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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.
das friesische Recht 50, ja ein merkwürdiger Rechtssatz einer zu An-
fang des neunten Jahrhunderts entstandenen Rechtsaufzeichnung der
chamavischen Franken lässt vermuten, dass auch die Franken einstens
den rückfälligen Dieb den Göttern zu opfern pflegten 51. Es ist eine
für die Geschichte des germanischen Strafrechtes hochwichtige Frage,
ob wir die Menschenopfer unter den Gesichtspunkt eines Systems
öffentlicher Strafen zu bringen haben oder ob sie sich in den Rahmen
der Friedlosigkeit einfügen lassen, etwa in der Weise, dass dem Ver-
brecher, sofern nicht handhafte That vorlag, zunächst der Friede, die
Mannheiligkeit abgesprochen wurde, während die Vollstreckung der
Friedlosigkeit aus religiösen Gründen den Priestern vorbehalten war.
Wie sonst die Feindschaft oder der Zweck, den Friedlosen unschädlich
zu machen, die Tötung des Verbrechers veranlasste, so stand etwa bei
sündhaften Thaten die Vollstreckung der Friedlosigkeit unter dem
religiösen Gesichtspunkt, dass der Verbrecher dem Zorne der Götter
als Opfer verfallen sei. Man mag davon absehen, dass nicht bloss
Verbrecher, sondern auch Gefangene und Sklaven zu Menschenopfern
verwendet wurden, und der Opfertod hier nicht den Charakter der
Strafe haben konnte. Bedeutsam ist aber, dass wenigstens bei den
Westgermanen dem Opferakte die Anwendung eines Ordals vorausging,
welches nicht zu Beweiszwecken diente, sondern den Willen der
Götter erkunden sollte, ob ihnen der bereits überführte Verbrecher
oder der gefangene Feind als Opfer genehm sei 52. Fielen die Lose

50 Lex Fris. add. 11. S. unten § 45.
51 Lex Cham. c. 48. S. unten Anm 52.
52 Zur Befragung der Götter finden wir in dieser Hinsicht das Los- und das
Feuerordal bezeugt. Bei Caesar, De bello gall. I 53 erzählt Valerius Procillus,
der in Ariovists Hände gefallen war, se praesente de se ter sortibus consultum
dicebat, utrum igni statim necaretur an in aliud tempus reservaretur. Von den
sächsischen Seeräubern, welche die gallischen Küsten plünderten, berichtet ein Brief
des Apollinaris Sidonius, sie hätten von den Gefangenen den zehnten Mann, den
das Los bestimmte, den Göttern geopfert. v. Richthofen, Zur Lex Sax. S 204.
Über das Schicksal Willebrords und seiner Genossen, die auf Helgoland das Heilig-
tum verletzt hatten, befragte König Redbad dreimal das Los, et nunquam dam-
natorum sors super servum Dei cadere potuit. v. Richthofen, Untersuch. II 401.
Von Willehad, der die Götter der Friesen gelästert hatte, sagt dessen vita: secun-
dum morem gentilium missa est sors super eo vivere an mori debuisset. Mon.
Germ. SS II 380. 381. v. Richthofen, Untersuch. II 376. Noch die Lex Cham.
kennt c. 48 eine Anwendung des Feuerordals, die nicht dem Beweisverfahren dient.
Si fur de septem latrociniis comprobatus fuerit, exiet ad iudicium. Si ibi incenderit,
tradant eum ad mortem. Wenn er sich nicht verbrennt, tunc liceat suo seniori . .
pro eo emendare ac de morte liberare. Der Dieb ist bereits überführt. Das Ordal
soll nur entscheiden, ob die That mit dem Tode oder durch Busszahlung zu sühnen sei.

§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.
das friesische Recht 50, ja ein merkwürdiger Rechtssatz einer zu An-
fang des neunten Jahrhunderts entstandenen Rechtsaufzeichnung der
chamavischen Franken läſst vermuten, daſs auch die Franken einstens
den rückfälligen Dieb den Göttern zu opfern pflegten 51. Es ist eine
für die Geschichte des germanischen Strafrechtes hochwichtige Frage,
ob wir die Menschenopfer unter den Gesichtspunkt eines Systems
öffentlicher Strafen zu bringen haben oder ob sie sich in den Rahmen
der Friedlosigkeit einfügen lassen, etwa in der Weise, daſs dem Ver-
brecher, sofern nicht handhafte That vorlag, zunächst der Friede, die
Mannheiligkeit abgesprochen wurde, während die Vollstreckung der
Friedlosigkeit aus religiösen Gründen den Priestern vorbehalten war.
Wie sonst die Feindschaft oder der Zweck, den Friedlosen unschädlich
zu machen, die Tötung des Verbrechers veranlaſste, so stand etwa bei
sündhaften Thaten die Vollstreckung der Friedlosigkeit unter dem
religiösen Gesichtspunkt, daſs der Verbrecher dem Zorne der Götter
als Opfer verfallen sei. Man mag davon absehen, daſs nicht bloſs
Verbrecher, sondern auch Gefangene und Sklaven zu Menschenopfern
verwendet wurden, und der Opfertod hier nicht den Charakter der
Strafe haben konnte. Bedeutsam ist aber, daſs wenigstens bei den
Westgermanen dem Opferakte die Anwendung eines Ordals vorausging,
welches nicht zu Beweiszwecken diente, sondern den Willen der
Götter erkunden sollte, ob ihnen der bereits überführte Verbrecher
oder der gefangene Feind als Opfer genehm sei 52. Fielen die Lose

