Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 57. Die Urkunden.
zubereiten, dass der Schreiber nach der levatio und firmatio nur noch
das Eschatokoll zu schreiben oder zu ergänzen brauchte, indem er die
signa der Zeugen, regelmässig auch seine subscriptio 28 und das
Datum eintrug. Das die Datierungszeile eröffnende datum oder data
ist seinem Wortsinne gemäss auf die Aushändigung der Urkunde zu
beziehen. Gewöhnlich ist damit die Übergabe der vollzogenen Urkunde
durch die Hand des Schreibers, manchmal aber die eigentliche traditio
cartae, die Begebung durch die Hand des Ausstellers gemeint 29.

Notitiae sind Referate über gerichtliche oder aussergerichtliche
Akte, die ohne urkundliche Vollziehung bereits zu rechtlicher Wirk-
samkeit gelangt sind. Bei dem Zustandekommen der notitia, die nur
ein schriftliches Zeugnis sein will, findet eine der traditio cartae ent-
sprechende Handlung nicht statt. Am schärfsten prägt den Unter-
schied zwischen carta und notitia das italienische Urkundenwesen
aus. Mit Ausnahme der Gerichtsurkunde stellt sich die italienische
notitia (memoratorium) als eine vom Destinatär selbst ausgestellte
Urkunde dar. Sie ist unfähig signum oder Unterschrift des Aus-
stellers aufzunehmen, da ja dieser zugleich Destinatär der Urkunde
ist und die eigene firmatio für ihn keine Bedeutung haben kann. Ihr
Beweiswert liegt in den Zeugen. Als Aussteller der gerichtlichen
notitia erscheint in Italien der Richter, beziehungsweise das Gericht,
denn sie wird auf Grund eines gerichtlichen Urkundungsbefehls ge-
schrieben. Dem fränkischen und überhaupt dem ausseritalischen Ur-
kundenwesen ist der sachliche Unterschied gerichtlicher und ausser-
gerichtlicher notitiae fremd; dagegen kennt es den Unterschied zwischen
notitiae, die der Destinatär, und solchen, die der Vertragsgegner des-
selben ausstellt. Diese haben gewisse formelle Merkmale, nämlich
die Ausstellungsklauseln mit der carta gemeinsam. Jene, die ihren
Aussteller häufig gar nicht nennen, sind mitunter von seinem Ver-
tragsgegner signiert. Eigentliche Gerichtsurkunden stellt nach frän-
kischem Rechte nur das Königsgericht aus. Die notitiae, wie sie sonst

gewiesen, in welchen der Schreiber zunächst die Namen der Aussteller, der Zeugen
und den wesentlichen Inhalt des Rechtsgeschäftes vermerkte, um aus ihnen nach
der levatio die Reinschrift auf der dazu bestimmten Seite des Pergamentes her-
zustellen.
28 Er unterschreibt seinen Namen mit scripsi oder scripsi et subscripsi oder
mit anderen Subskriptionsformeln, deren die uns erhaltenen Urkunden eine kaum
erschöpfliche Fülle darbieten. Fremd ist den Urkunden diesseits der Alpen die in
Italien übliche, auf Justinians Gesetzgebung zurückführende Vollziehungsformel
complevi et absolvi, complevi et dedi u. dgl.
29 Brunner, RG der Urk. I 262 und Z f. HR XXII 541.

§ 57. Die Urkunden.
zubereiten, daſs der Schreiber nach der levatio und firmatio nur noch
das Eschatokoll zu schreiben oder zu ergänzen brauchte, indem er die
signa der Zeugen, regelmäſsig auch seine subscriptio 28 und das
Datum eintrug. Das die Datierungszeile eröffnende datum oder data
ist seinem Wortsinne gemäſs auf die Aushändigung der Urkunde zu
beziehen. Gewöhnlich ist damit die Übergabe der vollzogenen Urkunde
durch die Hand des Schreibers, manchmal aber die eigentliche traditio
cartae, die Begebung durch die Hand des Ausstellers gemeint 29.

