Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite
§ 57. Die Urkunden.

Unter den Königsurkunden 11 lassen sich, soweit ihr Inhalt recht-
lich von Belang ist, diplomata, placita, indiculi und capitularia
unterscheiden. Das Diplom ist die feierlichste Form der Königs-
urkunde. Es ist dispositive Urkunde, indem es Rechtsverhältnisse
begründet oder bestätigt, Vorrechte verleiht oder bekräftigt. Minder
wichtige Verfügungen werden nicht in der Form des Diploms ge-
troffen 12. Als placita bezeichnete man die königlichen Urkunden,
welche über Verhandlungen des Königsgerichtes ausgestellt wurden.
Sie sind im Tone eines vom König selbst erstatteten Berichtes über
die gerichtliche Verhandlung gehalten, an welchen sich das dem Urteil
entsprechende Rechtsgebot (praeceptum) des Königs anzuschliessen
pflegt 13. In merowingischer Zeit ist die Ausfertigung der placita
ebenso wie der Diplome und sonstigen königlichen Schriftstücke Sache
der königlichen Kanzlei, in karolingischer Zeit ist die Ausfertigung
der placita der Kanzlei entzogen und dem Pfalzgrafen überwiesen,
welchem zu diesem Zwecke besondere Gerichtsschreiber untergeben
sind. Während die placita in diplomatischer Beziehung wenigstens
hinsichtlich des Protokolls noch als eine Unterart der Diplome er-
scheinen, sind die indiculi, kurrente Stücke der Rechtspflege und der

11 Die merow. Königsurkunden sind von Karl Pertz in den Mon. Germ.
Dipl. I 1872, nebst den Privaturkunden der merow. Zeit von Pardessus, Diplo-
mata, chartae ... in 2 Bdn 1843--49 ediert worden. Beide Ausgaben sind unge-
nügend. Die Texte erhaltener Originale besser bei Tardif, Monuments historiques,
1863. Über Regesten s. oben S 9 Anm 5. Dazu Th. Sickel, Acta II.
12 Die Diplomatiker unterscheiden den Text der Urkunde und das Protokoll,
d. h. gewisse typische Eingangs- und Schlussformeln, von welchen erstere als Pro-
tokoll im e. S., letztere als Eschatokoll oder Schlussprotokoll bezeichnet werden.
Der Text der Diplome enthält ausser einer Einleitung regelmässig drei Bestandteile:
die narratio, die dispositio und die corroboratio. Zur Einleitung gehört neben
Adresse und Promulgationsformel (notum sit omnibus ...) bei wichtigeren Stücken
ein rhetorischer Prolog, Arenga. Narratio ist die Darlegung des Sachverhalts, welcher
die Verfügung des Königs veranlasst, dispositio diese Verfügung selbst, der eigent-
liche Rechtsinhalt des Diploms. Corroboratio ist die Ankündigung von Unterschrift
und Siegel. Die subscriptio wird von den merowingischen Königen in der Regel
eigenhändig geschrieben. Die Karolinger beschränken sich auf einen Vollziehungs-
strich, ein Handmal, wodurch sie den Namenszug, das Monogramm oder Kreuz er-
gänzen, das der Urkundenschreiber vorher bis auf einen kleinen Teil fertig gestellt
hatte. Sickel, UL S 213.
13 Die placita sind in merowingischer Zeit niemals, in karolingischer nur aus-
nahmsweise vom König unterzeichnet. Stumpf, Hist. Z XXIX 353 Anm 2. Sickel,
UL S 363 u. Anm 11. In merowingischer Zeit rekognosziert sie der Referendar, in
karolingischer ein pfalzgräflicher Notar. Sickel S 359. Brunner, Gerichtsz.
S 168. Über die Gerichtsurkunden Karls III. Mühlbacher a. O. S 142 (470) f.
Vgl. Sickel, Beitr. zur Diplomatik VI 64.
§ 57. Die Urkunden.

