Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.§ 58. Die Formelsammlungen. von Urkunden das Bedürfnis nach Formelsammlungen, deren uns einebeträchtliche Anzahl erhalten ist. Doch scheinen selbst die ältesten um mehr wie ein volles Jahrhundert später als die ersten Aufzeich- nungen der Volksrechte entstanden zu sein. Die meisten Sammlungen stammen aus Neustrien, wo bei der Verquickung römischen und frän- kischen Rechtes die Abfassung neuer, die Umwandlung der her- gebrachten Formulare auf das dringendste nötig wurde. Die alaman- nischen und bairischen Sammlungen entstanden unter fränkischem Einfluss. Eine der ältesten Sammlungen hat das westgotische Reich aufzuweisen, keine dagegen Italien, weil sich hier ein gewerbsmässiges Notariat ausgebildet hatte und jeder Notar in seinen Notariatsakten eine Auswahl von Mustern besass, deren Kenntnis er auf seinen Nach- folger vererbte, wie er sie von seinem Vorgänger erworben hatte. Die Verfasser der Formelsammlungen beschränkten sich in der Regel auf eine vorzugsweise kompilierende Thätigkeit, indem sie die Muster, die sie zusammenstellten, nicht erfanden, sondern, wie wir dies an einzelnen Stücken bestimmt nachweisen können, vorhandenen Ur- kunden mit grösserer oder geringerer Freiheit nachbildeten oder geradezu entlehnten, wobei die Namen des Ausstellers und des Desti- natärs, die sonstigen individuellen Beziehungen der Vorlage, oft auch das Protokoll und das Eschatokoll getilgt wurden. Die rechtsgeschicht- lich wichtigsten Formelsammlungen sind -- nach Rechtsgebieten 2 und soweit es angeht innerhalb derselben chronologisch geordnet -- die folgenden: I. Die Formulae Wisigothicae 3, eine leider nicht vollständig 2 Römisches, salisches und burgundisches Recht können bei der Gruppierung der Formelsammlungen füglich nicht geschieden werden. 3 Zeumer S 575. 4 Arg. F. 25. 5 In F. 1. 13. 32. 35.
§ 58. Die Formelsammlungen. von Urkunden das Bedürfnis nach Formelsammlungen, deren uns einebeträchtliche Anzahl erhalten ist. Doch scheinen selbst die ältesten um mehr wie ein volles Jahrhundert später als die ersten Aufzeich- nungen der Volksrechte entstanden zu sein. Die meisten Sammlungen stammen aus Neustrien, wo bei der Verquickung römischen und frän- kischen Rechtes die Abfassung neuer, die Umwandlung der her- gebrachten Formulare auf das dringendste nötig wurde. Die alaman- nischen und bairischen Sammlungen entstanden unter fränkischem Einfluſs. Eine der ältesten Sammlungen hat das westgotische Reich aufzuweisen, keine dagegen Italien, weil sich hier ein gewerbsmäſsiges Notariat ausgebildet hatte und jeder Notar in seinen Notariatsakten eine Auswahl von Mustern besaſs, deren Kenntnis er auf seinen Nach- folger vererbte, wie er sie von seinem Vorgänger erworben hatte. Die Verfasser der Formelsammlungen beschränkten sich in der Regel auf eine vorzugsweise kompilierende Thätigkeit, indem sie die Muster, die sie zusammenstellten, nicht erfanden, sondern, wie wir dies an einzelnen Stücken bestimmt nachweisen können, vorhandenen Ur- kunden mit gröſserer oder geringerer Freiheit nachbildeten oder geradezu entlehnten, wobei die Namen des Ausstellers und des Desti- natärs, die sonstigen individuellen Beziehungen der Vorlage, oft auch das Protokoll und das Eschatokoll getilgt wurden. Die rechtsgeschicht- lich wichtigsten Formelsammlungen sind — nach Rechtsgebieten 2 und soweit es angeht innerhalb derselben chronologisch geordnet — die folgenden: I. Die Formulae Wisigothicae 3, eine leider nicht vollständig 2 Römisches, salisches und burgundisches Recht können bei der Gruppierung der Formelsammlungen füglich nicht geschieden werden. 3 Zeumer S 575. 4 Arg. F. 25. 5 In F. 1. 13. 32. 35.
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§ 58. Die Formelsammlungen.
von Urkunden das Bedürfnis nach Formelsammlungen, deren uns eine
beträchtliche Anzahl erhalten ist. Doch scheinen selbst die ältesten
um mehr wie ein volles Jahrhundert später als die ersten Aufzeich-
nungen der Volksrechte entstanden zu sein. Die meisten Sammlungen
stammen aus Neustrien, wo bei der Verquickung römischen und frän-
kischen Rechtes die Abfassung neuer, die Umwandlung der her-
gebrachten Formulare auf das dringendste nötig wurde. Die alaman-
nischen und bairischen Sammlungen entstanden unter fränkischem
Einfluſs. Eine der ältesten Sammlungen hat das westgotische Reich
aufzuweisen, keine dagegen Italien, weil sich hier ein gewerbsmäſsiges
Notariat ausgebildet hatte und jeder Notar in seinen Notariatsakten
eine Auswahl von Mustern besaſs, deren Kenntnis er auf seinen Nach-
folger vererbte, wie er sie von seinem Vorgänger erworben hatte.
Die Verfasser der Formelsammlungen beschränkten sich in der Regel
auf eine vorzugsweise kompilierende Thätigkeit, indem sie die Muster,
die sie zusammenstellten, nicht erfanden, sondern, wie wir dies an
einzelnen Stücken bestimmt nachweisen können, vorhandenen Ur-
kunden mit gröſserer oder geringerer Freiheit nachbildeten oder
geradezu entlehnten, wobei die Namen des Ausstellers und des Desti-
natärs, die sonstigen individuellen Beziehungen der Vorlage, oft auch
das Protokoll und das Eschatokoll getilgt wurden. Die rechtsgeschicht-
lich wichtigsten Formelsammlungen sind — nach Rechtsgebieten 2 und
soweit es angeht innerhalb derselben chronologisch geordnet — die
folgenden:
I. Die Formulae Wisigothicae 3, eine leider nicht vollständig
überlieferte Sammlung, von welcher uns 46 zum Teil verstümmelte
Formeln erhalten sind. Sie zeigen unter allen uns erhaltenen Samm-
lungen den engsten Anschluſs an das spätrömische Urkundenwesen.
Einzelne Formeln sind für die Goten, andere auch für die Römer be-
rechnet. Der Verfasser war vermutlich ein Notar aus Cordova 4. Die
Lex Romana Wisigothorum wird mehrfach allegiert 5. Formel 20, eine
in Hexametern abgefaſste Dotationsurkunde, stammt, wie der Schluſs
ersehen läſst, aus dem zweiten Jahre König Sisibuts (615—16). Kann
daraus nicht mit voller Sicherheit gefolgert werden, daſs die ganze
Sammlung noch vor dem Tode Sisibuts (620) angelegt wurde, so
2 Römisches, salisches und burgundisches Recht können bei der Gruppierung
der Formelsammlungen füglich nicht geschieden werden.
3 Zeumer S 575.
4 Arg. F. 25.
5 In F. 1. 13. 32. 35.
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