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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 6. Das deutsche Volk.
betrachtet werden dürfen. Soweit der Suebenname nur auf west-
germanische Völkerschaften bezogen wird 6, scheint er sich mit der
Gruppe der Herminonen zu decken. Auf einen engeren Zusammen-
hang suebischer Völkerschaften weist wohl der Name der unstreitig
suebischen Markomannen hin, als der Hüter der einem grösseren
Völkerverbande gemeinsamen Grenze. Unabhängig von dem Gegen-
satze der suebischen und nichtsuebischen Völkerschaften ist die viel
jüngere Scheidung der Westgermanen in Hochdeutsche und Nieder-
deutsche. Sie beruht hauptsächlich auf einer Verschiebung der gemein-
germanischen Lautstufen, welche zuerst und zwar vermutlich zu An-
fang des 6. oder gegen Ende des 5. Jahrhunderts bei den Baiern,
Schwaben und Langobarden eintrat und dann allmählich auch das
mittlere Deutschland ergriff 7.

Zwischen stammverwandten Völkerschaften bestanden religiöse
Verbände, welche durch die gemeinsame Verehrung einer Stammes-
gottheit und durch gemeinsame Kultusstätten zusammengehalten wur-
den 8. Ein Hain im Gebiete der Semnonen zwischen Oder und Elbe
war das Stammesheiligtum der suebischen Völkerschaften. Es war
dem arischen Himmelsgotte, dem germanischen Ziu geweiht, dessen
besondere Verehrung sich in den ältesten europäischen Sitzen der
Germanen als eigenartiger Kultus der Sueben 9 erhielt, als die übrigen
Stämme jüngere Götter an die Spitze ihrer Göttersysteme gesetzt
hatten. Die ingväonischen Völker besassen auf einer Insel der Nord-
see eine der Göttin Nerthus gewidmete Kultusstätte. Die gotisch-
vandalischen Stämme hatten ihren religiösen Mittelpunkt in dem
heiligen Hain der Naharvalen, wo sie ein jugendliches Brüderpaar als
Stammesgottheit verehrten. Wodan, ursprünglich der Gott des Stur-

6 Tacitus, der die Sueben Germ. c. 38--46 behandelt, rechnet auch die Ost-
germanen zu ihnen.
7 Scherer, Gesch. der deutschen Litteratur S 39 lässt sie um das Jahr 600,
Arnold, Urzeit S 37 schon im 5. Jahrh. eintreten. Die Veränderung hat, wie
Scherer bemerkt, einen bestimmten örtlichen Ausgangspunkt. Da sie uns in der
ersten Hälfte des 7. Jahrh. bei den deutschen Wörtern des langobardischen Edikts
begegnet, da ferner kaum zu vermuten ist, dass die Langobarden erst in Italien,
wo sie durch rätisch-romanische Bevölkerung von Baiern und Schwaben getrennt
waren, in die Lautverschiebung hineingezogen wurden, so bleibt es das Wahrschein-
lichste, dass die Abzweigung des Hochdeutschen schon gegen Ende des 5. oder zu
Anfang des 6. Jahrh. begann, als die Langobarden noch in Rugiland und Böhmen,
also in der Nachbarschaft der Baiern hausten.
8 Müllenhoff in Schmidts Z f. Geschichtswissensch. VIII 209. Sohm, Reichs-
u. Gerichtsverfassung I 2 f. Scherer a. O. S 8 f.
9 Die Semnonen hielten sich für die ältesten Sueben. Tacitus, Germ. c. 39.

§ 6. Das deutsche Volk.
betrachtet werden dürfen. Soweit der Suebenname nur auf west-
germanische Völkerschaften bezogen wird 6, scheint er sich mit der
Gruppe der Herminonen zu decken. Auf einen engeren Zusammen-
hang suebischer Völkerschaften weist wohl der Name der unstreitig
suebischen Markomannen hin, als der Hüter der einem gröſseren
Völkerverbande gemeinsamen Grenze. Unabhängig von dem Gegen-
satze der suebischen und nichtsuebischen Völkerschaften ist die viel
jüngere Scheidung der Westgermanen in Hochdeutsche und Nieder-
deutsche. Sie beruht hauptsächlich auf einer Verschiebung der gemein-
germanischen Lautstufen, welche zuerst und zwar vermutlich zu An-
fang des 6. oder gegen Ende des 5. Jahrhunderts bei den Baiern,
Schwaben und Langobarden eintrat und dann allmählich auch das
mittlere Deutschland ergriff 7.