Unter den Königsurkunden 11 lassen sich, soweit ihr Inhalt recht-
lich von Belang ist, diplomata, placita, indiculi und capitularia
unterscheiden. Das Diplom ist die feierlichste Form der Königs-
urkunde. Es ist dispositive Urkunde, indem es Rechtsverhältnisse
begründet oder bestätigt, Vorrechte verleiht oder bekräftigt. Minder
wichtige Verfügungen werden nicht in der Form des Diploms ge-
troffen 12. Als placita bezeichnete man die königlichen Urkunden,
welche über Verhandlungen des Königsgerichtes ausgestellt wurden.
Sie sind im Tone eines vom König selbst erstatteten Berichtes über
die gerichtliche Verhandlung gehalten, an welchen sich das dem Urteil
entsprechende Rechtsgebot (praeceptum) des Königs anzuschlieſsen
pflegt 13. In merowingischer Zeit ist die Ausfertigung der placita
ebenso wie der Diplome und sonstigen königlichen Schriftstücke Sache
der königlichen Kanzlei, in karolingischer Zeit ist die Ausfertigung
der placita der Kanzlei entzogen und dem Pfalzgrafen überwiesen,
welchem zu diesem Zwecke besondere Gerichtsschreiber untergeben
sind. Während die placita in diplomatischer Beziehung wenigstens
hinsichtlich des Protokolls noch als eine Unterart der Diplome er-
scheinen, sind die indiculi, kurrente Stücke der Rechtspflege und der

11 Die merow. Königsurkunden sind von Karl Pertz in den Mon. Germ.
Dipl. I 1872, nebst den Privaturkunden der merow. Zeit von Pardessus, Diplo-
mata, chartae … in 2 Bdn 1843—49 ediert worden. Beide Ausgaben sind unge-
nügend. Die Texte erhaltener Originale besser bei Tardif, Monuments historiques,
1863. Über Regesten s. oben S 9 Anm 5. Dazu Th. Sickel, Acta II.
12 Die Diplomatiker unterscheiden den Text der Urkunde und das Protokoll,
d. h. gewisse typische Eingangs- und Schluſsformeln, von welchen erstere als Pro-
tokoll im e. S., letztere als Eschatokoll oder Schluſsprotokoll bezeichnet werden.
Der Text der Diplome enthält auſser einer Einleitung regelmäſsig drei Bestandteile:
die narratio, die dispositio und die corroboratio. Zur Einleitung gehört neben
Adresse und Promulgationsformel (notum sit omnibus …) bei wichtigeren Stücken
ein rhetorischer Prolog, Arenga. Narratio ist die Darlegung des Sachverhalts, welcher
die Verfügung des Königs veranlaſst, dispositio diese Verfügung selbst, der eigent-
liche Rechtsinhalt des Diploms. Corroboratio ist die Ankündigung von Unterschrift
und Siegel. Die subscriptio wird von den merowingischen Königen in der Regel
eigenhändig geschrieben. Die Karolinger beschränken sich auf einen Vollziehungs-
strich, ein Handmal, wodurch sie den Namenszug, das Monogramm oder Kreuz er-
gänzen, das der Urkundenschreiber vorher bis auf einen kleinen Teil fertig gestellt
hatte. Sickel, UL S 213.
13 Die placita sind in merowingischer Zeit niemals, in karolingischer nur aus-
nahmsweise vom König unterzeichnet. Stumpf, Hist. Z XXIX 353 Anm 2. Sickel,
UL S 363 u. Anm 11. In merowingischer Zeit rekognosziert sie der Referendar, in
karolingischer ein pfalzgräflicher Notar. Sickel S 359. Brunner, Gerichtsz.
S 168. Über die Gerichtsurkunden Karls III. Mühlbacher a. O. S 142 (470) f.
