Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.§ 55. Die Kapitulariensammlungen. 124 Nummern verzeichnet, und ein Beweis, wie schlimm es mit derZugänglichkeit des Kapitularienstoffes schon in den Tagen des Ansegisus bestellt war. Ansegis bemühte sich, in seiner Sammlung den echten Text der ihm zugänglichen Kapitularien zu geben und vermied will- kürliche Änderungen des Sinnes. Die Überschriften, welche er den einzelnen Kapiteln voranstellte, sind in der Mehrzahl aus seiner Feder geflossen. Sein Werk wurde im fränkischen Reiche -- mit Ausnahme Italiens -- viel benutzt und handschriftlich stark verbreitet 4. Ob- zwar Privatarbeit, erlangte es binnen kurzer Zeit das Ansehen einer amtlichen Sammlung. Schon 829 zitiert Ludwig seines Vaters und seine eigenen Kapitularien nach Ansegis 5. Unter Karl dem Kahlen wurde die königliche Kanzlei angewiesen, den Missi, welchen gewisse Kapitularien Karls des Grossen und Ludwigs I. nicht zur Hand seien, Abschriften aus der Sammlung des Ansegis zuzustellen 6. In schroffem Gegensatz zur Collectio Ansegisi steht eine angebliche Dem Machwerk gehen voraus: 1) ein kurzer Prolog in sieben 4 Es sind uns etwa 50 Handschriften erhalten. 5 Pertz, LL I 350, c. 5. 6 Cap. v. J. 853 c. 11 vgl. mit c. 6, Pertz, LL I 425. 7 Sie enthält drei Bücher, welche mit Ansegis vereinigt als 5., 6. u. 7. Buch der Kapitularien gezählt wurden; ausserdem drei, in manchen Handschriften vier Anhänge. 8 ... Autcario demum, quem tunc Mogontia summum
Pontificem tenuit, praecipiente pio, Post Benedictus ego ternos levita libellos Adnexi, legis quis recitatur opus. § 55. Die Kapitulariensammlungen. 124 Nummern verzeichnet, und ein Beweis, wie schlimm es mit derZugänglichkeit des Kapitularienstoffes schon in den Tagen des Ansegisus bestellt war. Ansegis bemühte sich, in seiner Sammlung den echten Text der ihm zugänglichen Kapitularien zu geben und vermied will- kürliche Änderungen des Sinnes. Die Überschriften, welche er den einzelnen Kapiteln voranstellte, sind in der Mehrzahl aus seiner Feder geflossen. Sein Werk wurde im fränkischen Reiche — mit Ausnahme Italiens — viel benutzt und handschriftlich stark verbreitet 4. Ob- zwar Privatarbeit, erlangte es binnen kurzer Zeit das Ansehen einer amtlichen Sammlung. Schon 829 zitiert Ludwig seines Vaters und seine eigenen Kapitularien nach Ansegis 5. Unter Karl dem Kahlen wurde die königliche Kanzlei angewiesen, den Missi, welchen gewisse Kapitularien Karls des Groſsen und Ludwigs I. nicht zur Hand seien, Abschriften aus der Sammlung des Ansegis zuzustellen 6. In schroffem Gegensatz zur Collectio Ansegisi steht eine angebliche Dem Machwerk gehen voraus: 1) ein kurzer Prolog in sieben 4 Es sind uns etwa 50 Handschriften erhalten. 5 Pertz, LL I 350, c. 5. 6 Cap. v. J. 853 c. 11 vgl. mit c. 6, Pertz, LL I 425. 7 Sie enthält drei Bücher, welche mit Ansegis vereinigt als 5., 6. u. 7. Buch der Kapitularien gezählt wurden; auſserdem drei, in manchen Handschriften vier Anhänge. 8 … Autcario demum, quem tunc Mogontia summum
Pontificem tenuit, praecipiente pio, Post Benedictus ego ternos levita libellos Adnexi, legis quis recitatur opus. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0402" n="384"/><fw place="top" type="header">§ 55. Die Kapitulariensammlungen.</fw><lb/> 124 Nummern verzeichnet, und ein Beweis, wie schlimm es mit der<lb/> Zugänglichkeit des Kapitularienstoffes schon in den Tagen des Ansegisus<lb/> bestellt war. Ansegis bemühte sich, in seiner Sammlung den echten<lb/> Text der ihm zugänglichen Kapitularien zu geben und vermied will-<lb/> kürliche Änderungen des Sinnes. Die Überschriften, welche er den<lb/> einzelnen Kapiteln voranstellte, sind in der Mehrzahl aus seiner Feder<lb/> geflossen. Sein Werk wurde im fränkischen Reiche — mit Ausnahme<lb/> Italiens — viel benutzt und handschriftlich stark verbreitet <note place="foot" n="4">Es sind uns etwa 50 Handschriften erhalten.</note>. Ob-<lb/> zwar Privatarbeit, erlangte es binnen kurzer Zeit das Ansehen einer<lb/> amtlichen Sammlung. Schon 829 zitiert Ludwig seines Vaters und<lb/> seine eigenen Kapitularien nach Ansegis <note place="foot" n="5"><hi rendition="#g">Pertz</hi>, LL I 350, c. 5.</note>. Unter Karl dem Kahlen<lb/> wurde die königliche Kanzlei angewiesen, den Missi, welchen gewisse<lb/> Kapitularien Karls des Groſsen und Ludwigs I. nicht zur Hand seien,<lb/> Abschriften aus der Sammlung des Ansegis zuzustellen <note place="foot" n="6">Cap. v. J. 853 c. 11 vgl. mit c. 6, <hi rendition="#g">Pertz</hi>, LL I 425.