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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 43. Die Leges Wisigothorum.
sind in den Pariser Fragmenten sehr stark vertreten 17. Einige sind
ihrem Inhalte nach verwandt mit Stellen der Lex Romana Wisi-
gothorum 18, andere mit Stellen der Justinianischen Rechtsbücher 19.
Doch liegt nirgends ein derartiger Anschluss an den Wortlaut der
Parallelstellen vor, dass eine direkte Benutzung derselben behauptet
werden könnte 20. Vielmehr lässt die selbständige Formulierung,
welche die römischen Rechtssätze in den Pariser Fragmenten ge-
funden haben, darauf schliessen, dass diese zu einer Zeit entstanden
sind, als das römische Rechtsleben des westgotischen Reiches die volle
geistige Beherrschung der römischen Rechtsquellen noch nicht ver-
loren hatte. Solche juristische Potenz konnte noch in Eurichs Zeit,
aber nicht mehr ein volles Jahrhundert später vorhanden sein. Ja
man kann noch weiter gehen und betonen, dass die Pariser Fragmente
noch vor der Lex Romana Wisigothorum abgefasst worden sind, weil
man sonst die in Frage kommenden Rechtssätze, statt sie selbständig
zu formulieren, einfach aus der letzteren übernommen hätte.

Stammen die Pariser Fragmente von König Eurich, so sind sie
das älteste Denkmal germanischer Gesetzgebung. Eurichs Gesetze

17 S. die Zusammenstellung bei Bethmann-Hollweg, Civilprozess IV 211
Anm 16.
18 Vgl. Fr. 282 und Paulus II 4, 2, Fr. 285 und Interpr. zu C. Th. II 33, 2,
Fr. 289 und Interpr. zu Paulus II 17, Fr. 294 und Interpr. zu C. Th. III 1, 7,
Fr. 299 und Paulus V 1, 1, Fr. 307 und Interpr. zu C. Th. VIII 5.
19 Fr. 300 über den Verkauf eines Freien, der sich mit dem Verkäufer in den
Kaufpreis teilt, ist verwandt mit l. 7 Dig. 40, 12, l. 1 Dig. 40, 13 und Inst. I 3
§ 4; Fr. 292 mit Cod. IV 49, 7. In Fr. 280 findet sich das quadruplum als Strafe
des Diebstahls aus brennendem Hause wie in l. 1 Dig. 47, 9. Vgl. Savigny II
78 Anm m, welcher der Lex Wis. die Bekanntschaft mit Justinians Rechtsbüchern
abspricht, aber S 84 ff. für die Lex Baiuw. wegen XVI 7, wo sie auf die Pariser
Fragmente (292) zurückgeht, eine unmittelbare Benutzung des justinianischen
Rechtes für wahrscheinlich hält. Übertreibend Roth, Entstehung der Lex Baiuw.
S 25 ff.
20 Am nächsten stehen sich Fr. 285: nullus qui pecuniam commendauit ad
usuram per annum plus quam tres siliquas de unius solidi poscat
usuram ... qui si cautionem ultra modum superius conprehensum per necessi-
tatem
suscipientis creditor extorserit ... und Intr. zu C. Th. II 33, 2: si quis
plus quam legitima centesima continet, hoc est tres siliquas in anno per
solidum,
amplius a debitore sub occasione necessitatis accipere vel auferre
praesumserit ... Eine Benutzung, wie sie Stobbe S 77 annimmt, scheint mir
zweifelhaft. Die Definition der legitima centesima konnte sehr wohl als eine land-
läufige aufgenommen worden sein. Die Interpr. bestraft den Wucher mit der poena
quadrupli, unser Fragment mit dem Verlust der Zinsen. Vgl. Gaupp, Abh. S 35 f.
Auch wenn die westgot. Interpr. benutzt wäre, so würde daraus nicht folgen, dass
die Fragmente nach 506 entstanden seien. S. unten § 50 S 360.

