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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 52. Die ostgotischen Edikte.
Theoderich, dass er zur Aufrechthaltung von Ruhe und Ordnung be-
fohlen habe das Edikt auszuhängen, damit sowohl die Barbaren als
auch die Römer daraus ersehen könnten, was sie in den darin be-
handelten Punkten zu befolgen hätten. Theoderichs Edikt will nur
die am häufigsten vorkommenden Rechtsverletzungen ins Auge fassen
und über dieselben der Rechtspraxis des täglichen Lebens eine Reihe
kurz gefasster Rechtssätze an die Hand geben. Im übrigen sollte für
die Goten das gotische, für die Römer das römische Recht zur An-
wendung gelangen 2. Drum sind jene Rechtssätze des Edikts, welche
der Verschiedenheit der Geburtsstandsrechte einen gewissen Spielraum
offen halten wollten, ziemlich allgemein gefasst. Die Mehrzahl der
Vorschriften bezweckt eine schneidigere Verfolgung und Bestrafung
von Verbrechen. Während einerseits vorwiegend germanische Unthaten,
z. B. Frauenraub und Heimsuchung verpönt werden, eifert das Edikt
andrerseits gegen Übelstände, welche wie die Angeberei (die execranda
pernicies delatorum), die Urkunden-, Akten- und Metallfälschung, die
Zession von Klagen und Schuldtiteln an mächtige Personen bei der
römischen Bevölkerung eingewurzelt und schon durch die römische
Kaisergesetzgebung auf das schärfste bekämpft worden waren.

Von den 155 Kapiteln des Edikts, die ohne systematische Ordnung
zusammengestellt sind, haben die meisten ihren Inhalt römischen Rechts-
quellen entlehnt. Benutzt sind insbesondere die drei vorjustinianischen
Codices, zumal der Codex Theodosianus, die posttheodosianischen No-
vellen, die Sententiae des Paulus, Ulpians De officio proconsulis und
die römische Interpretationslitteratur des fünften Jahrhunderts 3, dieselbe
welche auch in den römischen Leges der Burgunder und Westgoten
verwertet worden ist 4. Die vom römischen Rechte unabhängigen
Rechtssätze sind hauptsächlich strafrechtlicher Natur. Eine dem

2 Aus Cassiodor. Var. 7, 3 ergiebt sich, dass Streitigkeiten zwischen Goten
und Römern von dem gotischen comes entschieden wurden adhibito sibi prudente
Romano. Da in Prozessen zwischen zwei Goten ein solcher Beirat nicht zugezogen
wurde, jenes Erfordernis eines Beirats aber den Mangel genügender Kenntnis des
römischen Rechts bei dem gotischen comes voraussetzt, so müssen die internen
Rechtshändel der Goten, soweit nicht das Edictum platzgriff, nach gotischem,
nicht nach römischem Rechte entschieden worden sein. Die Ansicht, dass die
Goten ausnahmslos dem römischen Rechte unterworfen worden seien, hat neuer-
dings Gaudenzi, Gli Editti di Teodorico S 60 ff. gegen die herrschende Meinung
wieder aufgenommen.
3 Die römischen Rechtsquellen, denen die einzelnen Stellen des Edikts ent-
lehnt sind, verzeichnet der index locorum in LL V 176.
4 Daher die Erscheinung, dass nicht weniger wie 11 Stellen des Edikts der
westgotischen Interpretatio entsprechen. S. oben S 360.

§ 52. Die ostgotischen Edikte.
Theoderich, daſs er zur Aufrechthaltung von Ruhe und Ordnung be-
fohlen habe das Edikt auszuhängen, damit sowohl die Barbaren als
auch die Römer daraus ersehen könnten, was sie in den darin be-
handelten Punkten zu befolgen hätten. Theoderichs Edikt will nur
die am häufigsten vorkommenden Rechtsverletzungen ins Auge fassen
und über dieselben der Rechtspraxis des täglichen Lebens eine Reihe
kurz gefaſster Rechtssätze an die Hand geben. Im übrigen sollte für
die Goten das gotische, für die Römer das römische Recht zur An-
wendung gelangen 2. Drum sind jene Rechtssätze des Edikts, welche
der Verschiedenheit der Geburtsstandsrechte einen gewissen Spielraum
offen halten wollten, ziemlich allgemein gefaſst. Die Mehrzahl der
Vorschriften bezweckt eine schneidigere Verfolgung und Bestrafung
von Verbrechen. Während einerseits vorwiegend germanische Unthaten,
z. B. Frauenraub und Heimsuchung verpönt werden, eifert das Edikt
andrerseits gegen Übelstände, welche wie die Angeberei (die execranda
pernicies delatorum), die Urkunden-, Akten- und Metallfälschung, die
Zession von Klagen und Schuldtiteln an mächtige Personen bei der
römischen Bevölkerung eingewurzelt und schon durch die römische
Kaisergesetzgebung auf das schärfste bekämpft worden waren.

