Vermehrung der Volkszahl, die Erschöpfung des Bodens, der Druck nachrückender Schwärme einen Wechsel der Wohnsitze veranlasste, dann wanderte der ganze Stamm oder ein Teil desselben, um neue Siedlungsgebiete zu gewinnen. In harten und blutigen Kämpfen mussten die Germanen erfahren, dass ihren Wanderzügen der Weg nach Süd und West durch die Macht des römischen Reiches gesperrt sei. Die in südlicher Richtung wandernden Kimbern und Teutonen wurden auf römischer Erde durch Marius vernichtet. Die auf west- lichem Wege vorgedrungenen suebischen Völkerschaften warf Cäsar zurück, nachdem sie sich kurze Zeit in Gallien festgesetzt hatten.
Mit wirksamem Gegenstoss versuchten dann die Römer in Ger- manien einzudringen und das Land in eine römische Provinz zu ver- wandeln. Dass sie vorübergehende Erfolge erreichten, verdankten sie den unter den Germanen waltenden Gegensätzen, die eine gemeinsame Abwehr verhinderten. Die nordwestlichen Völkerschaften, Bataver, Friesen und Chauken, wurden von den Römern auf gütlichem Wege oder doch ohne nennenswerte Kämpfe gewonnen. Die Widerstands- kraft der mittleren Stämme lähmten innere Zwistigkeiten und vor- nehmlich die Spannung, die zwischen ihnen und dem markomannischen Suebenreiche des Königs Marbod bestand 2. Schon befand sich Ger- manien bis gegen die Elbe unter römischer Botmässigkeit, da brachte die vereinigte Erhebung der Cherusker, Chatten, Brukterer und ihrer Bundesgenossen die Römer um die Früchte ihrer Politik. Seit der Varusschlacht, an deren Folgen die Feldzüge des Germanicus nichts zu ändern vermochten, haben sich die Römer des Gedankens ent- wöhnt, Germanien zu unterwerfen, und wurden der Rhein und die Donau die Grenzströme des römischen Reiches, auf deren wirksame Verteidigung sich von nun ab das Verhältnis der Römer zu den Germanen im wesentlichen beschränkt.
Unter den Ergebnissen jener Kämpfe darf nicht übersehen wer- den, dass sie auf die inneren Zustände der beiden Gegner eine nach- haltige Rückwirkung ausübten. Die Germanengefahr zeitigte und festigte die Entwicklung des römischen Imperatorentums, weil nur eine straffe Regierung dem Reiche die Kraft erfolgreicher Abwehr verleihen konnte. Andrerseits wurden die Germanen durch die Stauung, die ihre Wanderungen an den römischen Grenzen erfuhren, genötigt, allmählich zu grösserer Sesshaftigkeit überzugehen und jene inneren Wandlungen durchzumachen, durch welche sich das von Cäsar
2 v. Ranke, Weltgeschichte III 16 f. Nitzsch, Geschichte des deutschen Volkes I 32 ff.
§ 6. Das deutsche Volk.
Vermehrung der Volkszahl, die Erschöpfung des Bodens, der Druck nachrückender Schwärme einen Wechsel der Wohnsitze veranlaſste, dann wanderte der ganze Stamm oder ein Teil desselben, um neue Siedlungsgebiete zu gewinnen. In harten und blutigen Kämpfen muſsten die Germanen erfahren, daſs ihren Wanderzügen der Weg nach Süd und West durch die Macht des römischen Reiches gesperrt sei. Die in südlicher Richtung wandernden Kimbern und Teutonen wurden auf römischer Erde durch Marius vernichtet. Die auf west- lichem Wege vorgedrungenen suebischen Völkerschaften warf Cäsar zurück, nachdem sie sich kurze Zeit in Gallien festgesetzt hatten.
Mit wirksamem Gegenstoſs versuchten dann die Römer in Ger- manien einzudringen und das Land in eine römische Provinz zu ver- wandeln. Daſs sie vorübergehende Erfolge erreichten, verdankten sie den unter den Germanen waltenden Gegensätzen, die eine gemeinsame Abwehr verhinderten. Die nordwestlichen Völkerschaften, Bataver, Friesen und Chauken, wurden von den Römern auf gütlichem Wege oder doch ohne nennenswerte Kämpfe gewonnen. Die Widerstands- kraft der mittleren Stämme lähmten innere Zwistigkeiten und vor- nehmlich die Spannung, die zwischen ihnen und dem markomannischen Suebenreiche des Königs Marbod bestand 2. Schon befand sich Ger- manien bis gegen die Elbe unter römischer Botmäſsigkeit, da brachte die vereinigte Erhebung der Cherusker, Chatten, Brukterer und ihrer Bundesgenossen die Römer um die Früchte ihrer Politik. Seit der Varusschlacht, an deren Folgen die Feldzüge des Germanicus nichts zu ändern vermochten, haben sich die Römer des Gedankens ent- wöhnt, Germanien zu unterwerfen, und wurden der Rhein und die Donau die Grenzströme des römischen Reiches, auf deren wirksame Verteidigung sich von nun ab das Verhältnis der Römer zu den Germanen im wesentlichen beschränkt.