Vgl. Sickel, Beitr. zur Diplomatik VI 64.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0412" n="394"/>
            <fw place="top" type="header">§ 57. Die Urkunden.</fw><lb/>
            <p>Unter den Königsurkunden <note place="foot" n="11">Die merow. Königsurkunden sind von <hi rendition="#g">Karl Pertz</hi> in den Mon. Germ.<lb/>
Dipl. I 1872, nebst den Privaturkunden der merow. Zeit von <hi rendition="#g">Pardessus,</hi> Diplo-<lb/>
mata, chartae &#x2026; in 2 Bdn 1843&#x2014;49 ediert worden. Beide Ausgaben sind unge-<lb/>
nügend. Die Texte erhaltener Originale besser bei <hi rendition="#g">Tardif,</hi> Monuments historiques,<lb/>
1863. Über Regesten s. oben S 9 Anm 5. Dazu <hi rendition="#g">Th. Sickel,</hi> Acta II.</note> lassen sich, soweit ihr Inhalt recht-<lb/>
lich von Belang ist, diplomata, placita, indiculi und capitularia<lb/>
unterscheiden. Das Diplom ist die feierlichste Form der Königs-<lb/>
urkunde. Es ist dispositive Urkunde, indem es Rechtsverhältnisse<lb/>
begründet oder bestätigt, Vorrechte verleiht oder bekräftigt. Minder<lb/>
wichtige Verfügungen werden nicht in der Form des Diploms ge-<lb/>
troffen <note place="foot" n="12">Die Diplomatiker unterscheiden den Text der Urkunde und das Protokoll,<lb/>
d. h. gewisse typische Eingangs- und Schlu&#x017F;sformeln, von welchen erstere als Pro-<lb/>
tokoll im e. S., letztere als Eschatokoll oder Schlu&#x017F;sprotokoll bezeichnet werden.<lb/>
Der Text der Diplome enthält au&#x017F;ser einer Einleitung regelmä&#x017F;sig drei Bestandteile:<lb/>
die narratio, die dispositio und die corroboratio. Zur Einleitung gehört neben<lb/>
Adresse und Promulgationsformel (notum sit omnibus &#x2026;) bei wichtigeren Stücken<lb/>
ein rhetorischer Prolog, Arenga. Narratio ist die Darlegung des Sachverhalts, welcher<lb/>
die Verfügung des Königs veranla&#x017F;st, dispositio diese Verfügung selbst, der eigent-<lb/>
liche Rechtsinhalt des Diploms. Corroboratio ist die Ankündigung von Unterschrift<lb/>
und Siegel. Die subscriptio wird von den merowingischen Königen in der Regel<lb/>
eigenhändig geschrieben. Die Karolinger beschränken sich auf einen Vollziehungs-<lb/>
strich, ein Handmal, wodurch sie den Namenszug, das Monogramm oder Kreuz er-<lb/>
gänzen, das der Urkundenschreiber vorher bis auf einen kleinen Teil fertig gestellt<lb/>
hatte. <hi rendition="#g">Sickel,</hi> UL S 213.</note>. Als placita bezeichnete man die königlichen Urkunden,<lb/>
welche über Verhandlungen des Königsgerichtes ausgestellt wurden.<lb/>
Sie sind im Tone eines vom König selbst erstatteten Berichtes über<lb/>
die gerichtliche Verhandlung gehalten, an welchen sich das dem Urteil<lb/>
entsprechende Rechtsgebot (praeceptum) des Königs anzuschlie&#x017F;sen<lb/>
pflegt <note place="foot" n="13">Die placita sind in merowingischer Zeit niemals, in karolingischer nur aus-<lb/>
nahmsweise vom König unterzeichnet. <hi rendition="#g">Stumpf,</hi> Hist. Z XXIX 353 Anm 2. <hi rendition="#g">Sickel,</hi><lb/>
UL S 363 u. Anm 11. In merowingischer Zeit rekognosziert sie der Referendar, in<lb/>
karolingischer ein pfalzgräflicher Notar. <hi rendition="#g">Sickel</hi> S 359. <hi rendition="#g">Brunner,</hi> Gerichtsz.<lb/>
S 168. Über die Gerichtsurkunden Karls III. <hi rendition="#g">Mühlbacher</hi> a. O. S 142 (470) f.<lb/>
Vgl. <hi rendition="#g">Sickel,</hi> Beitr. zur Diplomatik VI 64.</note>. In merowingischer Zeit ist die Ausfertigung der placita<lb/>
ebenso wie der Diplome und sonstigen königlichen Schriftstücke Sache<lb/>
der königlichen Kanzlei, in karolingischer Zeit ist die Ausfertigung<lb/>
der placita der Kanzlei entzogen und dem Pfalzgrafen überwiesen,<lb/>
