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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 17. Königtum und Fürstentum.
Amt des Priesters, der weder Herrscher noch Hilfsorgan eines Herr-
schers ist, als eine aus dem Bedürfnis nach einem Vertreter der sa-
kralen Einheit hervorgegangene Ergänzung der politischen Vielherr-
schaft 36. Wenn innerhalb derselben civitas die Vielherrschaft im
Wechsel der Ereignisse durch die Einherrschaft ersetzt wurde,
mochte wohl auch der Oberpriester neben dem rex seine alten
Funktionen für die gesamte Völkerschaft beibehalten. Doch ist es
zu einer dauernden Abspaltung der sakralen Gewalt vom Königtum
schwerlich gekommen. Bei den Nordgermanen gehört es zu den
wesentlichen Funktionen des Königs, dass er für das Volk den
Göttern Opfer darbringt 37. So vertrieben die Schweden einen christ-
lichen König und wählten einen anderen, damit er für sie das Opfer
verrichte. Wo Priestertum und Regierungsgewalt zeitweise aus-
einanderfielen, finden sie sich schliesslich wieder zusammen. Auf
Island, wo anfänglich jedes weltliche Regiment fehlte, wurden die
Tempelinhaber, die Goden, die Träger der neuen Staatsgewalt. Bei
den Vandalen scheint das Königsgeschlecht der Astingen aus dem
uralten Priestergeschlecht der Naharvalen hervorgegangen zu sein 38.
Wenn bei den Westgermanen, wie wir aus Tacitus schliessen müssen,
das berufsmässige Priestertum sich selbständiger gestaltete und weiter
um sich griff, so fehlt es doch auch bei ihnen, namentlich bei den
Friesen, nicht an Spuren sakraler Funktionen des Königtums 39.

Verschieden gestaltet sich die Stellung der Völkerschaftsversamm-
lung, jenachdem sie einem oder mehreren Inhabern der Regierungs-
gewalt gegenübersteht. Der König hat einen Anteil an den Bussen,
welche in der Völkerschaftsversammlung ausgesprochen werden, er
empfängt nämlich das später sogenannte Friedensgeld, während es in
den Staaten mit Vielherrschaft ungeteilt an das Volk fällt 40. Ähnlich

36 Schröder, RG I 25.
37 Lehmann, Zur Frage nach dem Ursprung des Gesetzsprecheramtes, in
Z 2 f. RG VI 196 ff.
38 Müllenhoff, Z f. DA X 556 f.
39 Grimm, RA S 243 verweist auf das heilige Ochsengespann, mit welchem
die Merowinger fuhren. Bei den Friesen ist es nach der Vita Liudgeri der König
Radbod, der die Verletzung des Heiligtums zu ahnden hat, die Götter durch das
Los befragt, ob er ihnen die christlichen Glaubensboten opfern solle, und einen
derselben töten lässt. v. Richthofen, Untersuchungen S 401. In der Vita Wulf-
rammi wird Radbod angefleht, dem Knaben, der den Göttern geopfert werden soll,
das Leben zu schenken. Radbod ist es, der die durch Christi Wunder geretteten
Knaben dem heiligen Wulfram überlässt. v. Richthofen a. O. S 450. 451.
40 Tacitus, Germ. c. 12: pars mulctae regi vel civitati ... exolvitur. Die
Nachricht ist auf die im allgemeinen concilium fällig gewordenen Bussen zu be-

§ 17. Königtum und Fürstentum.
Amt des Priesters, der weder Herrscher noch Hilfsorgan eines Herr-
schers ist, als eine aus dem Bedürfnis nach einem Vertreter der sa-
kralen Einheit hervorgegangene Ergänzung der politischen Vielherr-
schaft 36. Wenn innerhalb derselben civitas die Vielherrschaft im
Wechsel der Ereignisse durch die Einherrschaft ersetzt wurde,
mochte wohl auch der Oberpriester neben dem rex seine alten
Funktionen für die gesamte Völkerschaft beibehalten. Doch ist es
zu einer dauernden Abspaltung der sakralen Gewalt vom Königtum
schwerlich gekommen. Bei den Nordgermanen gehört es zu den
wesentlichen Funktionen des Königs, daſs er für das Volk den
Göttern Opfer darbringt 37. So vertrieben die Schweden einen christ-
lichen König und wählten einen anderen, damit er für sie das Opfer
verrichte. Wo Priestertum und Regierungsgewalt zeitweise aus-
einanderfielen, finden sie sich schlieſslich wieder zusammen. Auf
Island, wo anfänglich jedes weltliche Regiment fehlte, wurden die
Tempelinhaber, die Goden, die Träger der neuen Staatsgewalt. Bei
den Vandalen scheint das Königsgeschlecht der Astingen aus dem
uralten Priestergeschlecht der Naharvalen hervorgegangen zu sein 38.
Wenn bei den Westgermanen, wie wir aus Tacitus schlieſsen müssen,
das berufsmäſsige Priestertum sich selbständiger gestaltete und weiter
um sich griff, so fehlt es doch auch bei ihnen, namentlich bei den
Friesen, nicht an Spuren sakraler Funktionen des Königtums 39.

