theokratischen Charakters herbeiführte, den die Karolinger in das Königtum hineingetragen hatten. Ein Kapitular Karls des Groſsen von 802, welches gewissermaſsen als Programm des kaiserlichen König- tums gelten darf, ist unter dem Impuls der jüngst erworbenen Kaiser- würde entstanden und läſst die Absicht einer erhöhten Regierungs- thätigkeit deutlich erkennen. Die kaiserliche Gewalt wurde nicht als eine von der königlichen verschiedene gedacht. Die königlichen Rechte waren kaiserliche geworden. Der Treueid, wie er früher dem König geleistet wurde, heiſst jetzt imperiale sacramentum. Das Kaisertum ist gewissermaſsen nur das potenzierte Königtum. Dies zeigt sich unter anderem darin, daſs neben der Erhebung Ludwigs und Lothars zur Kaiserwürde eine besondere Erhebung zum König nicht stattfindet. Der Erwerb des Kaisertums erschien in beiden Fällen zugleich als der Erwerb des Königtums, welches jenes in sich schloſs51.
Das Kaisertum war begrifflich das römische Kaisertum. Die oben erwähnte Fälschung, das Constitutum Constantini, bot die Handhabe dar, durch das Mittelglied des Papsttums eine Rechtskontinuität zwischen dem Reiche der römischen Imperatoren und dem neuen Kaisertum herzustellen, eine Auffassung, die nachmals für die Re- ception des römischen Rechtes maſsgebende Bedeutung erlangte. In fränkischer Zeit hat man die Konsequenz vom römischen Kaisertum
49Dahn, Urgesch. III 1053.
50 Joh. VIII epist. 73. 197 bei Mansi XVII 61. 134.
51 Vgl. oben Anm. 28 über eine Rückwirkung, welche andererseits das König- tum auf das Kaisertum ausübte.
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§ 70. Der fränkische König als Patricius Romanorum etc.
über andere Herrscher gewähren. Mit Erfolg hat Karl in die inneren
kirchlichen Angelegenheiten fremder Reiche eingegriffen 49. Totius or-
bis domini nennt einer der Päpste die Kaiser; alle Königreiche
seien ihnen unterthan 50. Ob und wie weit diese Prätensionen, die sich
mit der zunehmenden Schwäche des Kaisertums steigerten, verwirk-
licht werden konnten, blieb eine Machtfrage. Sie war zu Ungunsten
des Kaisertums entschieden, seit die Kaiseridee im Vertrage von Ver-
dun ihre entscheidende Niederlage erlitten hatte. Was von dem groſs-
artigen Inhalt, den Karl der Groſse dem Kaisertum gegeben hatte,
noch etwa zu retten war, hat das Vorgehen Karls des Kahlen gründ-
lich vergeudet. War das Kaisertum Karls des Groſsen nur der Aus-
druck für seine thatsächliche Herrschaft über das Abendland gewesen,
so wurde es noch vor Ablauf eines Jahrhunderts der Zankapfel und
die Beute des italienischen Kleinfürstentums.
Das Kaisertum wirkte auf das fränkische Königtum ein, aus dem
es hervorgegangen war, indem es insbesondere eine Steigerung des
theokratischen Charakters herbeiführte, den die Karolinger in das
Königtum hineingetragen hatten. Ein Kapitular Karls des Groſsen
von 802, welches gewissermaſsen als Programm des kaiserlichen König-
tums gelten darf, ist unter dem Impuls der jüngst erworbenen Kaiser-
würde entstanden und läſst die Absicht einer erhöhten Regierungs-
thätigkeit deutlich erkennen. Die kaiserliche Gewalt wurde nicht als
eine von der königlichen verschiedene gedacht. Die königlichen Rechte
waren kaiserliche geworden. Der Treueid, wie er früher dem König
geleistet wurde, heiſst jetzt imperiale sacramentum. Das Kaisertum
ist gewissermaſsen nur das potenzierte Königtum. Dies zeigt sich
unter anderem darin, daſs neben der Erhebung Ludwigs und Lothars
zur Kaiserwürde eine besondere Erhebung zum König nicht stattfindet.
Der Erwerb des Kaisertums erschien in beiden Fällen zugleich als
der Erwerb des Königtums, welches jenes in sich schloſs 51.
Das Kaisertum war begrifflich das römische Kaisertum. Die oben
erwähnte Fälschung, das Constitutum Constantini, bot die Handhabe
dar, durch das Mittelglied des Papsttums eine Rechtskontinuität
zwischen dem Reiche der römischen Imperatoren und dem neuen
Kaisertum herzustellen, eine Auffassung, die nachmals für die Re-
ception des römischen Rechtes maſsgebende Bedeutung erlangte. In
fränkischer Zeit hat man die Konsequenz vom römischen Kaisertum
49 Dahn, Urgesch. III 1053.
50 Joh. VIII epist. 73. 197 bei Mansi XVII 61. 134.
51 Vgl. oben Anm. 28 über eine Rückwirkung, welche andererseits das König-
tum auf das Kaisertum ausübte.
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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/112>, abgerufen am 21.11.2024.
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