welchem zu diesem Zwecke besondere Gerichtsschreiber untergeben<lb/>
sind. Während die placita in diplomatischer Beziehung wenigstens<lb/>
hinsichtlich des Protokolls noch als eine Unterart der Diplome er-<lb/>
scheinen, sind die indiculi, kurrente Stücke der Rechtspflege und der<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[394/0412] § 57. Die Urkunden. Unter den Königsurkunden 11 lassen sich, soweit ihr Inhalt recht- lich von Belang ist, diplomata, placita, indiculi und capitularia unterscheiden. Das Diplom ist die feierlichste Form der Königs- urkunde. Es ist dispositive Urkunde, indem es Rechtsverhältnisse begründet oder bestätigt, Vorrechte verleiht oder bekräftigt. Minder wichtige Verfügungen werden nicht in der Form des Diploms ge- troffen 12. Als placita bezeichnete man die königlichen Urkunden, welche über Verhandlungen des Königsgerichtes ausgestellt wurden. Sie sind im Tone eines vom König selbst erstatteten Berichtes über die gerichtliche Verhandlung gehalten, an welchen sich das dem Urteil entsprechende Rechtsgebot (praeceptum) des Königs anzuschlieſsen pflegt 13. In merowingischer Zeit ist die Ausfertigung der placita ebenso wie der Diplome und sonstigen königlichen Schriftstücke Sache der königlichen Kanzlei, in karolingischer Zeit ist die Ausfertigung der placita der Kanzlei entzogen und dem Pfalzgrafen überwiesen, welchem zu diesem Zwecke besondere Gerichtsschreiber untergeben sind. Während die placita in diplomatischer Beziehung wenigstens hinsichtlich des Protokolls noch als eine Unterart der Diplome er- scheinen, sind die indiculi, kurrente Stücke der Rechtspflege und der 11 Die merow. Königsurkunden sind von Karl Pertz in den Mon. Germ. Dipl. I 1872, nebst den Privaturkunden der merow. Zeit von Pardessus, Diplo- mata, chartae … in 2 Bdn 1843—49 ediert worden. Beide Ausgaben sind unge- nügend. Die Texte erhaltener Originale besser bei Tardif, Monuments historiques, 1863. Über Regesten s. oben S 9 Anm 5. Dazu Th. Sickel, Acta II. 12 Die Diplomatiker unterscheiden den Text der Urkunde und das Protokoll, d. h. gewisse typische Eingangs- und Schluſsformeln, von welchen erstere als Pro- tokoll im e. S., letztere als Eschatokoll oder Schluſsprotokoll bezeichnet werden. Der Text der Diplome enthält auſser einer Einleitung regelmäſsig drei Bestandteile: die narratio, die dispositio und die corroboratio. Zur Einleitung gehört neben Adresse und Promulgationsformel (notum sit omnibus …) bei wichtigeren Stücken ein rhetorischer Prolog, Arenga. Narratio ist die Darlegung des Sachverhalts, welcher die Verfügung des Königs veranlaſst, dispositio diese Verfügung selbst, der eigent- liche Rechtsinhalt des Diploms. Corroboratio ist die Ankündigung von Unterschrift und Siegel. Die subscriptio wird von den merowingischen Königen in der Regel eigenhändig geschrieben. Die Karolinger beschränken sich auf einen Vollziehungs- strich, ein Handmal, wodurch sie den Namenszug, das Monogramm oder Kreuz er- gänzen, das der Urkundenschreiber vorher bis auf einen kleinen Teil fertig gestellt hatte. Sickel, UL S 213. 13 Die placita sind in merowingischer Zeit niemals, in karolingischer nur aus- nahmsweise vom König unterzeichnet. Stumpf, Hist. Z XXIX 353 Anm 2. Sickel, UL S 363 u. Anm 11. In merowingischer Zeit rekognosziert sie der Referendar, in karolingischer ein pfalzgräflicher Notar. Sickel S 359. Brunner, Gerichtsz. S 168. Über die Gerichtsurkunden Karls III. Mühlbacher a. O. S 142 (470) f. Vgl. Sickel, Beitr. zur Diplomatik VI 64.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/412
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/412>, abgerufen am 02.05.2024.