</note>.</p><lb/> <p>In schroffem Gegensatz zur Collectio Ansegisi steht eine angebliche<lb/> Kapitulariensammlung, welche um die Mitte des neunten Jahrhunderts<lb/> in Westfrancien entstand <note place="foot" n="7">Sie enthält drei Bücher, welche mit Ansegis vereinigt als 5., 6. u. 7. Buch der<lb/> Kapitularien gezählt wurden; auſserdem drei, in manchen Handschriften vier Anhänge.</note>. Sie giebt sich für eine Ergänzung des<lb/> Ansegisus aus, erweist sich aber zum gröſsten Teile als eine absicht-<lb/> liche Fälschung. Die Hauptmasse des Stoffes stammt nicht aus<lb/> wirklichen Kapitularien fränkischer Könige, sondern ist teils römischen<lb/> Rechtsquellen, dem Codex Theodosianus, dem Breviarium Alaricianum,<lb/> dem Novellenauszug Julians, den Sententiae des Paulus, teils dem<lb/> bairischen und dem westgotischen Volksrechte, teils kirchenrechtlichen<lb/> Quellen, Sammlungen von Canones und Dekretalen, Beichtbüchern,<lb/> Kirchenvätern und der Bibel entlehnt. Soweit der Verfasser echte<lb/> Kapitularien benutzte, zog er manche Stücke heran, die Ansegis nicht<lb/> kannte, gab aber, wo es ihm paſste, nicht den wörtlichen, sondern<lb/> einen umgestalteten Text. Ebenso verfuhr er mit den übrigen Vor-<lb/> lagen in willkürlicher Weise.</p><lb/> <p>Dem Machwerk gehen voraus: 1) ein kurzer Prolog in sieben<lb/> Distichen, worin sich ein angeblicher Benedictus levita als Verfasser<lb/> einführt und erklärt, daſs er die Sammlung auf Befehl Otgars, der<lb/> damals den Mainzer Stuhl innehatte, dem Ansegis hinzugefügt habe <note place="foot" n="8">… Autcario demum, quem tunc Mogontia summum<lb/> Pontificem tenuit, praecipiente pio,<lb/> Post Benedictus ego ternos levita libellos<lb/> Adnexi, legis quis recitatur opus.</note>;<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [384/0402]
§ 55. Die Kapitulariensammlungen.
124 Nummern verzeichnet, und ein Beweis, wie schlimm es mit der
Zugänglichkeit des Kapitularienstoffes schon in den Tagen des Ansegisus
bestellt war. Ansegis bemühte sich, in seiner Sammlung den echten
Text der ihm zugänglichen Kapitularien zu geben und vermied will-
kürliche Änderungen des Sinnes. Die Überschriften, welche er den
einzelnen Kapiteln voranstellte, sind in der Mehrzahl aus seiner Feder
geflossen. Sein Werk wurde im fränkischen Reiche — mit Ausnahme
Italiens — viel benutzt und handschriftlich stark verbreitet 4. Ob-
zwar Privatarbeit, erlangte es binnen kurzer Zeit das Ansehen einer
amtlichen Sammlung. Schon 829 zitiert Ludwig seines Vaters und
seine eigenen Kapitularien nach Ansegis 5. Unter Karl dem Kahlen
wurde die königliche Kanzlei angewiesen, den Missi, welchen gewisse
Kapitularien Karls des Groſsen und Ludwigs I. nicht zur Hand seien,
Abschriften aus der Sammlung des Ansegis zuzustellen 6.
In schroffem Gegensatz zur Collectio Ansegisi steht eine angebliche
Kapitulariensammlung, welche um die Mitte des neunten Jahrhunderts
in Westfrancien entstand 7. Sie giebt sich für eine Ergänzung des
Ansegisus aus, erweist sich aber zum gröſsten Teile als eine absicht-
liche Fälschung. Die Hauptmasse des Stoffes stammt nicht aus
wirklichen Kapitularien fränkischer Könige, sondern ist teils römischen
Rechtsquellen, dem Codex Theodosianus, dem Breviarium Alaricianum,
dem Novellenauszug Julians, den Sententiae des Paulus, teils dem
bairischen und dem westgotischen Volksrechte, teils kirchenrechtlichen
Quellen, Sammlungen von Canones und Dekretalen, Beichtbüchern,
Kirchenvätern und der Bibel entlehnt. Soweit der Verfasser echte
Kapitularien benutzte, zog er manche Stücke heran, die Ansegis nicht
kannte, gab aber, wo es ihm paſste, nicht den wörtlichen, sondern
einen umgestalteten Text. Ebenso verfuhr er mit den übrigen Vor-
lagen in willkürlicher Weise.
Dem Machwerk gehen voraus: 1) ein kurzer Prolog in sieben
Distichen, worin sich ein angeblicher Benedictus levita als Verfasser
einführt und erklärt, daſs er die Sammlung auf Befehl Otgars, der
damals den Mainzer Stuhl innehatte, dem Ansegis hinzugefügt habe 8;
4 Es sind uns etwa 50 Handschriften erhalten.
5 Pertz, LL I 350, c. 5.
6 Cap. v. J. 853 c. 11 vgl. mit c. 6, Pertz, LL I 425.
7 Sie enthält drei Bücher, welche mit Ansegis vereinigt als 5., 6. u. 7. Buch der
Kapitularien gezählt wurden; auſserdem drei, in manchen Handschriften vier Anhänge.
8 … Autcario demum, quem tunc Mogontia summum
Pontificem tenuit, praecipiente pio,
Post Benedictus ego ternos levita libellos
Adnexi, legis quis recitatur opus.
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