Zwischen stammverwandten Völkerschaften bestanden religiöse
Verbände, welche durch die gemeinsame Verehrung einer Stammes-
gottheit und durch gemeinsame Kultusstätten zusammengehalten wur-
den 8. Ein Hain im Gebiete der Semnonen zwischen Oder und Elbe
war das Stammesheiligtum der suebischen Völkerschaften. Es war
dem arischen Himmelsgotte, dem germanischen Ziu geweiht, dessen
besondere Verehrung sich in den ältesten europäischen Sitzen der
Germanen als eigenartiger Kultus der Sueben 9 erhielt, als die übrigen
Stämme jüngere Götter an die Spitze ihrer Göttersysteme gesetzt
hatten. Die ingväonischen Völker besaſsen auf einer Insel der Nord-
see eine der Göttin Nerthus gewidmete Kultusstätte. Die gotisch-
vandalischen Stämme hatten ihren religiösen Mittelpunkt in dem
heiligen Hain der Naharvalen, wo sie ein jugendliches Brüderpaar als
Stammesgottheit verehrten. Wodan, ursprünglich der Gott des Stur-

6 Tacitus, der die Sueben Germ. c. 38—46 behandelt, rechnet auch die Ost-
germanen zu ihnen.
7 Scherer, Gesch. der deutschen Litteratur S 39 läſst sie um das Jahr 600,
Arnold, Urzeit S 37 schon im 5. Jahrh. eintreten. Die Veränderung hat, wie
Scherer bemerkt, einen bestimmten örtlichen Ausgangspunkt. Da sie uns in der
ersten Hälfte des 7. Jahrh. bei den deutschen Wörtern des langobardischen Edikts
begegnet, da ferner kaum zu vermuten ist, daſs die Langobarden erst in Italien,
wo sie durch rätisch-romanische Bevölkerung von Baiern und Schwaben getrennt
waren, in die Lautverschiebung hineingezogen wurden, so bleibt es das Wahrschein-
lichste, daſs die Abzweigung des Hochdeutschen schon gegen Ende des 5. oder zu
Anfang des 6. Jahrh. begann, als die Langobarden noch in Rugiland und Böhmen,
also in der Nachbarschaft der Baiern hausten.
8 Müllenhoff in Schmidts Z f. Geschichtswissensch. VIII 209. Sohm, Reichs-
u. Gerichtsverfassung I 2 f. Scherer a. O. S 8 f.
9 Die Semnonen hielten sich für die ältesten Sueben. Tacitus, Germ. c. 39.
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[31/0049] § 6. Das deutsche Volk. betrachtet werden dürfen. Soweit der Suebenname nur auf west- germanische Völkerschaften bezogen wird 6, scheint er sich mit der Gruppe der Herminonen zu decken. Auf einen engeren Zusammen- hang suebischer Völkerschaften weist wohl der Name der unstreitig suebischen Markomannen hin, als der Hüter der einem gröſseren Völkerverbande gemeinsamen Grenze. Unabhängig von dem Gegen- satze der suebischen und nichtsuebischen Völkerschaften ist die viel jüngere Scheidung der Westgermanen in Hochdeutsche und Nieder- deutsche. Sie beruht hauptsächlich auf einer Verschiebung der gemein- germanischen Lautstufen, welche zuerst und zwar vermutlich zu An- fang des 6. oder gegen Ende des 5. Jahrhunderts bei den Baiern, Schwaben und Langobarden eintrat und dann allmählich auch das mittlere Deutschland ergriff 7. Zwischen stammverwandten Völkerschaften bestanden religiöse Verbände, welche durch die gemeinsame Verehrung einer Stammes- gottheit und durch gemeinsame Kultusstätten zusammengehalten wur- den 8. Ein Hain im Gebiete der Semnonen zwischen Oder und Elbe war das Stammesheiligtum der suebischen Völkerschaften. Es war dem arischen Himmelsgotte, dem germanischen Ziu geweiht, dessen besondere Verehrung sich in den ältesten europäischen Sitzen der Germanen als eigenartiger Kultus der Sueben 9 erhielt, als die übrigen Stämme jüngere Götter an die Spitze ihrer Göttersysteme gesetzt hatten. Die ingväonischen Völker besaſsen auf einer Insel der Nord- see eine der Göttin Nerthus gewidmete Kultusstätte. Die gotisch- vandalischen Stämme hatten ihren religiösen Mittelpunkt in dem heiligen Hain der Naharvalen, wo sie ein jugendliches Brüderpaar als Stammesgottheit verehrten. Wodan, ursprünglich der Gott des Stur- 6 Tacitus, der die Sueben Germ. c. 38—46 behandelt, rechnet auch die Ost- germanen zu ihnen. 7 Scherer, Gesch. der deutschen Litteratur S 39 läſst sie um das Jahr 600, Arnold, Urzeit S 37 schon im 5. Jahrh. eintreten. Die Veränderung hat, wie Scherer bemerkt, einen bestimmten örtlichen Ausgangspunkt. Da sie uns in der ersten Hälfte des 7. Jahrh. bei den deutschen Wörtern des langobardischen Edikts begegnet, da ferner kaum zu vermuten ist, daſs die Langobarden erst in Italien, wo sie durch rätisch-romanische Bevölkerung von Baiern und Schwaben getrennt waren, in die Lautverschiebung hineingezogen wurden, so bleibt es das Wahrschein- lichste, daſs die Abzweigung des Hochdeutschen schon gegen Ende des 5. oder zu Anfang des 6. Jahrh. begann, als die Langobarden noch in Rugiland und Böhmen, also in der Nachbarschaft der Baiern hausten. 8 Müllenhoff in Schmidts Z f. Geschichtswissensch. VIII 209. Sohm, Reichs- u. Gerichtsverfassung I 2 f. Scherer a. O. S 8 f. 9 Die Semnonen hielten sich für die ältesten Sueben. Tacitus, Germ. c. 39.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/49>, abgerufen am 29.03.2024.