Notitiae sind Referate über gerichtliche oder auſsergerichtliche
Akte, die ohne urkundliche Vollziehung bereits zu rechtlicher Wirk-
samkeit gelangt sind. Bei dem Zustandekommen der notitia, die nur
ein schriftliches Zeugnis sein will, findet eine der traditio cartae ent-
sprechende Handlung nicht statt. Am schärfsten prägt den Unter-
schied zwischen carta und notitia das italienische Urkundenwesen
aus. Mit Ausnahme der Gerichtsurkunde stellt sich die italienische
notitia (memoratorium) als eine vom Destinatär selbst ausgestellte
Urkunde dar. Sie ist unfähig signum oder Unterschrift des Aus-
stellers aufzunehmen, da ja dieser zugleich Destinatär der Urkunde
ist und die eigene firmatio für ihn keine Bedeutung haben kann. Ihr
Beweiswert liegt in den Zeugen. Als Aussteller der gerichtlichen
notitia erscheint in Italien der Richter, beziehungsweise das Gericht,
denn sie wird auf Grund eines gerichtlichen Urkundungsbefehls ge-
schrieben. Dem fränkischen und überhaupt dem auſseritalischen Ur-
kundenwesen ist der sachliche Unterschied gerichtlicher und auſser-
gerichtlicher notitiae fremd; dagegen kennt es den Unterschied zwischen
notitiae, die der Destinatär, und solchen, die der Vertragsgegner des-
selben ausstellt. Diese haben gewisse formelle Merkmale, nämlich
die Ausstellungsklauseln mit der carta gemeinsam. Jene, die ihren
Aussteller häufig gar nicht nennen, sind mitunter von seinem Ver-
tragsgegner signiert. Eigentliche Gerichtsurkunden stellt nach frän-
kischem Rechte nur das Königsgericht aus. Die notitiae, wie sie sonst