§ 43. Die Leges Wisigothorum.
sind in den Pariser Fragmenten sehr stark vertreten 17. Einige sind
ihrem Inhalte nach verwandt mit Stellen der Lex Romana Wisi-
gothorum 18, andere mit Stellen der Justinianischen Rechtsbücher 19.
Doch liegt nirgends ein derartiger Anschluſs an den Wortlaut der
Parallelstellen vor, daſs eine direkte Benutzung derselben behauptet
werden könnte 20. Vielmehr läſst die selbständige Formulierung,
welche die römischen Rechtssätze in den Pariser Fragmenten ge-
funden haben, darauf schlieſsen, daſs diese zu einer Zeit entstanden
sind, als das römische Rechtsleben des westgotischen Reiches die volle
geistige Beherrschung der römischen Rechtsquellen noch nicht ver-
loren hatte. Solche juristische Potenz konnte noch in Eurichs Zeit,
aber nicht mehr ein volles Jahrhundert später vorhanden sein. Ja
man kann noch weiter gehen und betonen, daſs die Pariser Fragmente
noch vor der Lex Romana Wisigothorum abgefaſst worden sind, weil
man sonst die in Frage kommenden Rechtssätze, statt sie selbständig
zu formulieren, einfach aus der letzteren übernommen hätte.

Stammen die Pariser Fragmente von König Eurich, so sind sie
das älteste Denkmal germanischer Gesetzgebung. Eurichs Gesetze