Verschieden gestaltet sich die Stellung der Völkerschaftsversamm-
lung, jenachdem sie einem oder mehreren Inhabern der Regierungs-
gewalt gegenübersteht. Der König hat einen Anteil an den Buſsen,
welche in der Völkerschaftsversammlung ausgesprochen werden, er
empfängt nämlich das später sogenannte Friedensgeld, während es in
den Staaten mit Vielherrschaft ungeteilt an das Volk fällt 40. Ähnlich

36 Schröder, RG I 25.
37 Lehmann, Zur Frage nach dem Ursprung des Gesetzsprecheramtes, in
Z 2 f. RG VI 196 ff.
38 Müllenhoff, Z f. DA X 556 f.
39 Grimm, RA S 243 verweist auf das heilige Ochsengespann, mit welchem
die Merowinger fuhren. Bei den Friesen ist es nach der Vita Liudgeri der König
Radbod, der die Verletzung des Heiligtums zu ahnden hat, die Götter durch das
Los befragt, ob er ihnen die christlichen Glaubensboten opfern solle, und einen
derselben töten läſst. v. Richthofen, Untersuchungen S 401. In der Vita Wulf-
rammi wird Radbod angefleht, dem Knaben, der den Göttern geopfert werden soll,
das Leben zu schenken. Radbod ist es, der die durch Christi Wunder geretteten
Knaben dem heiligen Wulfram überläſst. v. Richthofen a. O. S 450. 451.
40 Tacitus, Germ. c. 12: pars mulctae regi vel civitati … exolvitur. Die
Nachricht ist auf die im allgemeinen concilium fällig gewordenen Buſsen zu be-
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[126/0144] § 17. Königtum und Fürstentum. Amt des Priesters, der weder Herrscher noch Hilfsorgan eines Herr- schers ist, als eine aus dem Bedürfnis nach einem Vertreter der sa- kralen Einheit hervorgegangene Ergänzung der politischen Vielherr- schaft 36. Wenn innerhalb derselben civitas die Vielherrschaft im Wechsel der Ereignisse durch die Einherrschaft ersetzt wurde, mochte wohl auch der Oberpriester neben dem rex seine alten Funktionen für die gesamte Völkerschaft beibehalten. Doch ist es zu einer dauernden Abspaltung der sakralen Gewalt vom Königtum schwerlich gekommen. Bei den Nordgermanen gehört es zu den wesentlichen Funktionen des Königs, daſs er für das Volk den Göttern Opfer darbringt 37. So vertrieben die Schweden einen christ- lichen König und wählten einen anderen, damit er für sie das Opfer verrichte. Wo Priestertum und Regierungsgewalt zeitweise aus- einanderfielen, finden sie sich schlieſslich wieder zusammen. Auf Island, wo anfänglich jedes weltliche Regiment fehlte, wurden die Tempelinhaber, die Goden, die Träger der neuen Staatsgewalt. Bei den Vandalen scheint das Königsgeschlecht der Astingen aus dem uralten Priestergeschlecht der Naharvalen hervorgegangen zu sein 38. Wenn bei den Westgermanen, wie wir aus Tacitus schlieſsen müssen, das berufsmäſsige Priestertum sich selbständiger gestaltete und weiter um sich griff, so fehlt es doch auch bei ihnen, namentlich bei den Friesen, nicht an Spuren sakraler Funktionen des Königtums 39. Verschieden gestaltet sich die Stellung der Völkerschaftsversamm- lung, jenachdem sie einem oder mehreren Inhabern der Regierungs- gewalt gegenübersteht. Der König hat einen Anteil an den Buſsen, welche in der Völkerschaftsversammlung ausgesprochen werden, er empfängt nämlich das später sogenannte Friedensgeld, während es in den Staaten mit Vielherrschaft ungeteilt an das Volk fällt 40. Ähnlich 36 Schröder, RG I 25. 37 Lehmann, Zur Frage nach dem Ursprung des Gesetzsprecheramtes, in Z 2 f. RG VI 196 ff. 38 Müllenhoff, Z f. DA X 556 f. 39 Grimm, RA S 243 verweist auf das heilige Ochsengespann, mit welchem die Merowinger fuhren. Bei den Friesen ist es nach der Vita Liudgeri der König Radbod, der die Verletzung des Heiligtums zu ahnden hat, die Götter durch das Los befragt, ob er ihnen die christlichen Glaubensboten opfern solle, und einen derselben töten läſst. v. Richthofen, Untersuchungen S 401. In der Vita Wulf- rammi wird Radbod angefleht, dem Knaben, der den Göttern geopfert werden soll, das Leben zu schenken. Radbod ist es, der die durch Christi Wunder geretteten Knaben dem heiligen Wulfram überläſst. v. Richthofen a. O. S 450. 451. 40 Tacitus, Germ. c. 12: pars mulctae regi vel civitati … exolvitur. Die Nachricht ist auf die im allgemeinen concilium fällig gewordenen Buſsen zu be-

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/144>, abgerufen am 23.11.2024.