Von den 155 Kapiteln des Edikts, die ohne systematische Ordnung
zusammengestellt sind, haben die meisten ihren Inhalt römischen Rechts-
quellen entlehnt. Benutzt sind insbesondere die drei vorjustinianischen
Codices, zumal der Codex Theodosianus, die posttheodosianischen No-
vellen, die Sententiae des Paulus, Ulpians De officio proconsulis und
die römische Interpretationslitteratur des fünften Jahrhunderts 3, dieselbe
welche auch in den römischen Leges der Burgunder und Westgoten
verwertet worden ist 4. Die vom römischen Rechte unabhängigen
Rechtssätze sind hauptsächlich strafrechtlicher Natur. Eine dem

2 Aus Cassiodor. Var. 7, 3 ergiebt sich, daſs Streitigkeiten zwischen Goten
und Römern von dem gotischen comes entschieden wurden adhibito sibi prudente
Romano. Da in Prozessen zwischen zwei Goten ein solcher Beirat nicht zugezogen
wurde, jenes Erfordernis eines Beirats aber den Mangel genügender Kenntnis des
römischen Rechts bei dem gotischen comes voraussetzt, so müssen die internen
Rechtshändel der Goten, soweit nicht das Edictum platzgriff, nach gotischem,
nicht nach römischem Rechte entschieden worden sein. Die Ansicht, daſs die
Goten ausnahmslos dem römischen Rechte unterworfen worden seien, hat neuer-
dings Gaudenzi, Gli Editti di Teodorico S 60 ff. gegen die herrschende Meinung
wieder aufgenommen.
3 Die römischen Rechtsquellen, denen die einzelnen Stellen des Edikts ent-
lehnt sind, verzeichnet der index locorum in LL V 176.
4 Daher die Erscheinung, daſs nicht weniger wie 11 Stellen des Edikts der
westgotischen Interpretatio entsprechen. S. oben S 360.
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[366/0384] § 52. Die ostgotischen Edikte. Theoderich, daſs er zur Aufrechthaltung von Ruhe und Ordnung be- fohlen habe das Edikt auszuhängen, damit sowohl die Barbaren als auch die Römer daraus ersehen könnten, was sie in den darin be- handelten Punkten zu befolgen hätten. Theoderichs Edikt will nur die am häufigsten vorkommenden Rechtsverletzungen ins Auge fassen und über dieselben der Rechtspraxis des täglichen Lebens eine Reihe kurz gefaſster Rechtssätze an die Hand geben. Im übrigen sollte für die Goten das gotische, für die Römer das römische Recht zur An- wendung gelangen 2. Drum sind jene Rechtssätze des Edikts, welche der Verschiedenheit der Geburtsstandsrechte einen gewissen Spielraum offen halten wollten, ziemlich allgemein gefaſst. Die Mehrzahl der Vorschriften bezweckt eine schneidigere Verfolgung und Bestrafung von Verbrechen. Während einerseits vorwiegend germanische Unthaten, z. B. Frauenraub und Heimsuchung verpönt werden, eifert das Edikt andrerseits gegen Übelstände, welche wie die Angeberei (die execranda pernicies delatorum), die Urkunden-, Akten- und Metallfälschung, die Zession von Klagen und Schuldtiteln an mächtige Personen bei der römischen Bevölkerung eingewurzelt und schon durch die römische Kaisergesetzgebung auf das schärfste bekämpft worden waren. Von den 155 Kapiteln des Edikts, die ohne systematische Ordnung zusammengestellt sind, haben die meisten ihren Inhalt römischen Rechts- quellen entlehnt. Benutzt sind insbesondere die drei vorjustinianischen Codices, zumal der Codex Theodosianus, die posttheodosianischen No- vellen, die Sententiae des Paulus, Ulpians De officio proconsulis und die römische Interpretationslitteratur des fünften Jahrhunderts 3, dieselbe welche auch in den römischen Leges der Burgunder und Westgoten verwertet worden ist 4. Die vom römischen Rechte unabhängigen Rechtssätze sind hauptsächlich strafrechtlicher Natur. Eine dem 2 Aus Cassiodor. Var. 7, 3 ergiebt sich, daſs Streitigkeiten zwischen Goten und Römern von dem gotischen comes entschieden wurden adhibito sibi prudente Romano. Da in Prozessen zwischen zwei Goten ein solcher Beirat nicht zugezogen wurde, jenes Erfordernis eines Beirats aber den Mangel genügender Kenntnis des römischen Rechts bei dem gotischen comes voraussetzt, so müssen die internen Rechtshändel der Goten, soweit nicht das Edictum platzgriff, nach gotischem, nicht nach römischem Rechte entschieden worden sein. Die Ansicht, daſs die Goten ausnahmslos dem römischen Rechte unterworfen worden seien, hat neuer- dings Gaudenzi, Gli Editti di Teodorico S 60 ff. gegen die herrschende Meinung wieder aufgenommen. 3 Die römischen Rechtsquellen, denen die einzelnen Stellen des Edikts ent- lehnt sind, verzeichnet der index locorum in LL V 176. 4 Daher die Erscheinung, daſs nicht weniger wie 11 Stellen des Edikts der westgotischen Interpretatio entsprechen. S. oben S 360.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/384>, abgerufen am 21.11.2024.