17 S. die Zusammenstellung bei Bethmann-Hollweg, Civilprozeſs IV 211
Anm 16.
18 Vgl. Fr. 282 und Paulus II 4, 2, Fr. 285 und Interpr. zu C. Th. II 33, 2,
Fr. 289 und Interpr. zu Paulus II 17, Fr. 294 und Interpr. zu C. Th. III 1, 7,
Fr. 299 und Paulus V 1, 1, Fr. 307 und Interpr. zu C. Th. VIII 5.
19 Fr. 300 über den Verkauf eines Freien, der sich mit dem Verkäufer in den
Kaufpreis teilt, ist verwandt mit l. 7 Dig. 40, 12, l. 1 Dig. 40, 13 und Inst. I 3
§ 4; Fr. 292 mit Cod. IV 49, 7. In Fr. 280 findet sich das quadruplum als Strafe
des Diebstahls aus brennendem Hause wie in l. 1 Dig. 47, 9. Vgl. Savigny II
78 Anm m, welcher der Lex Wis. die Bekanntschaft mit Justinians Rechtsbüchern
abspricht, aber S 84 ff. für die Lex Baiuw. wegen XVI 7, wo sie auf die Pariser
Fragmente (292) zurückgeht, eine unmittelbare Benutzung des justinianischen
Rechtes für wahrscheinlich hält. Übertreibend Roth, Entstehung der Lex Baiuw.
S 25 ff.
20 Am nächsten stehen sich Fr. 285: nullus qui pecuniam commendauit ad
usuram per annum plus quam tres siliquas de unius solidi poscat
usuram … qui si cautionem ultra modum superius conprehensum per necessi-
tatem
suscipientis creditor extorserit … und Intr. zu C. Th. II 33, 2: si quis
plus quam legitima centesima continet, hoc est tres siliquas in anno per
solidum,
amplius a debitore sub occasione necessitatis accipere vel auferre
praesumserit … Eine Benutzung, wie sie Stobbe S 77 annimmt, scheint mir
zweifelhaft. Die Definition der legitima centesima konnte sehr wohl als eine land-
läufige aufgenommen worden sein. Die Interpr. bestraft den Wucher mit der poena
quadrupli, unser Fragment mit dem Verlust der Zinsen. Vgl. Gaupp, Abh. S 35 f.
Auch wenn die westgot. Interpr. benutzt wäre, so würde daraus nicht folgen, daſs
die Fragmente nach 506 entstanden seien. S. unten § 50 S 360.
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[324/0342] § 43. Die Leges Wisigothorum. sind in den Pariser Fragmenten sehr stark vertreten 17. Einige sind ihrem Inhalte nach verwandt mit Stellen der Lex Romana Wisi- gothorum 18, andere mit Stellen der Justinianischen Rechtsbücher 19. Doch liegt nirgends ein derartiger Anschluſs an den Wortlaut der Parallelstellen vor, daſs eine direkte Benutzung derselben behauptet werden könnte 20. Vielmehr läſst die selbständige Formulierung, welche die römischen Rechtssätze in den Pariser Fragmenten ge- funden haben, darauf schlieſsen, daſs diese zu einer Zeit entstanden sind, als das römische Rechtsleben des westgotischen Reiches die volle geistige Beherrschung der römischen Rechtsquellen noch nicht ver- loren hatte. Solche juristische Potenz konnte noch in Eurichs Zeit, aber nicht mehr ein volles Jahrhundert später vorhanden sein. Ja man kann noch weiter gehen und betonen, daſs die Pariser Fragmente noch vor der Lex Romana Wisigothorum abgefaſst worden sind, weil man sonst die in Frage kommenden Rechtssätze, statt sie selbständig zu formulieren, einfach aus der letzteren übernommen hätte. Stammen die Pariser Fragmente von König Eurich, so sind sie das älteste Denkmal germanischer Gesetzgebung. Eurichs Gesetze 17 S. die Zusammenstellung bei Bethmann-Hollweg, Civilprozeſs IV 211 Anm 16. 18 Vgl. Fr. 282 und Paulus II 4, 2, Fr. 285 und Interpr. zu C. Th. II 33, 2, Fr. 289 und Interpr. zu Paulus II 17, Fr. 294 und Interpr. zu C. Th. III 1, 7, Fr. 299 und Paulus V 1, 1, Fr. 307 und Interpr. zu C. Th. VIII 5. 19 Fr. 300 über den Verkauf eines Freien, der sich mit dem Verkäufer in den Kaufpreis teilt, ist verwandt mit l. 7 Dig. 40, 12, l. 1 Dig. 40, 13 und Inst. I 3 § 4; Fr. 292 mit Cod. IV 49, 7. In Fr. 280 findet sich das quadruplum als Strafe des Diebstahls aus brennendem Hause wie in l. 1 Dig. 47, 9. Vgl. Savigny II 78 Anm m, welcher der Lex Wis. die Bekanntschaft mit Justinians Rechtsbüchern abspricht, aber S 84 ff. für die Lex Baiuw. wegen XVI 7, wo sie auf die Pariser Fragmente (292) zurückgeht, eine unmittelbare Benutzung des justinianischen Rechtes für wahrscheinlich hält. Übertreibend Roth, Entstehung der Lex Baiuw. S 25 ff. 20 Am nächsten stehen sich Fr. 285: nullus qui pecuniam commendauit ad usuram per annum plus quam tres siliquas de unius solidi poscat usuram … qui si cautionem ultra modum superius conprehensum per necessi- tatem suscipientis creditor extorserit … und Intr. zu C. Th. II 33, 2: si quis plus quam legitima centesima continet, hoc est tres siliquas in anno per solidum, amplius a debitore sub occasione necessitatis accipere vel auferre praesumserit … Eine Benutzung, wie sie Stobbe S 77 annimmt, scheint mir zweifelhaft. Die Definition der legitima centesima konnte sehr wohl als eine land- läufige aufgenommen worden sein. Die Interpr. bestraft den Wucher mit der poena quadrupli, unser Fragment mit dem Verlust der Zinsen. Vgl. Gaupp, Abh. S 35 f. Auch wenn die westgot. Interpr. benutzt wäre, so würde daraus nicht folgen, daſs die Fragmente nach 506 entstanden seien. S. unten § 50 S 360.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/342>, abgerufen am 23.11.2024.