50 Lex Fris. add. 11. S. unten § 45.
51 Lex Cham. c. 48. S. unten Anm 52.
52 Zur Befragung der Götter finden wir in dieser Hinsicht das Los- und das
Feuerordal bezeugt. Bei Caesar, De bello gall. I 53 erzählt Valerius Procillus,
der in Ariovists Hände gefallen war, se praesente de se ter sortibus consultum
dicebat, utrum igni statim necaretur an in aliud tempus reservaretur. Von den
sächsischen Seeräubern, welche die gallischen Küsten plünderten, berichtet ein Brief
des Apollinaris Sidonius, sie hätten von den Gefangenen den zehnten Mann, den
das Los bestimmte, den Göttern geopfert. v. Richthofen, Zur Lex Sax. S 204.
Über das Schicksal Willebrords und seiner Genossen, die auf Helgoland das Heilig-
tum verletzt hatten, befragte König Redbad dreimal das Los, et nunquam dam-
natorum sors super servum Dei cadere potuit. v. Richthofen, Untersuch. II 401.
Von Willehad, der die Götter der Friesen gelästert hatte, sagt dessen vita: secun-
dum morem gentilium missa est sors super eo vivere an mori debuisset. Mon.
Germ. SS II 380. 381. v. Richthofen, Untersuch. II 376. Noch die Lex Cham.
kennt c. 48 eine Anwendung des Feuerordals, die nicht dem Beweisverfahren dient.
Si fur de septem latrociniis comprobatus fuerit, exiet ad iudicium. Si ibi incenderit,
tradant eum ad mortem. Wenn er sich nicht verbrennt, tunc liceat suo seniori . .
pro eo emendare ac de morte liberare. Der Dieb ist bereits überführt. Das Ordal
soll nur entscheiden, ob die That mit dem Tode oder durch Buſszahlung zu sühnen sei.
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[176/0194] § 22. Friedlosigkeit und Opfertod. das friesische Recht 50, ja ein merkwürdiger Rechtssatz einer zu An- fang des neunten Jahrhunderts entstandenen Rechtsaufzeichnung der chamavischen Franken läſst vermuten, daſs auch die Franken einstens den rückfälligen Dieb den Göttern zu opfern pflegten 51. Es ist eine für die Geschichte des germanischen Strafrechtes hochwichtige Frage, ob wir die Menschenopfer unter den Gesichtspunkt eines Systems öffentlicher Strafen zu bringen haben oder ob sie sich in den Rahmen der Friedlosigkeit einfügen lassen, etwa in der Weise, daſs dem Ver- brecher, sofern nicht handhafte That vorlag, zunächst der Friede, die Mannheiligkeit abgesprochen wurde, während die Vollstreckung der Friedlosigkeit aus religiösen Gründen den Priestern vorbehalten war. Wie sonst die Feindschaft oder der Zweck, den Friedlosen unschädlich zu machen, die Tötung des Verbrechers veranlaſste, so stand etwa bei sündhaften Thaten die Vollstreckung der Friedlosigkeit unter dem religiösen Gesichtspunkt, daſs der Verbrecher dem Zorne der Götter als Opfer verfallen sei. Man mag davon absehen, daſs nicht bloſs Verbrecher, sondern auch Gefangene und Sklaven zu Menschenopfern verwendet wurden, und der Opfertod hier nicht den Charakter der Strafe haben konnte. Bedeutsam ist aber, daſs wenigstens bei den Westgermanen dem Opferakte die Anwendung eines Ordals vorausging, welches nicht zu Beweiszwecken diente, sondern den Willen der Götter erkunden sollte, ob ihnen der bereits überführte Verbrecher oder der gefangene Feind als Opfer genehm sei 52. Fielen die Lose 50 Lex Fris. add. 11. S. unten § 45. 51 Lex Cham. c. 48. S. unten Anm 52. 52 Zur Befragung der Götter finden wir in dieser Hinsicht das Los- und das Feuerordal bezeugt. Bei Caesar, De bello gall. I 53 erzählt Valerius Procillus, der in Ariovists Hände gefallen war, se praesente de se ter sortibus consultum dicebat, utrum igni statim necaretur an in aliud tempus reservaretur. Von den sächsischen Seeräubern, welche die gallischen Küsten plünderten, berichtet ein Brief des Apollinaris Sidonius, sie hätten von den Gefangenen den zehnten Mann, den das Los bestimmte, den Göttern geopfert. v. Richthofen, Zur Lex Sax. S 204. Über das Schicksal Willebrords und seiner Genossen, die auf Helgoland das Heilig- tum verletzt hatten, befragte König Redbad dreimal das Los, et nunquam dam- natorum sors super servum Dei cadere potuit. v. Richthofen, Untersuch. II 401. Von Willehad, der die Götter der Friesen gelästert hatte, sagt dessen vita: secun- dum morem gentilium missa est sors super eo vivere an mori debuisset. Mon. Germ. SS II 380. 381. v. Richthofen, Untersuch. II 376. Noch die Lex Cham. kennt c. 48 eine Anwendung des Feuerordals, die nicht dem Beweisverfahren dient. Si fur de septem latrociniis comprobatus fuerit, exiet ad iudicium. Si ibi incenderit, tradant eum ad mortem. Wenn er sich nicht verbrennt, tunc liceat suo seniori . . pro eo emendare ac de morte liberare. Der Dieb ist bereits überführt. Das Ordal soll nur entscheiden, ob die That mit dem Tode oder durch Buſszahlung zu sühnen sei.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/194>, abgerufen am 28.11.2024.