Unter den Ergebnissen jener Kämpfe darf nicht übersehen wer- den, daſs sie auf die inneren Zustände der beiden Gegner eine nach- haltige Rückwirkung ausübten. Die Germanengefahr zeitigte und festigte die Entwicklung des römischen Imperatorentums, weil nur eine straffe Regierung dem Reiche die Kraft erfolgreicher Abwehr verleihen konnte. Andrerseits wurden die Germanen durch die Stauung, die ihre Wanderungen an den römischen Grenzen erfuhren, genötigt, allmählich zu gröſserer Seſshaftigkeit überzugehen und jene inneren Wandlungen durchzumachen, durch welche sich das von Cäsar
2 v. Ranke, Weltgeschichte III 16 f. Nitzsch, Geschichte des deutschen Volkes I 32 ff.
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[28/0046]
§ 6. Das deutsche Volk.
Vermehrung der Volkszahl, die Erschöpfung des Bodens, der Druck
nachrückender Schwärme einen Wechsel der Wohnsitze veranlaſste,
dann wanderte der ganze Stamm oder ein Teil desselben, um neue
Siedlungsgebiete zu gewinnen. In harten und blutigen Kämpfen
muſsten die Germanen erfahren, daſs ihren Wanderzügen der Weg
nach Süd und West durch die Macht des römischen Reiches gesperrt
sei. Die in südlicher Richtung wandernden Kimbern und Teutonen
wurden auf römischer Erde durch Marius vernichtet. Die auf west-
lichem Wege vorgedrungenen suebischen Völkerschaften warf Cäsar
zurück, nachdem sie sich kurze Zeit in Gallien festgesetzt hatten.
Mit wirksamem Gegenstoſs versuchten dann die Römer in Ger-
manien einzudringen und das Land in eine römische Provinz zu ver-
wandeln. Daſs sie vorübergehende Erfolge erreichten, verdankten sie
den unter den Germanen waltenden Gegensätzen, die eine gemeinsame
Abwehr verhinderten. Die nordwestlichen Völkerschaften, Bataver,
Friesen und Chauken, wurden von den Römern auf gütlichem Wege
oder doch ohne nennenswerte Kämpfe gewonnen. Die Widerstands-
kraft der mittleren Stämme lähmten innere Zwistigkeiten und vor-
nehmlich die Spannung, die zwischen ihnen und dem markomannischen
Suebenreiche des Königs Marbod bestand 2. Schon befand sich Ger-
manien bis gegen die Elbe unter römischer Botmäſsigkeit, da brachte
die vereinigte Erhebung der Cherusker, Chatten, Brukterer und ihrer
Bundesgenossen die Römer um die Früchte ihrer Politik. Seit der
Varusschlacht, an deren Folgen die Feldzüge des Germanicus nichts
zu ändern vermochten, haben sich die Römer des Gedankens ent-
wöhnt, Germanien zu unterwerfen, und wurden der Rhein und die
Donau die Grenzströme des römischen Reiches, auf deren wirksame
Verteidigung sich von nun ab das Verhältnis der Römer zu den
Germanen im wesentlichen beschränkt.
Unter den Ergebnissen jener Kämpfe darf nicht übersehen wer-
den, daſs sie auf die inneren Zustände der beiden Gegner eine nach-
haltige Rückwirkung ausübten. Die Germanengefahr zeitigte und
festigte die Entwicklung des römischen Imperatorentums, weil nur
eine straffe Regierung dem Reiche die Kraft erfolgreicher Abwehr
verleihen konnte. Andrerseits wurden die Germanen durch die
Stauung, die ihre Wanderungen an den römischen Grenzen erfuhren,
genötigt, allmählich zu gröſserer Seſshaftigkeit überzugehen und jene
inneren Wandlungen durchzumachen, durch welche sich das von Cäsar
2 v. Ranke, Weltgeschichte III 16 f. Nitzsch, Geschichte des deutschen
Volkes I 32 ff.
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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/46>, abgerufen am 20.07.2024.
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