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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 20. Die Gerichtsverfassung.
Urteils Sache der Gerichtsgemeinde ist. Eine entscheidende Mitwir-
kung der letzteren bezeugt schon Tacitus, indem er berichtet, dass
dem princeps bei der Rechtspflege als consilium et auctoritas die Hun-
dertschaft assistirt32.

Für die Findung des Urteils haben nachmals einzelne Stammes-
rechte besondere und zwar verschiedenartige Organe, welche aber die
Mitwirkung der gesamten Gerichtsgemeinde an der Rechtsprechung
nicht ausschliessen. Bei den Franken wird das Urteil zunächst durch
die sog. Rachineburgen (Ratgeber) gefunden, einen höchst wahrschein-
lich vom Richter ernannten Ausschuss der Gerichtsgemeinde. Doch
muss die Zustimmung der übrigen Dingleute, die im Gegensatz zu
den sitzenden Rachineburgen den sog. "Umstand" bilden, das Vollwort
des Umstandes hinzutreten, damit das Urteil ausgegeben werden
könne.

Bei den Baiern und Schwaben steht dem vorsitzenden Richter ein
amtlicher Rechtsprecher oder Rechtweiser zur Seite, lateinisch iudex,
in althochdeutschen Glossen esago, eteilo, urteilo genannt33. In Baiern,
wo wir ihn bis in das neunte Jahrhundert verfolgen können, bringt
er auf richterlichen Befehl hin den Urteilsvorschlag ein. Ihm folgen
dann andere in den bairischen Gerichtsurkunden als die angesehen-
sten der Gerichtsgemeinde namentlich angeführte Urteilfinder, worauf
schliesslich der Umstand sein Vollwort abgiebt34. Der Judex erhält
ein Neuntel der Busse in jeder Sache, in der sein Urteil rechtskräftig
geworden ist35. Es sind Männer vornehmster Herkunft, die unter
den Trägern dieses Amtes erscheinen36. Dürftigere Nachrichten haben

32 Waitz, VG I 358 Anm 1. Bethmann-Hollweg IV 103. Die Worte
des Tacitus über die Mitwirkung der Gerichtsgemeinde fallen umsomehr ins Ge-
wicht, als sie von ihm sichtlich als Ergänzung der ihm vorschwebenden Worte
Cäsars oben Anm 29 angebracht worden sind.
33 Ahd. Gl. II 492, 36; I 14, 35. Graff V 416. VI 107. Eosago, easagari
bezeichnet in ahd. Glossen ferner den legislator (auch eatrago) und den Dingmann,
curialis schlechtweg, Ahd. Gl. II 246, 18: curialis dicitur a curia, idem est apud
Alamannos esago. Vgl. v. Richthofen, Untersuchungen zur fries. RG II 456 f.
34 Meichelbeck, Hist. Frising. I Nr 470 v. J. 822: iussit praedictus missus
legem inter eos decrevisse; inprimis Kisalhardus publicus iudex sanxit iuxta legem
Baiow. Ebenda Nr 472 v. J. 824: nomina eorum qui hoc ad legem Baioariorum de-
creverunt: Kysalhart publicus iudex, Liutpald comis, vassi dominici ... ad extre-
mum cunctus populus clamavit una voce, hoc legem fuisse. In Hundt, Abh. der
bair. Akad. XIII 1 S 12, Nr 14 v. J. 829 ist eine Mehrzahl von iudices thätig.
35 Lex Baiuw. II 15. Dieser Anteil entspricht dem des Grafen bei den Fran-
ken, der von dem fredus (dem dritten Teile der ganzen compositio) ein Drittel, also
gleichfalls ein Neuntel der Busse bezog.
36 Die ältesten bairischen iudices werden in einer Urk. von 743, Meichel-

§ 20. Die Gerichtsverfassung.
Urteils Sache der Gerichtsgemeinde ist. Eine entscheidende Mitwir-
kung der letzteren bezeugt schon Tacitus, indem er berichtet, daſs
dem princeps bei der Rechtspflege als consilium et auctoritas die Hun-
dertschaft assistirt32.

Für die Findung des Urteils haben nachmals einzelne Stammes-
rechte besondere und zwar verschiedenartige Organe, welche aber die
Mitwirkung der gesamten Gerichtsgemeinde an der Rechtsprechung
nicht ausschlieſsen. Bei den Franken wird das Urteil zunächst durch
die sog. Rachineburgen (Ratgeber) gefunden, einen höchst wahrschein-
lich vom Richter ernannten Ausschuſs der Gerichtsgemeinde. Doch
muſs die Zustimmung der übrigen Dingleute, die im Gegensatz zu
den sitzenden Rachineburgen den sog. „Umstand“ bilden, das Vollwort
des Umstandes hinzutreten, damit das Urteil ausgegeben werden
könne.