gewiesen, in welchen der Schreiber zunächst die Namen der Aussteller, der Zeugen
und den wesentlichen Inhalt des Rechtsgeschäftes vermerkte, um aus ihnen nach
der levatio die Reinschrift auf der dazu bestimmten Seite des Pergamentes her-
zustellen.
28 Er unterschreibt seinen Namen mit scripsi oder scripsi et subscripsi oder
mit anderen Subskriptionsformeln, deren die uns erhaltenen Urkunden eine kaum
erschöpfliche Fülle darbieten. Fremd ist den Urkunden diesseits der Alpen die in
Italien übliche, auf Justinians Gesetzgebung zurückführende Vollziehungsformel
complevi et absolvi, complevi et dedi u. dgl.
29 Brunner, RG der Urk. I 262 und Z f. HR XXII 541.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0416" n="398"/><fw place="top" type="header">§ 57. Die Urkunden.</fw><lb/>
zubereiten, da&#x017F;s der Schreiber nach der levatio und firmatio nur noch<lb/>
das Eschatokoll zu schreiben oder zu ergänzen brauchte, indem er die<lb/>
signa der Zeugen, regelmä&#x017F;sig auch seine subscriptio <note place="foot" n="28">Er unterschreibt seinen Namen mit scripsi oder scripsi et subscripsi oder<lb/>
mit anderen Subskriptionsformeln, deren die uns erhaltenen Urkunden eine kaum<lb/>
erschöpfliche Fülle darbieten. Fremd ist den Urkunden diesseits der Alpen die in<lb/>
Italien übliche, auf Justinians Gesetzgebung zurückführende Vollziehungsformel<lb/>
complevi et absolvi, complevi et dedi u. dgl.</note> und das<lb/>
Datum eintrug. Das die Datierungszeile eröffnende datum oder data<lb/>
ist seinem Wortsinne gemä&#x017F;s auf die Aushändigung der Urkunde zu<lb/>
beziehen. Gewöhnlich ist damit die Übergabe der vollzogenen Urkunde<lb/>
durch die Hand des Schreibers, manchmal aber die eigentliche traditio<lb/>
cartae, die Begebung durch die Hand des Ausstellers gemeint <note place="foot" n="29"><hi rendition="#g">Brunner,</hi> RG der Urk. I 262 und Z f. HR XXII 541.</note>.</p><lb/>
            <p>Notitiae sind Referate über gerichtliche oder au&#x017F;sergerichtliche<lb/>
Akte, die ohne urkundliche Vollziehung bereits zu rechtlicher Wirk-<lb/>
samkeit gelangt sind. Bei dem Zustandekommen der notitia, die nur<lb/>
ein schriftliches Zeugnis sein will, findet eine der traditio cartae ent-<lb/>
sprechende Handlung nicht statt. Am schärfsten prägt den Unter-<lb/>
schied zwischen carta und notitia das italienische Urkundenwesen<lb/>
aus. Mit Ausnahme der Gerichtsurkunde stellt sich die italienische<lb/>
notitia (memoratorium) als eine vom Destinatär selbst ausgestellte<lb/>
Urkunde dar. Sie ist unfähig signum oder Unterschrift des Aus-<lb/>
stellers aufzunehmen, da ja dieser zugleich Destinatär der Urkunde<lb/>
ist und die eigene firmatio für ihn keine Bedeutung haben kann. Ihr<lb/>
Beweiswert liegt in den Zeugen. Als Aussteller der gerichtlichen<lb/>
notitia erscheint in Italien der Richter, beziehungsweise das Gericht,<lb/>
denn sie wird auf Grund eines gerichtlichen Urkundungsbefehls ge-<lb/>
schrieben. Dem fränkischen und überhaupt dem au&#x017F;seritalischen Ur-<lb/>
kundenwesen ist der sachliche Unterschied gerichtlicher und au&#x017F;ser-<lb/>
gerichtlicher notitiae fremd; dagegen kennt es den Unterschied zwischen<lb/>
notitiae, die der Destinatär, und solchen, die der Vertragsgegner des-<lb/>
selben ausstellt. Diese haben gewisse formelle Merkmale, nämlich<lb/>
die Ausstellungsklauseln mit der carta gemeinsam. Jene, die ihren<lb/>
Aussteller häufig gar nicht nennen, sind mitunter von seinem Ver-<lb/>
tragsgegner signiert. Eigentliche Gerichtsurkunden stellt nach frän-<lb/>
kischem Rechte nur das Königsgericht aus. Die notitiae, wie sie sonst<lb/><note xml:id="seg2pn_32_2" prev="#seg2pn_32_1" place="foot" n="27">gewiesen, in welchen der Schreiber zunächst die Namen der Aussteller, der Zeugen<lb/>
und den wesentlichen Inhalt des Rechtsgeschäftes vermerkte, um aus ihnen nach<lb/>
der levatio die Reinschrift auf der dazu bestimmten Seite des Pergamentes her-<lb/>
zustellen.</note><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[398/0416] § 57. Die Urkunden. zubereiten, daſs der Schreiber nach der levatio und firmatio nur noch das Eschatokoll zu schreiben oder zu ergänzen brauchte, indem er die signa der Zeugen, regelmäſsig auch seine subscriptio 28 und das Datum eintrug. Das die Datierungszeile eröffnende datum oder data ist seinem Wortsinne gemäſs auf die Aushändigung der Urkunde zu beziehen. Gewöhnlich ist damit die Übergabe der vollzogenen Urkunde durch die Hand des Schreibers, manchmal aber die eigentliche traditio cartae, die Begebung durch die Hand des Ausstellers gemeint 29. Notitiae sind Referate über gerichtliche oder auſsergerichtliche Akte, die ohne urkundliche Vollziehung bereits zu rechtlicher Wirk- samkeit gelangt sind. Bei dem Zustandekommen der notitia, die nur ein schriftliches Zeugnis sein will, findet eine der traditio cartae ent- sprechende Handlung nicht statt. Am schärfsten prägt den Unter- schied zwischen carta und notitia das italienische Urkundenwesen aus. Mit Ausnahme der Gerichtsurkunde stellt sich die italienische notitia (memoratorium) als eine vom Destinatär selbst ausgestellte Urkunde dar. Sie ist unfähig signum oder Unterschrift des Aus- stellers aufzunehmen, da ja dieser zugleich Destinatär der Urkunde ist und die eigene firmatio für ihn keine Bedeutung haben kann. Ihr Beweiswert liegt in den Zeugen. Als Aussteller der gerichtlichen notitia erscheint in Italien der Richter, beziehungsweise das Gericht, denn sie wird auf Grund eines gerichtlichen Urkundungsbefehls ge- schrieben. Dem fränkischen und überhaupt dem auſseritalischen Ur- kundenwesen ist der sachliche Unterschied gerichtlicher und auſser- gerichtlicher notitiae fremd; dagegen kennt es den Unterschied zwischen notitiae, die der Destinatär, und solchen, die der Vertragsgegner des- selben ausstellt. Diese haben gewisse formelle Merkmale, nämlich die Ausstellungsklauseln mit der carta gemeinsam. Jene, die ihren Aussteller häufig gar nicht nennen, sind mitunter von seinem Ver- tragsgegner signiert. Eigentliche Gerichtsurkunden stellt nach frän- kischem Rechte nur das Königsgericht aus. Die notitiae, wie sie sonst 27 28 Er unterschreibt seinen Namen mit scripsi oder scripsi et subscripsi oder mit anderen Subskriptionsformeln, deren die uns erhaltenen Urkunden eine kaum erschöpfliche Fülle darbieten. Fremd ist den Urkunden diesseits der Alpen die in Italien übliche, auf Justinians Gesetzgebung zurückführende Vollziehungsformel complevi et absolvi, complevi et dedi u. dgl. 29 Brunner, RG der Urk. I 262 und Z f. HR XXII 541. 27 gewiesen, in welchen der Schreiber zunächst die Namen der Aussteller, der Zeugen und den wesentlichen Inhalt des Rechtsgeschäftes vermerkte, um aus ihnen nach der levatio die Reinschrift auf der dazu bestimmten Seite des Pergamentes her- zustellen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/416
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/416>, abgerufen am 03.05.2024.