Bei den Baiern und Schwaben steht dem vorsitzenden Richter ein
amtlicher Rechtsprecher oder Rechtweiser zur Seite, lateinisch iudex,
in althochdeutschen Glossen êsago, êteilo, urteilo genannt33. In Baiern,
wo wir ihn bis in das neunte Jahrhundert verfolgen können, bringt
er auf richterlichen Befehl hin den Urteilsvorschlag ein. Ihm folgen
dann andere in den bairischen Gerichtsurkunden als die angesehen-
sten der Gerichtsgemeinde namentlich angeführte Urteilfinder, worauf
schlieſslich der Umstand sein Vollwort abgiebt34. Der Judex erhält
ein Neuntel der Buſse in jeder Sache, in der sein Urteil rechtskräftig
geworden ist35. Es sind Männer vornehmster Herkunft, die unter
den Trägern dieses Amtes erscheinen36. Dürftigere Nachrichten haben

32 Waitz, VG I 358 Anm 1. Bethmann-Hollweg IV 103. Die Worte
des Tacitus über die Mitwirkung der Gerichtsgemeinde fallen umsomehr ins Ge-
wicht, als sie von ihm sichtlich als Ergänzung der ihm vorschwebenden Worte
Cäsars oben Anm 29 angebracht worden sind.
33 Ahd. Gl. II 492, 36; I 14, 35. Graff V 416. VI 107. Eosago, êasagari
bezeichnet in ahd. Glossen ferner den legislator (auch êatrago) und den Dingmann,
curialis schlechtweg, Ahd. Gl. II 246, 18: curialis dicitur a curia, idem est apud
Alamannos esago. Vgl. v. Richthofen, Untersuchungen zur fries. RG II 456 f.
34 Meichelbeck, Hist. Frising. I Nr 470 v. J. 822: iussit praedictus missus
legem inter eos decrevisse; inprimis Kisalhardus publicus iudex sanxit iuxta legem
Baiow. Ebenda Nr 472 v. J. 824: nomina eorum qui hoc ad legem Baioariorum de-
creverunt: Kysalhart publicus iudex, Liutpald comis, vassi dominici … ad extre-
mum cunctus populus clamavit una voce, hoc legem fuisse. In Hundt, Abh. der
bair. Akad. XIII 1 S 12, Nr 14 v. J. 829 ist eine Mehrzahl von iudices thätig.
35 Lex Baiuw. II 15. Dieser Anteil entspricht dem des Grafen bei den Fran-
ken, der von dem fredus (dem dritten Teile der ganzen compositio) ein Drittel, also
gleichfalls ein Neuntel der Buſse bezog.
36 Die ältesten bairischen iudices werden in einer Urk. von 743, Meichel-
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[150/0168] § 20. Die Gerichtsverfassung. Urteils Sache der Gerichtsgemeinde ist. Eine entscheidende Mitwir- kung der letzteren bezeugt schon Tacitus, indem er berichtet, daſs dem princeps bei der Rechtspflege als consilium et auctoritas die Hun- dertschaft assistirt 32. Für die Findung des Urteils haben nachmals einzelne Stammes- rechte besondere und zwar verschiedenartige Organe, welche aber die Mitwirkung der gesamten Gerichtsgemeinde an der Rechtsprechung nicht ausschlieſsen. Bei den Franken wird das Urteil zunächst durch die sog. Rachineburgen (Ratgeber) gefunden, einen höchst wahrschein- lich vom Richter ernannten Ausschuſs der Gerichtsgemeinde. Doch muſs die Zustimmung der übrigen Dingleute, die im Gegensatz zu den sitzenden Rachineburgen den sog. „Umstand“ bilden, das Vollwort des Umstandes hinzutreten, damit das Urteil ausgegeben werden könne. Bei den Baiern und Schwaben steht dem vorsitzenden Richter ein amtlicher Rechtsprecher oder Rechtweiser zur Seite, lateinisch iudex, in althochdeutschen Glossen êsago, êteilo, urteilo genannt 33. In Baiern, wo wir ihn bis in das neunte Jahrhundert verfolgen können, bringt er auf richterlichen Befehl hin den Urteilsvorschlag ein. Ihm folgen dann andere in den bairischen Gerichtsurkunden als die angesehen- sten der Gerichtsgemeinde namentlich angeführte Urteilfinder, worauf schlieſslich der Umstand sein Vollwort abgiebt 34. Der Judex erhält ein Neuntel der Buſse in jeder Sache, in der sein Urteil rechtskräftig geworden ist 35. Es sind Männer vornehmster Herkunft, die unter den Trägern dieses Amtes erscheinen 36. Dürftigere Nachrichten haben 32 Waitz, VG I 358 Anm 1. Bethmann-Hollweg IV 103. Die Worte des Tacitus über die Mitwirkung der Gerichtsgemeinde fallen umsomehr ins Ge- wicht, als sie von ihm sichtlich als Ergänzung der ihm vorschwebenden Worte Cäsars oben Anm 29 angebracht worden sind. 33 Ahd. Gl. II 492, 36; I 14, 35. Graff V 416. VI 107. Eosago, êasagari bezeichnet in ahd. Glossen ferner den legislator (auch êatrago) und den Dingmann, curialis schlechtweg, Ahd. Gl. II 246, 18: curialis dicitur a curia, idem est apud Alamannos esago. Vgl. v. Richthofen, Untersuchungen zur fries. RG II 456 f. 34 Meichelbeck, Hist. Frising. I Nr 470 v. J. 822: iussit praedictus missus legem inter eos decrevisse; inprimis Kisalhardus publicus iudex sanxit iuxta legem Baiow. Ebenda Nr 472 v. J. 824: nomina eorum qui hoc ad legem Baioariorum de- creverunt: Kysalhart publicus iudex, Liutpald comis, vassi dominici … ad extre- mum cunctus populus clamavit una voce, hoc legem fuisse. In Hundt, Abh. der bair. Akad. XIII 1 S 12, Nr 14 v. J. 829 ist eine Mehrzahl von iudices thätig. 35 Lex Baiuw. II 15. Dieser Anteil entspricht dem des Grafen bei den Fran- ken, der von dem fredus (dem dritten Teile der ganzen compositio) ein Drittel, also gleichfalls ein Neuntel der Buſse bezog. 36 Die ältesten bairischen iudices werden in einer Urk. von 743, Meichel-

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/168>, abgerufen am 22.11.2024.